Wie Kinder sprechen lernen. Wolfgang Butzkamm

Wie Kinder sprechen lernen - Wolfgang Butzkamm


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zugeordnet, Zwischenstufen nicht zugelassen. Es kommt darauf an, die einkommenden Hörreize auf Wesentliches herunterzubrechen, eine wichtige Einsparung! Unsere Wahrnehmung vollzieht einen scharfen Schnitt und erleichtert damit unser Sprachverstehen.

      Mit dem Begriff der »kategorialen Wahrnehmungkategoriale Wahrnehmung« ist auch schon gesagt, daß es nicht allein um das Hören geht. Alle unsere Sinnesorgane benutzen diese Strategie der Kontrastbetonung, um wichtige Informationen aus dem ständigen Zustrom von Reizen zielgenau herauszufiltern. Wo diese Kontraste gesetzt oder nicht gesetzt werden, darüber entscheidet der jeweilige sprachliche Input.

      Frühe Verluste des Hörens

      Mit sechs Monaten differenziert das Kind schon unterschiedliche Silbenlängen und Satzmelodien und ortet die Grenzen zwischen Sätzen, die in vielen Sprachen durch Verlängerung der letzten Sprechsilbe, Absenken der Stimme und kurzer Sprechpause danach markiert sind. Offen für alle Sprachen der Welt, stellt es sich aber noch vor dem Sprechbeginn auf die Unterschiede in den Sprachen ein, die ihm zugesprochen werden. Die Einzelsprachen nutzen ja nur jeweils einen für sie charakteristischen Teil der möglichen distinktiven Schallmerkmale. So kennen Japaner den Unterschied zwischen /r/ und /l/ nicht, die Finnen nicht den zwischen /f/ und /v/, die Spanier nicht den zwischen /v/ und /b/. Sie alle haben entsprechende Schwierigkeiten beim Erlernen des Deutschen, wo reiten und leiten, fühlen und wühlen, Besen und Wesen Verschiedenes bedeuten. Japanische, finnische und spanische Kleinkinder hören diese Unterschiede durchaus, während sich diese Fähigkeit bei Erwachsenen stark zurückgebildet hat. Besen oder Wesen: Spanier hören hier kein neues Wort, für sie ist es dasselbe. Unser Ohr wird also für die Muttersprache insofern geschärft, als die von ihr nicht verwendeten Lautkontraste ausgeblendet werden, ein Gewinn, der zugleich ein Verlust ist. Sprechen Sie Ihrem Vorschulkind die englischen Zahlen vor. Es wird one wie deutsch wann, natürlich three wie sri, five wie faif und eight wie eht aussprechen, weil es zunächst genau das auch hört. (Dass z.B. das lange e der natürliche Ersatzlaut für den englischen Doppellaut /ei/ ist, kann man daran erkennen, dass Englisch cakes im Munde der Deutschen zu Keks wurde.) – Ebenso können noch Fünfjährige kleinste Tonhöhenunterschiede in beliebigen musikalischen Konstellationen wahrnehmen, danach verschwindet diese Fähigkeit. Denn auch hier stimmen sich die Kinder auf die Klangwelt ihres Kulturkreises ein und verlieren Fähigkeiten, die ihnen nicht abgefordert werden. Solche Möglichkeiten, die in uns stecken, verkümmern wie eine Blume, die man zu gießen vergisst.

      In einer Studie (unter mehreren ähnlich gelagerten) wurden englische Säuglinge geprüft, ob sie den Unterschied wahrnehmen zwischen einem t, das mit zurückgebogener Zungenspitze gegen den harten Gaumen artikuliert wird (retroflexes t), und einem englischen oder deutschen t, wo man die Zungenspitze gegen die oberen Zähne drückt (dentales t). Dieser Unterschied ist im Hindi, einer Sanskritsprache, wichtig, im Englischen (oder im Deutschen) nicht. Bis zum Alter von sieben Monaten konnten auch jene Kinder, die in einer englischen Umgebung aufwuchsen, diese Unterscheidung ohne Schwierigkeiten wahrnehmen, und zwar so gut wie Kinder aus einer rein hindisprachigen Umgebung. Anschließend verändert sich diese Fähigkeit. Im Alter von etwa neun Monaten nimmt sie bei den englischsprachigen Kindern ab; schon zwei Monate später ist sie bei der überwiegenden Mehrzahl fast verschwunden, und im Alter von etwa vier Jahren sind nicht einmal mehr Reste davon nachweisbar. Selbst Einüben brachte bei den Erwachsenen dieser Studie keinen Erfolg.1

      Um all dies herauszufinden, hat man wieder die Veränderung der Nuckelgeschwindigkeit gemessen. In vereinfachter Darstellung: In ruhigem Rhythmus wird die Silbenkette ba-ba-ba … vorgespielt. Die Kinder nuckeln langsam vor sich hin. Dann verändert man das Signal zu pa-pa-pa … Horcht das Kind jetzt auf, indem es genau an diesem Punkt regelmäßig und kurzfristig die Nuckelrate verändert (die sich bald auf den alten Wert einpendelt), hat es wohl einen Unterschied bemerkt. Andere Forschergruppen haben stattdessen die Veränderungen der Herzschlagfrequenz gemessen – mit ähnlichen Ergebnissen.2

