Wie Kinder sprechen lernen. Wolfgang Butzkamm
Michael spricht von der 9-Monatsrevolution, die den Menschen vom Tier unterscheidet. Sie dokumentiert, dass Kinder sich nun als wollende Wesen darstellen können und nun auch die anderen in dem verstehen wollen, was sie intendieren und beabsichtigen.
Schauen wir uns einen Dialog an, zu dem das Baby gegen Ende seines ersten Lebensjahres fähig ist. Noch ohne ein Wort beizusteuern, bittet Marta um Hilfe:
Marta schafft es nicht, ein Portemonnaie zu öffnen. Sie schiebt es ihrem Vater vor die Hände. Der unternimmt nichts. Da legt sie es ihm in die Hand, schaut ihn an und gibt ein paar Tönchen von sich. Der unternimmt immer noch nichts. Marta insistiert, zeigt auf das Portemonnaie und jammert. Vater: »Ja was soll ich denn tun?« Marta zeigt noch mal auf die Börse, blickt ihren Vater dabei an und äußert wieder ein paar Tönchen. Jetzt endlich berührt der Vater den Verschluß und fragt: »Soll ich es aufmachen?« Marta nickt kräftig.2
Marta hat ihren Vater verstanden, allerdings noch nicht die einzelnen Wörter, die er verwendet. Es wird ihr immer klarer, daß man allein mit den Tönen, die man hervorbringt, beim anderen etwas ausrichten kann.
Zeigen Sie Ihrem Einjährigen ein Spielzeug und lassen es dann wie im Scherz verschwinden, wenn er danach greift. Normalerweise schaut er Sie dann fragend an, um herauszufinden, warum Sie das tun. Viele autistische Kinder reagieren nicht so.
Fast alle Kinder mit Entwicklungsauffälligkeiten zeigen auch im Alter von zwei, drei und vier Jahren diesen triangulären BlickkontaktBlickkontakt, dreieiniger (referentieller) nur sehr selten. Beschäftigen sie sich mit einem Gegenstand, sind sie entweder ganz davon eingenommen oder aber sie manipulieren ihn ohne echte Freude und Interesse – in beiden Situationen gibt es keinen Anlass, ein Erlebnis zu teilen. Steht das Kind in direktem Kontakt mit einer anderen Person, ist es so damit beschäftigt, mit ihm über den direkten Blick, Gesten oder Laute zu kommunizieren, daß es einen Gegenstand in diese Interaktion nicht einbeziehen kann; dies habe ich beispielsweise sehr oft bei Kindern mit Down-Syndrom beobachtet.
Mit etwa eineinhalb Jahren können viele der entwicklungsauffälligen Kinder einen Gegenstand geben, doch auch hier fehlt der erwartungsvolle Blick, d.h. sie bringen das Ding, legen es dem Erwachsenen auf den Schoss und gehen gleich wieder weg, um etwas neues zu holen. Wenn sie dem Anderen eine Absicht mitteilen wollen, zeigen und vokalisieren sie oder ziehen ihn am Arm, doch auch in dieser Situation schauen sie nicht vom gewünschten Gegenstand zum Erwachsenen, um zu sehen, wohin er seinen Blick richtet.3
Allerdings gibt es beim Zeigen noch einen kleinen, aber höchst bedeutsamen Unterschied. Auf einen Gegenstand deuten, den man haben will, ist erst eine Vorstufe zum »deklarativen«, rein informativen Zeigen. Das ist der Fall, wenn ein Kind bloß auf etwas hinweist, das es interessant findet, und dieses Erlebnis mit seinem Partner teilen will. Schon das bloße Zeigen und die Anteilnahme des Partners befriedigt. Das ist das gestische BenennenNennfunktion, Benennen in Reinform. Das Baby fordert nicht auf: »gib mir«, »tu was«; sondern macht gewissermaßen eine sachliche Aussage, stellt fest: »das da« (Zur »SachlichkeitSachlichkeit«, die nur dem Menschen möglich ist, vgl. S. 183ff.). Das Kind verknüpft den Partner und den Gegenstand in einem kommunikativen Akt und kann jetzt lernen, daß die Dinge ihre Namen haben.
