Wie Kinder sprechen lernen. Wolfgang Butzkamm

Wie Kinder sprechen lernen - Wolfgang Butzkamm


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sich das Schoßkind individuell an seine Eltern bindet: eine nicht mehr aufkündbare Beziehung. Eltern bilden die eigentliche Umwelt des Kindes. Dabei brauchen sie nicht die leiblichen Eltern zu sein. Unter Mutter verstehen wir ab jetzt die Hauptbezugsperson, an die sich der Säugling bindet. Es ist diejenige, die ihn hauptsächlich betreut, füttert, wickelt, badet, aufnimmt und herumträgt, wenn er weint, und die mit ihm spielt und spricht. Sie ist faktisch und psychologisch die Mutter, auch wenn eine andere Frau ihn zur Welt gebracht hat. Und es ist ihre Sprache, die das Kind lernen wird.

      Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit ist zugleich auch das nach Sicherheit durch Anschluß an vertraute Personen. Es äußert sich auch in der Tatsache, daß der Säugling besonders gerne und intensiv Gesichter studiert.Darwin, Charles1 An ihnen kann er sich nicht satt sehen, während andere Dinge ihn nur eine Zeitlang fesseln, bis er sich an sie gewöhnt hat und sie ihm langweilig werden. Dem entspricht nun auf Seiten der Mütter die intuitive Bereitschaft, ihr Kind in einem vergleichsweise verkürzten Auge-zu-Auge-Abstand von 20 bis 25 cm vor sich zu halten, d.h. genau in dem Bereich, in dem Säuglinge scharf sehen können, bis die Sehfähigkeit weiter ausreift. Daß Erwachsene dies intuitiv tun, ist erstaunlich, da sie üblicherweise im Abstand von ca. 31 cm scharf sehen.

      Im zweiten Monat beginnt das soziale Lächeln. Vorher hat man schon ein rein reflexhaftes Lächeln beobachtet, das auch schon mal über das Gesicht des schlafenden Säuglings huscht. Der drei Monate alte Säugling begrüßt regelrecht die Mutter mit einem Lächeln oder lächelt zurück und heißt schließlich jedes ihm zulächelnde Gesicht freudig willkommen.

      Zwischen dem sechsten und achten Monat engt sich das Feld der bevorzugten Bindungspersonen ein. Das Baby spart sich sein Lächeln oft nur für eine Person auf. Es ist das Gesicht, auf das es immer wieder forschend geblickt hat und das es sich einprägt hat, wenn es gehalten und gestillt wurde. Andere lächelnde Gesichter verschrecken es. Es fängt an zu weinen oder äußert sein Verstörtsein, indem es demonstrativ wegschaut, klammert und den Körper versteift. Das ist das vorübergehende FremdelnFremdeln, das bis ins zweite Lebensjahr andauern kann.

      Das Kind will jetzt nur seine Eltern, am liebsten die eine Dauerbezugsperson. Dies ist zum einen ein untrügliches Zeichen, daß es seine Eltern sofort wiedererkennt und von anderen unterscheidet; zum anderen, daß es sich unerhört intensiv auf sie konzentriert. Als ob das Baby an dieser Stelle ein für allemal feststellen möchte: zu euch gehöre ich, hier gehöre ich hin. Es ist also keine Sache des Nicht-Leiden-Mögens freundlicher Besucher.2

      Wenn die Reaktion wieder verschwindet, hat das Kleinkind die Sicherheit gewonnen, die es braucht, um sich auch anderen zuzuwenden. Mit seinen Eltern verschworen, kann es sich auch mit der Welt verbrüdern – oder ihr die Stirn bieten.

      »Ich saß am Arm der Mutter und spürte durch sie hindurch den sichern Gang der Welt.«3

      Ein Kleinkind muß möglichst lange in dem Zustand naiver Wundergläubigkeit und Unverletzbarkeit verharren, in dem es fest darauf vertraut, daß die Eltern alles heilen können, welche Übel auch kommen mögen. »Daß ich sterben muß, wird die Mama nie erlauben«, soll der kleine Bernt von HeiselerHeiseler, Bernt von seinem älteren Bruder gegenüber behauptet haben.4 NabokovNabokov, Vladimir beschreibt das unverlorene Paradies der Kindheit:

      Alles ist, wie es sein sollte, nichts wird sich je ändern, niemand wird jemals sterben.5

      Nach HassensteinHassenstein, Bernard ist dieser erste BindungsvorgangBindung, personale B. mit etwa zwei Jahren abgeschlossen. Er bildet die Grundlage dafür, daß der Mensch später dauerhafte, verläßliche Bindungen eingehen kann.

      Die Kinderpsychologie wird hier durch hirnphysiologische Beobachtungen in gewisser Weise bestätigt. Das hinter der Stirn gelegene Hirnareal verbindet Gefühle mit vernünftigem Handeln. Es gilt als eine der Konvergenzzonen, in denen Reize zu sinnvollen Erfahrungen gebündelt werden, eine Art Emotionsgedächtnis, mit dem wir Gefühle einordnen und steuern.6 Genau dieser Bereich ist zwischen dem sechsten und zwanzigsten Lebensmonat besonders aktiv, wie man mit PET-Aufnahmen (Positronen-Emissions-Tomograph) beweisen konnte, die den Stoffwechsel des lebenden Gehirns abbilden. In eben dieser Zeit bauen Babys ihre Bindung zu festen Bezugspersonen auf.