      Wieder zeigt sich eine sensible PhaseSensible Phase, eine Zeit erhöhter Empfängnisfähigkeit und Ansprechbarkeit, in der wir bestimmte Dinge besonders leicht lernen. Später sind wir nicht mehr im gleichen Maße aufnahmebereit – wahrscheinlich weil wir, wie alle Organismen, mit unseren Kräften haushalten müssen. Fazit: Kinder spezialisieren sich sehr früh – im Alter von sechs Monaten – auf ihre Muttersprache. Gegen Ende des ersten Lebensjahres haben sie sich weitgehend auf ihre Klangwelt eingestellt. Neun Monate alte Babys kennen nicht nur muttersprachliche Melodien und Betonungsmuster, sie haben auch schon ein Ohr für die typischen in ihrer Sprache zulässigen Lautfolgen. So würden deutsche Kinder die Folge kn im Wortanlaut (wie in Knie, Knoten) bevorzugt anhören, nicht aber englische, denn im Englischen ist kn nur noch im Schriftbild existent (knee, knot). Solches »Wissen« wiederum verhilft dazu, Wörter in fortlaufender Rede zu unterscheiden. Man spricht vom statistischen LernenStatistisches Lernen, Phonotaktik. Das schnelle Erkennen muttersprachlicher Lautfolgen ist hier der Gewinner. Als polyglotte Weltbürger geboren, werden unsere Kleinkinder schon bald zu Staatsbürgern.

      Babys: Geborene Statistiker

      Hören wir eine uns ganz fremde Sprache, so erleben wir zunächst ein undurchdringliches Chaos. Und doch hat jede Sprache nicht nur ihre ausgewählten Laute, sondern auch bestimmte Lautfolgen, die sehr wahrscheinlich, andere, die zwar möglich, aber doch selten sind und solche, die überhaupt nicht auftauchen. Noch feiner könnte ein Statistiker analysieren, welche Laute bzw. Lautfolgen bevorzugt am Anfang, in der Mitte oder am Ende eines Wortes erscheinen. Im Deutschen, aber auch im Englischen sind Anfangslaute mit schr… (Schraube, schreiben; to shrink) geläufig, es gibt jedoch keinen Wortbeginn mit sri. »Sri Lanka« ist somit sofort als ein nicht aus dem Deutschen oder Englischen kommendes Wort identifizierbar. Zieht unser Statistiker dann auch noch typische Betonungsmuster und Pausenlängen mit ins Kalkül ein, wird er schon einige Wort- und Satzstrukturen bestimmen können, besonders in Kombination mit ebenso regelmäßig wiederkehrenden Bedeutungen. Es werden also Informationen aus unterschiedlichen Quellen aufeinander bezogen: Lernen in der Schnittstelle. Die Hirnforschung hat mit dem Modell von neuronalen Netzwerken gezeigt, dass unser Gehirn für solche statistischen Analysen geradezu prädestiniert ist. Schon 8 Monate alte Kinder analysieren den sprachlichen Input erfolgreich nach solchen regelmäßigen Wiederholungen im Gehörten, natürlich automatisch und unbewusst, und können schon bald wiederkehrende Silbenmuster als Einheiten erfassen, noch vor Sprechbeginn. »Zufälle« wollen sie nicht wahrhaben, sie vermuten hinter einem Zusammentreffen einen Zusammenhang, sie wollen ein System herauslesen. Diese erstaunliche, elementare Fähigkeit der MustererkennungMustererkennung gilt für Lautfolgen ebenso wie für Kombinationen von Wortteilen und Wörtern, sprich Grammatik, und für nichtsprachliche Informationsverarbeitung.

      Man nehme vier dreisilbige Kunstwörter wie dapiku, tilado buropi und pagotu und spiele sie in einer Zufallsreihenfolge zwei Minuten ununterbrochen vor (dapikutiladoburopipagotuburopitiladodapikupagotu……). Babys, Kinder und auch Erwachsene haben aus dem Gehörten dann zweifelsfrei die vier Kunstwörter herausgefiltert. Völlig unbewusst haben statistische Auftretenswahrscheinlichkeiten die Analyse geleitet. Nach da folgt immer ein piku, nach ti ein lado, nach bu ein ropi und nach pa immer ein gotu. Weiterhin: Nach einem ku folgt mit 25prozentiger Wahrscheinlichkeit immer entweder ein ti, bu, pa oder da. Für die Anfangssilben der anderen Kunstwörter gilt dies analog.

      Babys erfassen also über Auftretens- und Übergangswahrscheinlichkeiten von einer Silbe zur nächsten die für die jeweilige Sprache typischen Gruppierungen und können somit einen Fuß in die Tür des ununterbrochenen Lautzuflusses stellen und Hinweise nutzen, wo wohl einzelne Worte aufhören und andere beginnen. Später sind es dann z.B. die Veränderungen an den Wörtern, die grammatischen Markierungen, die ebenfalls in ihrer Häufigkeit erfasst und danach auch gegliedert werden. Das Erstaunliche: solche Analysen leistet unser Gehirn einfach so. Wir brauchen noch nicht einmal konzentriert bei der Sache sein. Unser Gehirn, dieser ausgebuffte Statistiker, munitioniert unser Erkenntnisvermögen vom Säuglingsalter an nahezu unentwegt und unbemerkt. Wir können es eben. Überhaupt kann der Mensch viel mehr, als er bewusst versteht.1

      Die


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