Wie Kinder sprechen lernen. Wolfgang Butzkamm

Wie Kinder sprechen lernen - Wolfgang Butzkamm


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und Speisezimmer lag, bis zu uns herüberdringen und wußten, daß der arme Ernest Prügel erhielt.3

      2. Der Vorsprung des Hörens betrifft auch Wortschatz und Grammatik. Kinder können nicht nur besser hören, als sie sprechen, sie verstehen auch weit mehr, als sie ausdrücken können. Sie können bestimmte Frage-, Relativ- oder Passivsätze, die ihre Eltern verwenden, genau verstehen, bevor diese Konstruktionen in ihren eigenen Äußerungen auftauchen. Hans z.B. reagiert sinngemäß auf und, lange bevor dieses Bindewort in seinem aktiven Sprachschatz auftaucht:

Mutter: Wen hast du lieb?
Hans (1;11): Mama.
Mutter: Und?
Hans: Papa.4

      So richten sich Eltern in ihrer Sprechweise primär nicht nach den artikulatorischen und auch nicht unbedingt nach den lexikalischen und grammatischen Fähigkeiten der Kleinen. Ihr ganzes Bestreben ist vielmehr, sich dem Kind verständlich zu machen. Alles andere ist diesem Ziel untergeordnet. Nach Sprechbeginn – etwa um den 12. Lebensmonat herum – gehen sie dem Kind in Grammatik und Wortschatz immer einige Schritte voraus – solange sie dabei verstanden werden. Wie könnte es sonst dazulernen? Clara und William SternStern, Clara und William, die die Sprachentwicklung ihrer drei Kinder genau beobachteten, nennen dies das Prinzip der MehrdarbietungMehrdarbietung.5 So wäre es auch grundfalsch, wenn Eltern sich ihrerseits ihren Kindern anpaßten und dut oder tommen statt gut oder kommen sagten. Statt ihnen entgegenzukommen, würde man sie nur verwirren: Sie hören ja schon weitaus genauer, als sie sprechen. Gegen den Gebrauch von Babywörtern wie Wauwau, Ticktack oder Puff-Puff ist allerdings nichts einzuwenden. Ja, es wäre töricht, auf solche anregenden lautmalenden Wörter zu verzichten, die in ähnlicher Form in den verschiedensten Sprachen wiederkehren.

      Das Gefälle vom Verstehen zum Sprechen bleibt zeit unseres Lebens bestehen. Der zeitliche Vorsprung des hörenden Verstehens wandelt sich in einen quantitativ-qualitativen. Jeder von uns gewöhnt sich einen eigenen, individuellen Sprechstil an. Aber wir sind in der Lage, viele unterschiedliche Sprechstile und dialektale Färbungen zu verstehen. Ein ähnliches Gefälle besteht zwischen dem Lesen und Schreiben. Wir können noch die Luther-Bibel ebenso wie die langen Satzperioden in den Novellen von Heinrich von KleistKleist, Heinrich von verstehen, aber schreiben könnten wir so nicht. Mario WandruszkaWandruszka, Mario spricht von dem riesigen Umkreis des Verstehens rund um das eigene Verwenden.6

      Frühe ZweisprachigkeitZweitsprache, Zweisprachigkeit: Phase des Zuhörens

      Kinder, die plötzlich in eine rein fremdsprachige Umwelt versetzt werden, bleiben erst einmal stumm, so z.B. englischsprachige Kinder im Alter zwischen vier und neun Jahren, deren Familien es ins französischsprachige Genf verschlagen hatte. Einige sagten monatelang nichts. Andere fingen sechs bis acht Wochen nach Aufnahme in der Schule zu sprechen an. Ihre ersten Äußerungen waren Grußformeln wie au revoir, salut, bonjour, Madame. Dazu kamen Zurufe, Floskeln wie regarde, tiens, allez-y (= schau her; halt mal; macht schon) und der Selbstbehauptung dienende Verlautbarungen wie moi bébé (= ich bin das Baby, ich spiele das Baby).1

      J. M. Coetzee, der Nobelpreisträger, der in Südafrika englischsprachig aufwächst, verbringt die langen Sommerferien auf der Farm seiner zweisprachigen Verwandten. Da ist er glücklich. Er ist vier oder fünf und spielt dort den ganzen Tag mit den Kindern der Schwarzen, die nur Afrikaans sprechen. Es gibt keine anderen Spielkameraden. Er mimt und gestikuliert und möchte manchmal herausplatzen mit all den Dingen, die er sagen will und nicht sagen kann. Langsam aber stauen sich die fremden Worte in ihm auf, bis sie plötzlich aus ihm heraus brechen. Er erinnert sich, wie er zu seiner Mutter stürzt und ruft: »Listen! I can speak Afrikaans!«2

      Aufschlußreich ist das Beispiel der sechzehnjährigen Susanne, die aufgrund der Versetzung des Vaters nach Brüssel in eine Schule mit Französisch als Verkehrssprache eintritt. Aber mit Verständigung und Freundschaften war es lange Zeit nichts, erinnert sie sich. »Ich saß ein ganzes Jahr da, stumm wie ein Fisch und verstand weder Lehrer noch Mitschüler. Ich hatte solches Heimweh nach Deutschland, daß ich am liebsten weggelaufen wäre.« Nach einem Jahr riet die Schulleitung, das Mädchen von der Schule zu nehmen, da sich ihre Sprachkenntnisse nicht gebessert hätten. Das war vor den Sommerferien. »Aber nach den Sommerferien machte ich endlich meinen Mund auf und sprach französisch. Ich mußte das ganze vergangene Schuljahr hindurch Französisch geradezu aufgesogen und gespeichert haben.«3 Dieses extrem lange Eintauchen in die Fremdsprache – Immersion genannt – ist zunächst einmal eine Phase des Nichtverstehens bzw. des Verstehenlernens. Vielleicht gesellte sich bei Susanne auch eine Art Kulturschock dazu. Bis der – emotionale und kognitive – Knoten schließlich platzte und sie bereit war zu sprechen.

      Kinder, die einfach ins kalte Wasser geworfen werden, tauchen zunächst einmal unter. Sie tauchen auch wieder auf, brauchen aber Zeit zum Einhören und Verstehen. Vor einigen Jahren wurden im Elsaß von einer Elterninitiative zweisprachige Kindergärten organisiert. Die Kinder wurden die halbe Woche von einer deutschen und die andere halbe von einer französischen Erzieherin betreut, die beide nur ihre Muttersprache benutzten. Die meist französischsprachigen Kinder machten mit, hörten zu, antworteten aber fast nur französisch. So ging das monatelang, so daß einige Erzieherinnen schon an dem Sinn des Experiments zweifeln wollten. Aber nach einem Jahr fingen sie an zu sprechen. Das von dem Linguisten Jean PetitPetit, Jean wissenschaftlich begleitete Experiment war erfolgreich, weil die Kinder die fremde Sprache nicht als Lehrstoff, sondern als gelebte Wirklichkeit entdecken konnten und sich Zeit für sie nehmen durften.4

      Ich habe viele dieser Kindergärten besucht, und immer normale, fröhliche Kinder erlebt, und keinen Druck, der von einer fremden Sprache ausging. Da wir heute alle Englisch als Welt- und Wissenschaftssprache brauchen, könnten wir uns diese Erfahrungen zunutze machen und damit beginnen, Englisch im Kindergarten zu leben – dort, wo die personellen Voraussetzungen stimmen.

      Wenn uns erst im Grundschulalter fremde Sprachen begegnen, dann ist die Muttersprache der Ton, auf den unser Sprachinstrument gestimmt ist.

      Was Hänschen nicht lernt…?

      … lernt Hans nur zur Hälfte? Die Tatsache, daß sich Babys schon früh auf die Muttersprache einstimmen, indem sie etwas verlernen, sowie Meldungen der Hirnforscher über absterbende, weil nicht genutzte Hirnzellen haben eine regelrechte Frühförderungswelle angestoßen. Kommerzielle Anbieter schüren die Ängste der Eltern, sie könnten Chancen auslassen, sei es bei der Musik, der Mathematik oder den Sprachen, und suggerieren, man könne seinem Vorschulkind den entscheidenden Vorsprung fürs Leben verschaffen, indem man mit ihm auf allen Hochzeiten tanzt. Überall sollen »neuronale Netze« geknüpft und »Synapsen« gepflegt werden: pädagogische Allmachtsträume.

      Early English für Vorschulkinder zweimal oder dreimal die Woche wird nahezu wirkungslos verpuffen. Das gleiche gilt nun aber auch für die zwei Wochenstunden in der Grundschule, für die sich viele Bundesländer entschieden haben. Da werden Saatkörner ausgestreut, aber sie können nicht keimen, weil die Keimlinge von der Muttersprache überwuchert und erstickt werden. Es ist keineswegs erwiesen, daß Grundschulkinder die besseren Sprachlerner seien. Für jeden Einstieg in eine Fremdsprache gilt: Wenn schon, denn schon; also nicht kleckern, sondern klotzen und kumulieren, so dass jeder Lernfortschritt den nächsten unterstützen kann.

      Wenn man Jugendliche mit Grundschulkindern vergleicht, wird auch die Gegenthese »Je älter, desto besser« durch einige Studien gestützt. Sekundarschüler haben mehr Verstand und können bewusster lernen.

      Wir müssen eben streng scheiden zwischen Unterricht mit den üblichen Wochenstunden – ob in der Schule oder in Privatkursen – und einem Eintauchen in fremdsprachliche Lebensmilieus. Das kann man auch in Kindergärten und Schulen schaffen, aber nur, wenn man mindestens die Hälfte der Zeit an die Fremdsprache gibt, wie im Elsaß. Es gibt keine Schnellstraßen zu fremden Sprachen – es sei denn, man lebt sie. Stets brauchen Sprachen viel Lebenszeit, d.h. immer wieder


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