Wie Kinder sprechen lernen. Wolfgang Butzkamm
Auf die väterlich ernste Frage, ob ich jetzt anständig sein wollte, gab ich wieder das Nein zur Antwort.
Kannst du ihn noch sehen? fragte die Mutter. Hm. Undeutlich nur, sagte der Vater. Wer immer nur Nein sagt, der wird zuletzt selber zum Nein, man kann ihn nicht mehr von der Luft unterscheiden; ich fürchte, bald wird er ganz verschwunden sein und wir finden ihn nicht mehr.
Nein, es ist nicht wahr, nein! rief ich mit Grauen. Sein Kopf und die Arme sind schon nur noch ein Schatten, sagte mein Vater mitleidig. Bernt, hörte ich meine Mutter laut, wie von weither, rufen. Willst du nicht lieber mit mir spazieren gehen? Ich schrie Ja, ja! und war für diesmal geheilt.4
Aus Berechnung haben Supermärkte die Süßigkeiten an der Kasse platziert, an der jeder vorbei muß. Da riskieren Eltern ungern einen Aufstand der Kleinen und gewähren ihnen, was sie sonst verweigern würden. Ein Fehler, weil das Kind lernt, gerade auf diese unangenehme Weise seinen Willen zu bekommen. Warum aber diese gefürchteten Überreaktionen von Kindern, die doch gut versorgt werden? Das Kind läuft rot an, bebt am ganzen Körper, schreit wie am Spieß, tobt, schlägt um sich, ist ganz offensichtlich außer sich, nicht Herr seiner selbst. Hier wird ein uraltes Verhaltensprogramm aktiv – so die Evolutionsbiologen. Die Drängler und Brüller, die am kräftigsten Alarm schlugen, hatten bei einem großen Wurf die besten Chancen, gefüttert zu werden und durchzukommen. Selbst bei Einzelkindern tritt dieses Verhalten auf: Wen haben nicht die Fernsehbilder beeindruckt, in denen eine von ihrem futterbettelnden Kind genervte Pinguinmutter schließlich davonläuft und von dem flügelschlagenden Kleinen durch die ganze Kolonie verfolgt wird? Übrigens haben Jungen (im Allgemeinen) ein wenig mehr Trotzanfälle als Mädchen.5 Sie verschwinden in dem Maße, wie das Kind mehr Verständnis für die Forderungen der Erwachsenen gewinnt, Situationen besser einschätzen kann und selbständiger wird. Aber Schmollen und Grollen können wir ein Leben lang.
Mein meistgesprochenes Wort als Kind war »nein«,
Ich war kein einwandfreies Mutterglück.
Und denke ich an jene Zeit zurück:
Ich möchte nicht mein Kind gewesen sein. (Mascha Kaléko)
Braucht der Säugling den Vater?
Väter kommen von Anfang an nicht nur als Spiel- und Sprechpartner, sondern auch als Betreuer in Frage, allein schon, um die Mutter zu entlasten. Bei Abwesenheit der Mutter braucht dann kein Fremder das Baby zu betreuen; die Konstanz und Regelmäßigkeit der Betreuung ist besser gesichert. Ein Ergebnis der Bindungsforschung lautet: Väter sind in ihrer »Spieleinfühligkeit« herausfordernder als Mütter. Sie sind es, die ihre Babys in die Luft werfen und wieder auffangen und dazu ermuntern, auf Bäume zu klettern. Mütter sind da zurückhaltender und behütender.
Aus kommunikativ-sprachlicher Sicht ist auch gegen eine Umkehrung der traditionellen Geschlechterrollen nichts einzuwenden: Beide Elternteile haben die – in weiteren Kapiteln näher beschriebenen – Fähigkeiten, ihren Säugling in kindgerechter Weise anzusprechen und ihn zur Sprache zu führen. Deshalb sprechen Mechthild und Hanus PapousekPapousek, Mechthild und Hanus auch von »intuitiver elterlicher Didaktikelterliche Didaktik« oder vom »intuitiven Früherziehungspotential« der Eltern, also nicht allein von dem der Mutter.1 Säuglingserziehung ist also auch Männersache! Selbst älteren Geschwistern gelingt es teilweise, ihr Sprachverhalten anzupassen und mit Säuglingen zu kommunizieren. Es kann wohl nur günstig für das Kleinkind sein, wenn ihm seine Muttersprache von mehreren Vertrauten mit den ihnen eigenen charakteristischen Sprechstilen zugesprochen wird. Und es vermindert Trennungsängste, wenn es gleich mehrere Menschen hat, denen es zutiefst zugetan ist. Auch Großeltern gehören dazu und können eine Brücke vom Elternhaus zur Welt draußen bilden. Denn wie kein anderes Wesen verbindet der Mensch Geselligkeit mit Kultur, d.h. der Weitergabe von Wissen durch die Generationen hindurch. Menschen lernen von anderen Menschen.