Die Leistungen, die hier zusammenkommen, lassen sich wie folgt aufschlüsseln:
Alter: 9–12 Monate | Alter: 11–14 Monate | Alter: 13–15 Monate |
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Den Blick des Partners suchen Ist die Sache hier okay? | Erfassen, worauf der Partner sein Augenmerk gerichtet hat, und es ihm nachtun | Zeigen als Bewußtseinslenkung des Partners auffordern: gib, tu … aussagen: das da4 |
Das sachliche Zeigen und Benennen ist wegen der eindeutigen Zuordnung von Wort und Ding wichtig. Aber dabei werden fast ausschließlich Hauptwörter gelernt. »Schau mal her, das nennt man Kriechen, und das nennt man Gehen«: So belehrt wohl keine Mutter ihr Kind. Oder noch verrückter: »Hör mal zu, das nennt man ›alt‹; so gebraucht man ›auf‹«. Die meisten an das Kind gerichteten Äußerungen sind somit keine einfachen Benennungen. Das Kind muss also schon einiges leisten, um zu verstehen und dabei im Redestrom einzelne Wörter wiederzuerkennen und sich dann umgekehrt mit diesen Wörtern verständlich zu machen. In mehreren Studien wurde ermittelt, (1) wie viel Zeit Mütter in Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit mit ihren Kindern zubrachten und (2) wie ausgeprägt dabei ihre Tendenz war, dem Aufmerksamkeitsfokus des Kindes sprachlich zu folgen. Im Alter zwischen zwölf und fünfzehn Monaten erklären diese beiden Faktoren über 50 % der Varianz sowohl des Sprachverstehens als auch der Sprachproduktion! Nicht wer sein Kind zutextet, sondern wer sensibel bei seinem Kind ist und sprachlich das begleitet, was es gerade im Auge und im Sinn hat, der fördert enorm seine sprachliche Entwicklung. Also nicht einfach drauflosreden, sondern auch die kindliche Reaktion abwarten und merken, ob man gemeinsam bei derselben Sache ist.5
Greifen wir zeitlich ein wenig vor und schauen wir uns Kinder zwischen eineinhalb und zwei Jahren an. In verschiedenen, geschickt gestellten Situationen – wiederum in Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit – konnte man zeigen, wie wichtig es für den Spracherwerb ist, daß die Dialogpartner sich wechselseitig als absichtsvoll Handelnde erleben. Hier nur zwei Beispiele TomasellosTomasello, Michael, die den Zusammenhang mit dem Worterwerb belegen.
Ein Erwachsener gibt vor, »das Toma« zu suchen. Er sucht dann in einer Reihe von Eimern, die alle neuartige, vom Kind noch nicht benannte Dinge enthalten. Unpassende Gegenstände schaut er schief an und legt sie wieder zurück, bis er den richtigen Gegenstand gefunden hat, was durch ein Lächeln quittiert wird und die Suche beendet. Egal, ob und wie viele Dinge verworfen wurden, die Kinder lernten das Wort »Toma« richtig zu verwenden.
In einer anderen Situation bedeutete jemand dem Kind, er wolle nun Mickey Maus »daxen«, und tat darauf etwas wie zufällig und etwas anderes absichtlich. Die Kinder ließen sich nicht beirren, sie lernten das Wort »daxen« für die absichtliche, nicht die zufällige Handlung, und zwar unabhängig davon, welche Handlung zuerst vollzogen wurde.
Es ist bei näherer Analyse ziemlich schwierig, neu auftauchende Wörter aus dem Handlungs- und Redefluß herauszuklauben und richtig zuzuordnen. Kinder haben ein detektivisches Gespür dafür, weil sie ein tiefes und flexibles Verständnis anderer als zielbezogen Handelnde entwickelt haben – und zwar in den schon genannten routinemäßigen Situationen, die sie von Anfang bis Ende auch ohne Sprache durchschauen. Sprache braucht diese BodenhaftungSpracheBodenhaftung der Sprache, weil Wörter sehr beweglich sind und sich auf Unterschiedliches beziehen können. Das gilt ja nicht nur für die »Wechselwörter« wie ich, du, er usw. Gisas Foxi ist längst nicht immer »Foxi«, sondern kann auch »dein Plüschtier«, »dein Kuschelhündchen« oder »dein Liebling« sein. Umgekehrt ist sie selbst Mamas »Liebling«. Um hier klarzukommen, bedarf es zunächst externer Stützen sich gleich bleibender Situationen und die richtige Deutung der kommunikativen Absichten der Beteiligten.
Um die Mitte des zweiten Lebensjahres ist das Kind auch in anderer Hinsicht weiter gekommen. Wie wir gesehen haben, ist dies die Zeit, wenn Kinder sich im Spiegel wiedererkennen. Genau um diese Zeit kann man auch die umgekehrte Reihenfolge von Zeigegeste und Blick hin zum Partner beobachten. Der Blick geht zuerst zur Mutter, um so zu erkunden, ob sie überhaupt informiert ist über das Neue und Interessante. Das Kind versucht also seinerseits, ihre Aufmerksamkeit zu lenken, und setzt ihr seelisch-geistiges Einssein, gewissermaßen ihre Allwissenheit nicht mehr voraus. Aus dem »Wir wissen« kann jetzt ein »Ich weiß etwas« und »Du weißt es vielleicht noch nicht« werden. Schaut sie auch tatsächlich hin und sieht, worauf es jetzt schaut oder was es jetzt tut? Jetzt erst wird die Mutter ganz als separates Du wahrgenommen, die ja etwas anderes