Wie Kinder sprechen lernen. Wolfgang Butzkamm
nicht nur Sympathie. Unsere Fähigkeit zum Mit- und Nachempfinden ermöglicht letztlich auch Neidgefühle, Schadenfreude und Sadimus…1
Dennoch: Wir haben das Wort »Menschlichkeit« und hoffen so, dass unsere eigentliche Bestimmung Anteilnahme, Freundlichkeit und Fürsorge ist.
SprachhandelnSprachhandeln: Ich will etwas von dir!
Mit diesen nicht nur Gefühle, sondern auch Absichten und Gedanken lesenden Zellen ausgestattet, begreift das Kleinkind seine Partner als Wesen, die auf etwas hinaus wollen, und wird seiner selbst als ein wollendes Wesen gewahr, das etwas bewirken will und kann. Sprechen ist Vorbereitung, Begleitung und Fortsetzung absichtsvollen Handelns mit lautlichen Mitteln. Im zweiten Halbjahr können Kinder melodische Grundmuster einsetzen, um die Eltern zu dirigieren, so als ob sie eine Frage oder eine Forderung stellten oder etwas zurückweisen wollten. Die Eltern hatten ihnen ja in ihren Spielchen solche AbsichtenAbsicht, Redeabsicht, Sprechintention schon suggeriert und ihnen Sprache nicht nur zugeredet, sondern geradezu aufgeredet.
Stellen wir uns also das kleine Kind im Laufställchen vor, das Spieltier ist nach draußen gefallen, unerreichbar. Das Kind streckt die Hand durchs Gitter in Richtung auf das Spieltier und wimmert. Der Erwachsene, der durch das Wimmern veranlaßt seine Aufmerksamkeit der Szene zuwendet, versteht, was das Kind meint: ich möchte mein Spieltier wiederhaben. Er versteht, weil er die Intentionsstruktur der Situation durchschaut. Das Kind tut selbst noch sehr wenig zur aktiven Ausbildung dieser Intentionsstruktur, es steckt lediglich die Hand durchs Gitter zum Tier hin und wimmert dabei. Das Wimmern gibt der Handbewegung eine bestimmte, für den Erwachsenen erkennbare Intention.1
Jenny ist etwas über ein Jahr alt und nennt ihre Tante Inka »ängä«. Die faßt sie an beiden Händen, dreht sich mit ihr im Kreis und singt dabei:
Es war einmal ein kleiner Mann (geht dabei in die Knie)
Hei, jupp hei di,
Der nahm sich eine große Frau (Hände hoch)
Hm-ha-hm
Am nächsten Morgen zieht Jenny ihre Tante am Arm und sagt sehr intensiv: hm, hm. Inka versteht nicht. Jenny wiederholt und dreht sich dabei im Kreis. Jetzt erst hat die Tante verstanden und wiederholt das Tanzliedchen mit ihr.
Ebenso muß sich der einjährige Bubi handelnd und sprachhandelnd zugleich bemühen:
Die Mutter gab dem Kinde Zucker; als er zerbissen und heruntergeschluckt war, sperrte Bubi weit das Mäulchen auf und sah die Mutter erwartungsvoll an. Sie tat aber, als verstände sie ihn nicht; da riß er ungeduldig an ihrem Arm, ergriff einen ihrer Finger und führte ihn gegen das Büfett; als auch das noch keinen Erfolg hatte, wies er selbst mit dem Finger auf den Zucker und rief schon ganz gereizt: »da, da!«2
Was die Kinder in diesen drei Szenen tun, kann auch mein Hund. Wenn Bilbo raus will, rennt er zur Tür, springt dagegen, kratzt vernehmlich an ihr und gibt auch Laut, wenn’s sein muß. Das genügt, es muß ihm genügen. Denn kein Hund kommt über das, was wir analogeAnalog vs. digital Kommunikation nennen, hinaus. Analog heißt: Es gibt eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen dem, was man tut, und dem, was man mitteilen will. Bilbo führt wie Jenny und Bubi einfach eine Teilhandlung aus, nimmt also ein Stückchen dessen, was er will, vorweg. So sind manche tierische Drohstellungen als abgebremste Anspringbewegungen zu deuten. Die Tierpsychologie spricht von Intentionsbewegungen. Olivia bringt erwartungsvoll ihr Lätzchen an oder schiebt ihr Stühlchen an den Tisch. Das versteht jeder, der das Ganze kennt. Und es ist ja auch ohnehin Essenszeit.
Wie gelangen Jenny, Bubi und Olivia über dieses Stadium hinaus? Indem sie merken, daß sie mit einem lautlichen Akt allein genauso viel und später noch viel mehr erreichen können. Wer spricht, handelt mit Worten.
Eine Entwicklungslinie von der analog-konkreten zur abstrakt-digitalendigital Welt liefern die ZahlwörterZahlwörter, die zunächst durcheinander geworfen werden ohne rechten Begriff von Reihenfolge oder Menge. Dann zählt das Kind die eigenen Finger. Danach lernt es, Dinge zu zählen, benutzt aber die Finger noch mit. Wenn es die sinnliche Stütze des eigenen Körpers aufgibt, ist es noch ein Stück weitergekommen. Erst dem Schulkind gelingen Rechenoperationen im vorgestellten Zahlenraum, in denen die Zahlwörter sich von den Dingen gelöst haben und ganz für sich stehen. Man vergleiche, wie manche Naturvölker beim Zählen auch die eigenen Körperglieder benutzen, die ja immer nur eine begrenzte Anzahl liefern, aber auch schon Stöcke mit Kerben, Knoten in einem Seil oder Muscheln an einer Schnur gebrauchen, dabei aber stehen bleiben.
Du, ich und die Dinge: vom ZeigenZeigen, Zeigfeld zum ZeichenZeichen
Wenn der Finger zum Himmel zeigt, schaut nur der Dummkopf den Finger an.
(Die fabelhafte Welt der Amelie)
Etwa im Alter von 5 Monaten, wenn das SilbenplappernSilbenplappern auftritt, verändern die Bezugspersonen ihr Verhalten dem Baby gegenüber. Konzentrierten sie sich zuvor auf den wechselseitigen Blickkontakt und die Gestimmtheit des Kindes, versuchen sie nun, den Blick des Säuglings auf Dinge und Ereignisse um sie herum zu lenken und das ObjektspielObjektspiel zu initiieren. Zur gleichen Zeit reift auch die Entwicklung zum gezielten Greifen beim Kind.
Ein drei Monate altes Baby lächelt uns an; ein sechs Monate altes greift nach einem Spielzeug. Etwa mit 7 Monaten gelingt es dem Baby, beide Reaktionen miteinander zu koordinieren. Zwei sind einverstanden im Hinblick auf ein Drittes. Das ist der trianguläre BlickkontaktBlickkontakt, dreieiniger (referentieller) (auch: referentieller Blickkontakt), von einem zum anderen, den Gegenstand einbeziehend. Plötzlich sind nicht nur »Du« und »Ich« im Spiel – etwa wenn das Baby die Ärmchen hebt, um aufgenommen zu werden –, sondern auch ein Drittes, auf das gemeinsam Bezug genommen wird.
Ein markanter Wechsel: Im Vorsilbenalter konzentrieren sich die Mütter auf wechselseitigen Blickkontakt und die Gestimmtheit des Kindes. Wenn mit 5 Monaten das Silbenplappern einsetzt, versuchen sie, den Blick des Säuglings auf Dinge und Ereignisse um sie herum zu lenken. Das Objektspiel beginnt. (Nach M. PapousekPapousek, Mechthild und Hanus, 1994)
Anpassung der Mütter an die Fortschritte ihrer Kinder: 18 Mutter-Kind-Paare wurden zwischen dem 2. und 15. Lebensmonat der Kinder jeweils 14mal beobachtet. Als die Kinder anfingen, in regulären Silben zu plappern, änderten auch die Mütter ihr Verhalten: Sie griffen die Silben auf und spielten sie den Kindern als Wortmodelle zurück. (Nach M. PapousekPapousek, Mechthild und Hanus, 1994)
Gleichzeitig passiert noch ein zweites: Die nun als sprachliche Silben verstehbaren Lautäußerungen des Kindes werden von der Mutter aufgegriffen und den Kindern als Wortmodelle zurückgespiegelt.
Der von der Tante mitgebrachte Teddy wird dramatisch in Szene gesetzt und präsentiert. Mehr oder weniger zufällig äußert das Baby etwas, das nach Mengmeng klingt. Schon hat der Teddy seinen Namen weg. Immer wieder wird er als »Mengmeng« benannt und so das Lautbild assoziativ mit dem Teddy verknüpft. So entstehen erste ProtowörterWortProtowörter, Vorläufer von echten Wörtern, orientiert am lautlichen Vermögen der Kinder.
Die schon lang geübten und erprobten Techniken der Mutter, ihr Kind »bei der Stange zu halten«, Situationen gemeinsamer Aufmerksamkeit herzustellen und zu erhalten, erreichen mit 9 Monaten einen neuen Höhepunkt: Das Kind versteht die Zeigegeste. Gemeinsam wird auf einen im Blickfeld liegenden Gegenstand Bezug genommen (joint attention). Aber der sechs Monate alte Säugling blickt nur auf den zeigenden Finger. Mit neun Monaten beginnt er, mit den Blicken der imaginären Linie zu folgen, die vom Finger zum Gegenstand führt.
Der Gegenstand als neuer Einigungspunkt wird Träger einer gemeinsamen Bezeichnung. Wörter als Zeichen für etwas entwickeln sich an dieser Stelle aus dem Zeigen, dem gestischen BenennenNennfunktion, Benennen. Das ist nichts Selbstverständliches, denn die Zeigegeste findet sich nur beim Menschen, vielleicht mit Ausnahme des Haushundes.1 So ist wohl auch die Wurzel von lateinisch dicere, »sagen«, das Zeigen, woran noch indicare,