Wie Kinder sprechen lernen. Wolfgang Butzkamm

Wie Kinder sprechen lernen - Wolfgang Butzkamm


Скачать книгу
die durch die Muttersprache nicht gefordert sind, werden abgebaut oder immer weniger aktivierbar. Man lernt also auch durch Verlernen. Wieder ein Schritt, in dem das Gehörte auf Wesentliches heruntergebrochen wird. Der Grad dieser Rückbildung ist für die einzelnen Schallmerkmale unterschiedlich. Einige Fähigkeiten werden sehr stark gedämpft, so daß sie später gar nicht oder nur sehr schwer für den Erwerb weiterer Sprachen aktiviert werden können. Für andere Unterschiede ist die Dämpfung weniger drastisch. Japaner sind z.B. durchaus in der Lage, den Unterschied zwischen /l/ und /r/ zu erlernen. Handelt es sich um Laute, die unserer Muttersprache ganz fremd sind, meistern wir sie eher als solche, die sehr dicht bei unseren eigenen liegen. Hier findet eine Art Verklumpung statt, die es uns enorm erschwert, den Unterschied wahrzunehmen und entsprechend zu artikulieren. Um ein anderes Bild zu gebrauchen: Typische muttersprachliche Laute verhalten sich wie Magnete, die benachbarte, ähnliche Laute in ihr Kraftfeld saugen, bis sie mit ihnen verschmelzen.1 Bei Japanern funktioniert also das /r/ wie ein Magnet, das alle /l/ an sich zieht, so daß es für sie wie /r/ klingt – was auch zu Fehlschreibungen wie »umbrerra« statt »umbrella« führt. Bei den Chinesen ist es umgekehrt, sie bringen von beiden Lauten nur das /l/ zuwege.

      So kommt es, daß wir gewöhnlich Fremdsprachen mit erkennbarem AkzentAkzent (von der Norm abweichende Aussprachenuancen) sprechen. Die Erstsprache ist wie ein akustischer Filter, der sich über die dazukommenden Sprachen legt. Begegnet man einer weiteren Sprache noch vor der Pubertät, kann man sie unter günstigen Umständen akzentfrei erlernen. Italienische Immigranten in New York wurden danach beurteilt, wie weit sie akzentfreies Englisch sprachen. Das Alter bei der Ankunft in New York variierte zwischen sechs und zwanzig Jahren, die Aufenthaltsdauer variierte zwischen fünf und achtzehn Jahren. Es zeigte sich, daß das Alter bei der Ankunft viel entscheidender als die Aufenthaltsdauer war: je jünger, desto weniger Akzent.2 Was die Klangwelt der Sprachen anbetrifft, müßte man also, wie in den Waldorfschulen üblich, mit den Fremdsprachen früh anfangen. Der geniale Rudolf SteinerSteiner, Rudolf hat es erahnt:

      Die Sprache, die der Mensch als seine Muttersprache aufnimmt, wurzelt sich ganz tief in das Atmungssystem, in das Zirkulationssystem, in den Bau des Gefäßsystems, so daß der Mensch nicht nur nach Geist und Seele, sondern nach Geist, Seele und Körper hingenommen wird von der Art und Weise, wie sich seine Muttersprache in ihm auslebt.3

      »Jeder trägt seine Sprache wie eine unauslöschliche Tätowierung, die allen bis an sein Lebensende verraten wird, in welche Gruppe er gehört.«4 ZugehörigkeitZugehörigkeit zu signalisieren (und Fremde auszugrenzen!) ist denn auch der evolutionsbiologische Sinn des Auseinanderfallens unserer Sprachbegabung in Tausende von Sprachen und Dialekten.

      Der Vorsprung des Hörens

      Sprechen ist auf das Hören angewiesen. Wenn jemand völlig ertaubt, muß er ständig Spezialübungen absolvieren, um seine Artikulation so zu erhalten, daß man ihn gut versteht. Obwohl er jahrelang gesprochen und damit seine Sprechorgane bestens eingestellt hat, braucht er die Rückmeldung der Ohren. Für Taubgeborene ohne Hörreste ist die Anbildung einer Lautsprache eine Plackerei, und ihre Artikulationen bleiben den meisten unverständlich. Das Wunder des Sprechenlernens beginnt mit dem Hören, denn die Ohren sind der Reglerknopf, mit dem wir unsere Sprechorgane einstellen.1

      Beim normalsinnigen Kind geht das Hören dem Sprechen immer voraus. Der Ausdruck folgt dem Eindruck, die Sprachproduktion der Sprachaufnahme oder -rezeption. Es kann sein, dass Kinder, die knapp 20 Wörter sprechen, schon an die 200 Wörter verstehen.2

      Der Vorsprung des Hörens wirkt sich auf zweierlei Art aus.

      1. Kinder können schon Laute hörend unterscheiden, bevor sie diese Laute selbst gezielt hervorbringen können. Ihr Hörverstehen differenziert feiner als ihr Sprechen. Dazu drei Beispiele:

      Die zweijährige Jenny ist gerade von einem Nachmittagsschläfchen aufgewacht. Als der Onkel hereinkommt, deutet sie in Richtung Fenster.

