Wie Kinder sprechen lernen. Wolfgang Butzkamm
daß Harlow sich später teilweise korrigiert hat: Es muß nicht unbedingt eine Mutter da sein; soziale Bedürfnisse können z.B. auch durch Geschwister und Spielkumpane befriedigt werden. So können sich auch Kinder, die in einer großen Geschwisterschar aufwachsen, besonders eng an ein älteres Kind anschließen und dabei Liebe und Fürsorge erfahren.
Der Unterschied zwischen Rhesusäffchen und den intelligenteren Schimpansen ebenso wie Lauras Geschichte deuten darauf hin, daß es dem Menschen, der wie kein anderes Wesen bis ins Alter lernfähig bleibt, doch noch möglich ist, frühe psychische Schäden später zu überwinden oder abzumildern. Unser Leben muß nicht durch eine unglückliche Kindheit auf alle Zeiten verpfuscht sein.
Gleichwohl steht fest: Beim gesunden Kind sind Bindungen, d.h. liebevolle Beziehungen zu anderen Menschen, der Transmissionsriemen für die sprachliche, ja die gesamte soziale und geistige Entwicklung. Denn »der Mensch wird nur unter Menschen ein Mensch« (Johann Gottlieb FichteFichte, Johann Gottlieb).
Kurze Geschichte eines Wunderknaben
Mit der traurigen Geschichte von Christian Heineken, die wir hier nach Hennig (Die Zeit, 1999) erzählen, wollen wir gleich zu Anfang zwei Dinge deutlich machen. Zum einen: Alle Zeitangaben zur kindlichen Sprachentwicklung sind nur grobe Richtwerte; zum anderen: bis heute bleibt vieles am Spracherwerb wundersam und geheimnisvoll.
Christian Heineken, das »Lübecker Wunderkind«, wurde 1721 geboren. Das von Geburt an schwächliche Kind starb dort nicht einmal fünfjährig, wahrscheinlich an einer damals nicht erkannten Lebensmittelallergie. Mit zwei Jahren kann er Latein und Französisch, dazu große Teile der Bibel auswendig, ebenso sein Lieblingsbuch, das Orbis sensualium pictus, Die sichtbar gemahlete Welt des Tschechen Johann Amos Comenius. Er rezitiert Psalmen und Kirchenlieder, denn was man ihm einmal vorgelesen hat, vergißt er nicht.
Sachwissen kommt hinzu, die Genealogien europäischer Herrscherhäuser, die Knochen des menschlichen Skeletts – er saugt alles auf wie ein Schwamm. Das Wunderkind lockt zahlreiche Besucher an, es kommt sogar zu einer Audienz beim König von Dänemark. Lesen kann er natürlich längst, nicht aber schreiben, denn er ist zu schwach, den Griffel zu halten, und die schweren Bücher, die er im Selbstgespräch memoriert, muss man ihm hinstellen und wegbringen, auf- und zumachen. Solang er lebt, wird er weder Gabel noch Löffel benutzen, niemals seine Zähne gebrauchen, etwas abbeißen oder kauen. Seine bevorzugte Nahrung bleibt die Brust der Amme, mit der er schon als zehn Monate altes Baby im vertraut-gemütlichen Platt redet. »Sophie, ik bin so möde, gef my doch de Titte,« heisst es, wenn ihn die Besucher, die so manches Geldstück dalassen, zu sehr anstrengt haben. Als ihm seine Mutter die Gefahren einer Seereise nach Dänemark vor Augen hält, antwortet er: »Madam, Sie haben mir erlaubt zu wählen. Gott der Herr ist auch der Herr der Meere.«
Der Komponist und hamburgische Musikdirektor Georg Philipp Telemann, auch einer der Wunderkindtouristen, widmet ihm ein Epigramm:
Kind, deßen gleichen nie vorhin ein Tag gebahr!
Die Nachwelt wird dich zwar mit ew’gen Schmuck umlauben
Doch auch nur kleinen Theils Dein großes Wißen glauben,
Das dem, der Dich gekannt, selbst unbegreiflich war.
Extremfälle wie Christian, ebenso wie die bedauernswerten Kinder, die sprachlos bleiben und denen wir nicht helfen können, zeigen uns, wie wenig wir noch vom Rätsel des Spracherwerbs verstehen – trotz modernster Erkenntnisse der Sprach- und Hirnforscher.
Die Besonderheit des sprachlichen Hörens
Das Ohr, der erste Lehrmeister der Sprache.
(Johann Gottfried HerderHerder, Johann Gottfried)
Die Erweckerin, / die menschenbildende Stimme.