      Die Hirnforschung hat ebenfalls herausgefunden, daß Menschen einen besonderen Wahrnehmungsschlüssel für das Erkennen von Gesichtern besitzen. Wird dieser Funktionskreis – etwa durch eine Hirnverletzung an einer ganz bestimmten Stelle – gestört, so entfällt die Fähigkeit, Gesichter wiederzuerkennen. Es ist schon kurios, wenn ein erwachsener Mensch, der ansonsten normal sieht, plötzlich seinen Arzt, seine Freunde und Verwandten, ja seine eigene Mutter am Gesicht nicht mehr identifizieren kann, sondern erst ihre StimmeStimme hören muß.7 Gesichter sind ihm nur noch der Ort, von dem die Stimmen herkommen. GesichtsblindheitGesichtserkennung, Gesichtsblindheit (Prosop-agnosie, von prosopon = Gesicht und agnosis = Nichtwissen) kann auch angeboren sein. Inzwischen gibt es Gesichtserkennungssoftware, die sogar mehr leistet als menschliche Gehirne.

      Verläßlichkeit der Menschen und der Dinge

      Studien über Gefängnisinsassen förderten zutage, daß ein hoher Prozentsatz während der Kindheit nicht die Zuwendung einer zentralen Betreuungsperson genossen hat. Bei 50 % der Insassen wechselten die Betreuer bis zum 14. Lebensjahr. Zu oft wechselnde Bezugspersonen, auch wenn sie sich Mühe geben, entmutigen und überfordern das Kind.1

      Ähnlich sieht es in schlecht geführten Säuglingsheimen aus. Sehen die kleinen Heimbewohner immer wieder andere Gesichter und hören sie immer wieder andere Stimmen, so führt dies schließlich zur Resignation. Die Lächelreaktion des Halbjährigen stirbt ab. Er hat seine Vertrauten gesucht und nicht gefunden. Die Verlassenheitsangst wird ihn nie mehr ganz loslassen. Was das für das Neugier- und Erkundungsverhalten des Kleinkindes und damit für seine geistige Entwicklung bedeutet, kann man sich unschwer vorstellen. Das Kind, das sich nicht hat binden können, versäumt weitere Lern- und Erfahrungsschritte. So urteilt die Schweizer Logopädin Barbara ZollingerZollinger, Barbara, die sich auf eine langjährige kindertherapeutische Praxis berufen kann: Wenn das Kind sich ständig vergewissern muß,

      daß die Bezugsperson noch anwesend ist, wird es sich der Gegenstandswelt nicht auf die Art widmen können, daß es die Bedeutung seiner Handlungen entdecken kann. Ist es einem Kind nicht möglich, eine gute Beziehung zu einer anderen Person aufzubauen, kann es sich auch von den Gegenständen nicht rufen lassen.2

      Nie mehr in unserem Leben brauchen wir soviel Fürsorglichkeit und soviel Gegenwart der uns vertrauten Personen wie in den ersten drei Lebensjahren.

      Die zahllosen, unverläßlich-flüchtigen, jederzeit aufkündbaren Beziehungen der Erwachsenen sind nicht Sache des Kindes. Kinder brauchen die Dauerbetreuung durch wenige Personen. Das ist schon aus sprachlicher Sicht einleuchtend und auch in Säuglingsheimen möglich. Die Kommunikation klappt am besten mit denen, die das Kind ständig betreuen und Stück für Stück miterleben, wie sich das Kind Welt und Sprache erobert. Nur durch ständiges Dabeisein kann man sein Ohr für die unvollkommenen Artikulationen des Kleinkinds schulen und sie auf Anhieb verstehen. So ist es gar nicht selten, daß Mütter die Dolmetscher selbst für diejenigen Väter spielen müssen, die ihr Kind täglich sehen.

      Dennoch brauchen unter Dreijährige nicht ständig am Rockzipfel der Mutter hängen. Sie können durchaus auch feste Bindungen außerhalb ihrer Familie aufbauen. Wenn, ja wenn die öffentliche Kinderbetreuung dies im Auge behält und die Bedingungen dafür schafft, können auch Krippenkinder gedeihen. In traditionellen Kleingesellschaften wachsen Dreijährige oft in altersgemischten Gruppen auf und eine ganze Dorfgemeinschaft übernimmt die Erziehungsarbeit. Jahrtausende lang war eine breit abgestützte Betreuung in der Horde die Norm.

      Die Verläßlichkeit der Welt ist auch eine Verläßlichkeit der Dinge. Das Kind drückt auf die Klinke, und die Tür gibt nach. Es greift nach dem Löffelchen, und das läßt sich widerstandslos fortnehmen. Von einem Malstift kann man die Kappe abnehmen und wieder aufstecken. Wieder andere Sachen sind fest und lassen sich gewöhnlich nicht von der Stelle bewegen. Es bläst in seine Kindertrompete hinein, und es gibt einen Ton. Es bläst in Seifenlauge hinein, und schon steigen schillernde Blasen auf, die zerplatzen, wenn man sie antupft. Papier kann man zerreißen


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