      Jenny: Ho ah ho!

      Onkel: Ho – ah – ho? Das versteh ich aber nicht.

      (Jenny verdeckt die Augen mit ihrem Stofftier, als ob sie sich schämt)

      Onkel (zur Tante, die hereinkommt): Ho – ah – ho, was ist das?

      Jenny (deutet wieder in Richtung Fenster und wiederholt): Ho – ah – ho!

      Tante: Rolladen hoch, heißt das doch. Was ist der Wolfgang auch dumm. (Die Rolladen sind hochgezogen, Jenny weist also auf etwas hin, fordert nicht auf)

      Jenny: Ja!

      Onkel: Ho – ah – ho!

      Jenny: Nein, ho u ah – ho (sie artikuliert also etwas anders als vorher)

      Onkel: Rolladen hoch.

      Jenny: Ja.

      Die Tatsache, daß Jenny die eigene unvollkommene Lautung von anderen nicht akzeptiert, beweist eindeutig, daß sie über ein korrekteres Hörbild verfügt, als ihre Lautproduktion vermuten läßt. Nur so kann sie der Illusion erliegen, sie habe richtig artikuliert. Man kann solche Zwischenfälle bewußt provozieren:

      Jenny (weist auf ein Regal mit einem Spielkasten): Das ist mein Piel!

      Onkel (obwohl er verstanden hat): Ja, dein Piel.

      Jenny: Nein, Piel!

      Onkel: Natürlich, dein Piel.

      Jenny (ärgerlich): Nein, Piel.

      Das Kind merkt, daß es hier auf den Arm genommen wird. Ob es sich aber klar darüber ist, daß es noch nicht sprechen kann, wie es hört? Es hört ja durchaus richtig und akzeptiert das falsche Klangbild von anderen nicht. Sein Artikulationsvermögen reicht jedoch nicht aus, um nun selbst die korrekte Lautung (»Spiel«) zu produzieren. Ebenso Olivia, die nach ihrem »Flack« verlangt. Als die Mutter sie nicht versteht und »Flack?« sagt, wird sie ungeduldig, gar zornig. Sie will »Schlafsack« hören und meint wohl, genau dies sage sie ja. Lustig auch, wie ein Zwilling (Anwar) den andern (Nanu) korrigieren will, obwohl sie beide noch nicht »schön« sagen können:

      Nanu: Ssön.

      Anwar: Nanu, nis ssön, ssön!

      Nanu (wiederholt brav): Ssön.

      Diese Beispiele belegen eindeutig das Gefälle zwischen Hör- und Sprechvermögen.

      Ein abschreckendes Beispiel von protestantischer Gehorsamserziehung aus dem vergangenen Jahrhundert gibt Samuel ButlerButler, Samuel in seinem Roman Der Weg allen Fleisches aus dem Jahre 1903. Ein Besucher schildert, wie der Pastor Theobald seinen Sohn erzieht:

      Er war jedoch in der Aussprache des K noch sehr weit zurück, und anstatt komm sagte er tomm, tomm, tomm. Ernest, sagte Theobald aus seinem Lehnstuhl vor dem Kamin, wo er mit gefalteten Händen saß, meinst du nicht, es wäre sehr schön, wenn du komm sagen würdest wie die anderen Leute, statt tomm? Ich sage ja tomm, erwiderte Ernest und glaubte, komm gesagt zu haben. (…) Theobald bemerkte sofort, daß Ernest ihm widersprochen hatte. Er stand aus seinem Lehnstuhl auf und ging zum Klavier. Nein, Ernest, das tust du nicht, sagte er, du sagst es ganz falsch, du sagst tomm, nicht komm. Sprich mir jetzt nach komm, genau wie ich. Tomm, sagte Ernest sofort, ist das jetzt besser? Zweifellos glaubte er, es sei besser, aber das war nicht der Fall. Nun, Ernest, du gibst dir keine Mühe (…) Laß dir Zeit, überlege gut und sprich mir nach: komm. Der Junge blieb einige Sekunden stumm und sagte dann wieder tomm. Ich mußte lachen, aber Theobald drehte sich ungeduldig nach mir um und sagte: Lach bitte nicht, Overton. Der Junge denkt sonst, es käme nicht darauf an, aber es kommt sehr darauf an. Dann wandte er sich Ernest zu und sagte: Ernest, noch einmal darfst du es versuchen, und wenn du wieder nicht komm sagst, dann weiß ich, daß du eigensinnig und unartig bist. Er blickte sehr böse, und ein Schatten flog über Ernests Gesicht, ganz wie bei einem jungen Hund, der gescholten wird, ohne zu wissen, warum. Der Junge wußte genau, was nun kommen würde, wurde ängstlich und sagte natürlich wieder tomm. Also gut, Ernest, sagte sein Vater und packte ihn ärgerlich an der Schulter. Ich habe mein Bestes getan, um es dir zu ersparen, aber wenn du es so haben willst, sollst du es haben, und er zerrte den armen kleinen


Скачать книгу