Wie Kinder sprechen lernen. Wolfgang Butzkamm
ganz andere Ursachen haben. Bei Lese- und Schreibschwächen (LegasthenieLegasthenie) könnten versteckte Sehfehler im Spiel sein. Wenn aber Legastheniker nicht so sehr die Buchstaben n und u verwechseln, die sich visuell sehr ähneln, hingegen aber d und t, so müssen Hörschwierigkeiten zugrunde liegen. Es ist immer gut, bei Sprachauffälligkeiten zunächst abzuklären, ob Störungen bei den zugrunde liegenden Wahrnehmungen vorliegen und das Übel, wenn es denn da liegt, bei der Wurzel zu packen, statt gleich Intelligenzmängel zu diagnostizieren.5
Hörverstehen: ein Verlaufsmodell
Welche Leistungen müssen zusammen kommen, damit wir Zugesprochenes verstehen? Hier ein Überblick:
Beim Sprachverstehen verschwinden gleichsam die unteren Ebenen in den höheren, und am Ende halten wir den Sinn fest, auf den es ja ankommt, und haben den Wortlaut schon vergessen. Dabei fließen auch Informationen von den höheren zu unteren Ebenen zurück. Besonders die oberste Ebene, unser sinngebender Verstand, mischt immer schon mit und sagt uns, was wir gehört haben müssten.
Zum Verstehen gehört also stets das Ineinandergreifen auf- und absteigender Prozesse.
Normalerweise erarbeitet sich das Kind die sprachlich wirklich schwierigen Dinge – hörendes Erfassen der Laute, ihre Artikulationen und Verschleifungen sowie die Grammatik – eher unbewußt, so daß es hier mit allzu direkten Korrekturen zumeist nichts anfangen kann. Gerade das sprachauffällige Kind ist schnell verunsichert und braucht das Zutrauen zu sich selbst. »Nimm dich doch mal zusammen! Nimm dir ein Beispiel an deiner Schwester! Die andern lachen ja über dich, willst du das denn eigentlich?« Hier machen Eltern ihrem Ärger Luft, laden ihre Sorge ab und erweisen sich selbst und ihrem Kind einen Bärendienst. Liegen Mängel bei der Sprachwahrnehmung zugrunde, die wir – mit tüchtigen Sinnen ausgestattet – gar nicht nachempfinden können, kann man das Kind nur noch tiefer verstören. Aber auch Kindern mit gesunden Sinnen kann man mit solchen Ermahnungen nicht helfen. Statt dessen gilt: Einander die Freude am Tausch der Wörter und Ideen erhalten; zuhören, Anteil nehmen, ausreden lassen, das Kind ins Gespräch ziehen und mit ihm im Gespräch bleiben. Dabei schult sich das Gehirn von selbst. Aber es braucht eben sehr früh die richtigen Anregungen. Ohne sie werden Kinder nicht das, was sie hätten sein können.
Unterwegs zur Sprache: das erste Jahr und darüber hinaus
Nie ist Sprache gewesen, ehe Ansprache war. Monolog konnte sie immer erst werden, nachdem der Dialog abbrach oder zerbrach.
(Martin BuberBuber, Martin)
Das Baby entdeckt seine StimmeStimme
Ein Orchester wird gestimmt. So umschreibt Desmond MorrisMorris, Desmond die Zeit, bis die ersten Wörter auftauchen.1 Das Baby will lernen, dabei sein, mitmischen. Die Mutter will verstehen und helfen. Natürlich will sie keinen Unterricht geben. Aber sie will mit ihrem Kind kommunizieren. Und diese Bereitschaft erweist sich für das Baby als ungeheuer lehrreich.
Wenn das Baby seine Stimme entdeckt, so geschieht das unter Führung der Eltern, die bereit sind, den Schwankungen der kindlichen Aufmerksamkeit zu folgen, und mit der Empfindlichkeit eines Seismographen auf jeden Fortschritt zu reagieren.
Was passiert auf dem Weg vom ersten Schrei zum ersten sinntragenden Wort? Neben dem Schreien, seinem Alarmruf, verfügt der Säugling nach HassensteinHassenstein, Bernard über weitere, vermutlich angeborene Lautsignale, die als Vorstufen der weiteren Lautentwicklung gelten.2 Sprechen entwickelt sich allerdings nicht direkt aus Schreien und Weinen, sondern aus der Technik, den Atem mit Stimme zu füllen. Doch ist auch das Schreien eine Art Training, das sich schrittweise zu komplizierten Melodiebögen entfaltet. In Wechselwirkung von Ausreifung und Einübung muß das Baby lernen, seine Atmung zu steuern, um seine Stimme zu entwickeln. Es dauert seine Zeit, bis es überhaupt wohlgeformte Sprachlaute hervorbringen kann. Dazu muß sich beim Neugeborenen auch noch anatomisch etwas verändern: zwischen dem dritten und sechsten Monat wird sich sein Kehlkopf absenken und der obere Stimmtrakt so ausgestalten, daß allmählich die notwendigen Resonanzbedingungen (Hohlräume) für die Bildung von Vokalen und Konsonanten entstehen. Anfangs sitzt der Kehlkopf noch so hoch im Rachen des Säuglings, daß der Nahrungsbrei seitlich daran vorbei in die Speiseröhre gelangen und er somit gleichzeitig saugen und atmen kann, ohne sich zu verschlucken. Nach dem Umbau zugunsten der Sprache muß er in Kauf nehmen, auch einmal Nahrung in die Luftröhre zu bekommen. Erst gegen Ende des ersten Lebensjahres ist dieser Umbau abgeschlossen und sind die Voraussetzungen für differenzierte sprachliche Artikulationen geschaffen.