Kehren wir die Frage um: Brauchen Väter ihr Kind? Und brauchen nicht Großeltern ihre Enkel, um den Reichtum ihrer Lebenserfahrungen weiterzugeben? Um noch etwas zu haben, auf das hin sie leben können? Väter sollten sich den intimen Umgang mit ihrem Kleinkind nicht entgehen lassen – knuddeln, schmusen, Nähe versuchen, auf Körpersprache achten, einen erwachenden Verstand beobachten und dabei viel über sich selbst lernen. Ja vielleicht sogar die Zärtlichkeit neu lernen, um sie dann zurückschenken zu können. Denn Kinder sind »die geborenen Erzieher zur Zärtlichkeit. Wenn wir nur wollen, wecken sie das längst Verschüttete in uns auf«.2
Väter werden auf diese Weise auch mütterliches Verhalten besser verstehen, statt sich ausgeschlossen zu fühlen. Leider ist das Leben mit Kindern und Enkeln eine Erfahrung, die in unseren westlichen Gesellschaften immer seltener wird. Wenn dann die Kinder aus dem Haus gehen, bedauert so mancher Vater, sich weniger mit ihnen beschäftigt zu haben, als er es eigentlich gewünscht hätte: späte Klarheit im Moment des Verlustes.
Bewegend ist die Klage eines Vaters, der mit den nach seiner Erblindung geborenen Kindern nicht mehr so intensiv spielen kann, wie mit seinem ersten Kind. Diese Tatsache erzeugt ein »schneidendes Gefühl des Verlusts« und Panik bei dem Gedanken,
»daß dies alles nun an mir vorübergeht und daß diese goldenen Jahre des kindlichen Spiels nicht zurückgewonnen werden können.«3
Die Verhaltensforschung, die Tiere untereinander und mit dem Menschen vergleicht, sagt uns, daß in der Tierwelt alle möglichen Betreuungsarten vorkommen. Bei der überwiegenden Mehrheit der Säugetiere beteiligen sich die Väter nicht an der Aufzucht der Jungen. Beim Menschen ist das Ausmaß des väterlichen Fürsorgeverhaltens in verschiedenen Kulturen unterschiedlich ausgeprägt und stark dem Wandel unterworfen.
Gewiß werden Kinder in erster Linie »bemuttert«. Hüten wir uns aber vor einem neuen Mutterkult.Christoffersen, Mogens NygaardVoland, EckartBischof-Köhler, Doris4 Es ist schon schlimm genug für ein Kind, wenn die Eltern sich scheiden lassen. Noch schlimmer aber, wenn es von einem Elternteil zum Besitzstand erklärt, damit zum Zankapfel wird und als Waffe gegen den anderen Elternteil mißbraucht wird. Es ist die Sehnsucht der Kinder, von beiden Eltern geliebt zu werden.
Darüber gibt es in der deutschen Literatur ein erschütterndes Zeugnis aus der Feder von Karl Philipp MoritzMoritz, Karl Philipp, der mit dem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (1783–1793) die erste psychologische Zeitschrift deutscher Sprache gründete. Gleich zu Anfang seiner als »psychologischer Roman« getarnten Autobiographie heißt es:
Unter diesen Umständen wurde Anton geboren, und von ihm kann man mit Wahrheit sagen, daß er von der Wiege an unterdrückt ward. Die ersten Töne, die sein Ohr vernahm, und sein aufdämmernder Verstand begriff, waren wechselseitige Flüche und Verwünschungen des unauflöslich geknüpften Ehebandes. Ob er gleich Vater und Mutter hatte, so war er doch in seiner frühesten Jugend schon von Vater und Mutter verlassen, denn er wußte nicht, an wen er sich anschließen, an wen er sich halten sollte, da sich beide haßten, und ihm doch einer so nahe wie der andre war. In seiner frühesten Jugend hat er nie die Liebkosungen zärtlicher Eltern geschmeckt, nie nach einer kleinen Mühe ihr belohnendes Lächeln. Wenn er in das Haus seiner Eltern trat, so trat er in ein Haus der Unzufriedenheit, des Zorns, der Tränen und der Klagen. Diese ersten Eindrücke sind nie in seinem Leben aus seiner Seele verwischt worden, und haben sie oft zu einem Sammelplatze schwarzer Gedanken gemacht, die er durch keine Philosophie verdrängen konnte.5
Wenn ein Kind eine sichere Bindung zu ein oder zwei Betreuern aufgebaut hat, kann es ihm nur guttun, weitere Personen intim zu erleben und dabei auch andere Arten des Menschseins aus nächster Nähe kennenzulernen. Dann gilt wohl, was Lilli PalmerPalmer, Lilli in ihrer Autobiographie schreibt. Das Wichtigste für ein seelisch-geistig gesundes Heranwachsen des Kindes sei die liebevolle Zuwendung der Eltern zueinander. Alles andere folge daraus:
Wir hatten eine so glückliche Kindheit, weil meine Eltern nie einen Hehl daraus machten, daß sie einander mehr liebten als uns. Sie hatten uns lieb, sie sorgten sich um uns, sie waren auch manchmal stolz auf uns, aber in erster Linie kümmerten sie sich umeinander und erst in zweiter um uns. Dadurch herrschte im Haus ein entspanntes, ausgeglichenes Klima allgemeiner Unabhängigkeit. Kinder, normale, gesunde Kinder, fordern und erhalten ihren Anteil Liebe sowieso. Es ist besser, daß es an ihnen liegt, noch eine zusätzliche Portion