(Friedrich HölderlinHölderlin, Friedrich)
Kategoriales HörenHörenkategoriales Hören
Max TauTau, Max, der 1950 als erster den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhielt, erzählt folgende moderne chassidische Geschichte:
Ein alter Rabbi in Jerusalem wurde sehr schwer krank. Sein junger Arzt wollte ihn ablenken, und er brachte ihm einen Radioapparat. Damit spielte er BachBach, Johann Sebastian und alle Musik, die der alte Rabbi liebte, und dann brach er voller Entzücken aus. »Rabbi, sehen Sie das Gerät, und denken Sie dann, daß die Musik aus Amerika kommt. Ist das nicht ein Wunder?« – »Nein, mein lieber junger Freund«, antwortete der Rabbi, »das ist kein Wunder.« Dann zeigte er auf sein Ohr. »Daß dies hört, das ist ein Wunder.«1
Alle unsere Sinne sind hochkomplexe, aus vielen Teilleistungen zusammengesetzte Systeme. Schon das Neugeborene kann den Schall orten: Es dreht den Kopf zur Schallquelle hin. Dieses räumliche Hören kommt zustande, indem sein Gehirn den Zeitunterschied zwischen der Ankunft des Schalls an dem einen und dem anderen Ohr auswertet. Ein klares Beispiel für eine angeborene Fähigkeit, denn der kleine Unterschied wird uns nicht einmal bewußt. Wir überhören ihn, nicht aber unser Gehirn, sonst könnten wir ja nicht wissen, woher ein Ton kommt, es sei denn, wir sehen seine Quelle. Und es ist gut so, daß wir den Unterschied nicht bewußt erleben: Die bewußte Wahrnehmung bleibt frei für andere Dinge. Erwachsene können übrigens Schälle präziser lokalisieren als Kleinkinder: mit dem Körperwachstum nimmt der Abstand zwischen den Ohren zu und damit auch die Zeitdifferenz im Millisekundenbereich, die das Hirn verrechnen kann.
Räumlich riechen können wir allerdings nicht. Wahrscheinlich liegen unsere Nasenlöcher zu dicht beieinander, als daß wir mit ihnen ermitteln könnten, aus welcher Richtung ein Duft kommt. Aber Schlangen riechen stereo. An beiden Enden ihrer gespaltenen Zunge befinden sich empfindliche Sinnesorgane, die Chemikalien orten können. Registriert die eine Spitze eine geringfügig höhere Konzentration einer Substanz als die andere, ermittelt das Gehirn aus dem Vergleich beider Werte die Fluchtrichtung der Beute, die diesen Stoff abgibt. Beim Richtungshören wird ein Zeitunterschied, beim Richtungsriechen ein Unterschied im Verdünnungsgrad verrechnet.
Die Ortung einer Schallquelle ist nur eine Teilleistung des komplexen Systems, das wir Hören nennen. Normalerweise hören wir kontinuierlich, d.h. wir nehmen feine Übergänge wahr, bei der Schallortung ebenso wie bei der Tonhöhe und Lautstärke. Zum menschlichen Hören gehört aber noch eine andere Leistung, die nicht nach dem Mehr-oder-weniger-Prinzip arbeitet.
Sprachliches Hören geschieht auf der Grundlage von Entweder-oder-Entscheidungen. Ein Sprachlaut ist für unser Gehör entweder stimmhaft oder nicht stimmhaft, nasal oder nicht nasal, gerundet oder nicht gerundet; dabei ist es unerheblich, wie stark das jeweilige Merkmal im Einzelnen ausgeprägt ist. Auf dieser Grundlage kann das menschliche Gehirn die erforderlichen Entscheidungen viel schneller und damit effizienter treffen als bei kontinuierlicher Wahrnehmung. Es würde zuviel Zeit erfordern, in jedem Einzelfall den genauen Grad, z.B. an Stimmhaftigkeit, Nasalität oder Lippenrundung, zu prüfen. Denn das Ohr hat nur 20–40 Millisekunden Zeit, um etwa den Unterschied zwischen pa und ba wahrzunehmen. Allerdings kann es schon zwei feine Klickgeräusche als getrennt wahrnehmen, wenn sie nur drei Millisekunden auseinanderliegen. Unser Tastsinn braucht da schon zehn Millisekunden Differenz, um zwei Reize als nicht mehr gleichzeitig aufzufassen; beim Sehen müssen unter optimalen Bedingungen mindestens zwanzig Millisekunden zwischen zwei Reizen liegen, damit wir sie als getrennt wahrnehmen.Pinker, Steven2
Was wir als Vokale und Konsonanten wahrnehmen, sind somit Klassen oder Kategorien individueller Geräusche. Die Unterschiede zwischen den Klassen vernehmen wir, die Unterschiede zwischen den einzelnen Geräuschen innerhalb einer Klasse überhören oder vernachlässigen wir. Wir nehmen nicht wahr, wie unterschiedlich ein stimmloses pa ausgesprochen wird, es bleibt ein pa. Aber die Grenze zum stimmhaften ba wird messerscharf lokalisiert; ba klingt für deutsche Ohren eindeutig weicher als pa, obwohl dieser Unterschied akustisch nicht größer ist als zwischen Varianten von pa. Im Innenohr werden gewisse Unterschiede erfaßt und durch eine rund tausendfache Schallverstärkung verschärft. Dabei werden andere – rein akustisch gesehen ebenso große – Unterschiede als nicht existent erklärt