Auf diese Weise ist ein in der Natur einzigartiges, vollkommenes Instrument entstanden, das unter Kontrolle des Zentralnervensystems so vielgestaltige Lautkombinationen ermöglicht, daß es nicht nur als das höchstentwickelte Kommunikationsmittel, sondern auch als ausdrucksreiches Musikinstrument und – nicht zu vergessen – als ein erstes, biologisch entworfenes Spielzeug des Kindes zur Geltung kommt.3
Alles Leben ist allerdings nur insoweit vollkommen, wie es das große Überlebensspiel der Natur verlangt.
Vom Gurren und Lallen zum SilbenplappernSilbenplappern
Man unterscheidet zwei große Etappen von Lautierungen:
1 Das Vorsilbenalter: Gurren und Lallen (0–5 Monate)
2 Das Silbenalter: Silbenplappern (6–12 Monate), die eigentliche Lallphase
Achtung: Die Streubreite des ersten Auftretens regulärer Silben ist hoch und liegt zwischen 5 und 11 Monaten. Sie hängt wahrscheinlich mit einer unterschiedlichen Hirnreifung zusammen. Hat das Kleinkind dann noch nicht mit dem Silbenplappern angefangen, sollte man fachlichen Beistand suchen – ebenso, wenn es keinen Blickkontakt sucht oder mit dem Lallen plötzlich wieder aufhört.
Der Säugling beginnt zu quietschen und zu brummen, zu gurgeln und zu schnalzen, zu krähen und zu flüstern, zu prusten und Spuckebläschen zu formen. Er versucht, akustische Augenblickserzeugnisse wiederaufzugreifen und erneut hervorzubringen. Bei dem Spiel mit der Stimme entstehen Laute wie zufällig und werden dann mit einigem Eifer ausprobiert. Deutlich zeigt er seine Freude über die eigenen Hervorbringungen. Es ist, als ob er die wachsenden Möglichkeiten seines Stimmapparats auslotet und unter Kontrolle zu bringen versucht: Atemmuskulatur, Stimmbänder, Feinmotorik des Kehlkopfs, des Rachen- und Mundraums, besonders von Zunge und Lippen. Das alles gilt es zu koordinieren: Welche Muskelgefühle gehen mit welchen Tönen einher? Dies ist die »doppelte Gegebenheit des LautesRückbezüglichkeit, der ebenso motorischer Vollzug des Sprechwerkzeuges wie selbstgehörter, zurückgegebener Klang ist. Wir verhalten uns dem selbst produzierten Laut gegenüber sowohl aktiv, ihn eben artikulierend, wie passiv, nämlich das Produkt unserer Tätigkeit fällt mühelos in das Ohr zurück.«1
Das Baby hat Spaß daran, seinen Bewegungsapparat auszuprobieren und sich selbst zuzuhören. Es animiert sich selbst. Der Psychologe und Sprachtheoretiker Karl BühlerBühler, Karl (seine Frau Charlotte wurde nach der gemeinsamen Auswanderung in die USA Begründerin der »humanistischen Psychologie«) prägte hierfür den Ausdruck FunktionslustFunktionslust.2 Arbeit und Üben, Spiel und Spaß sind eins. Das gilt fürs Gehenlernen ebenso wie fürs Sprechenlernen. Dabei gehen das Strampeln, Kriechen und Krabbeln dem Gehenlernen voraus wie die Spuckebläschen den regulären Sprachsilben. Diese Vitalität des Kleinkindes, seine Sinnes- und Muskelfröhlichkeit, ist vielleicht die schönste Mitgift der Natur. Sie macht nach HerderHerder, Johann Gottfried den Menschen zum »Lehrling aller Sinne«, zum »Lehrling der ganzen Welt«3. Wo sie fehlt, sind die Aussichten trüb, und der Spracherwerb entpuppt sich als äußerst mühseliges, langwieriges und schwieriges Geschäft, das von geschulten Therapeuten angekurbelt werden muß.
Das gesunde Baby übt oder spielt mit seiner Stimme nicht nur im Dialog, zu dem es die Eltern ermuntern, sondern auch im Monolog, vor allem in entspannten Perioden kurz vor dem Einschlafen und nach dem Aufwachen, wenn es sich wohl fühlt. Hier nimmt stimmliches Lernen einen breiten Raum ein. In diesen Perioden wird die StimmeStimme zum liebsten Spielzeug des Kindes.4 Allmählich wird sie ihm immer besser verfügbar: