Wie Kinder sprechen lernen. Wolfgang Butzkamm

Wie Kinder sprechen lernen - Wolfgang Butzkamm


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hoot: vielfach wird ein Farbwort, meistens rot, kurzfristig verwandt, um praktisch alle Farben zu bezeichnen2 abpellen: für Kartoffeln wie für Obst, wird aber auch zum Knacken von Nüssen gesagt merci: Olivia sagt merci, wenn sie etwas bekommt, aber auch, wenn sie selbst etwas überreicht

      Allerdings konnte man nachweisen, daß Kinder beispielsweise Auto oder das lautmalerischeLautmalerei brrm zwar auch im Sinne von Kinderwagen, Flugzeug oder Motorrad verwendeten, zugleich aber bei Sortieraufgaben sehr wohl schon zwischen Auto, Motorrad, Fahrrad usw. unterschieden. Es wäre auch verwunderlich, wenn die Kinder, die etwa rot für alle Farben, Bonbon für alle Süßigkeiten oder Milch als Sammelbezeichnung für Getränke gebrauchen, den Unterschied nicht sehen bzw. schmecken würden. Die Beschränkung liegt zumeist in ihrem sprachlichen Vermögen, nicht in der Auffassung von Welt. Möglicherweise machen sich’s die Kinder beim Sprechen einfach, entweder weil sie die korrekte Bezeichnung noch nicht kennen bzw. sich nicht an sie erinnern oder weil ihnen die richtige Lautgestalt noch zu schwierig ist. Allmählich werden die korrekten Bezeichnungen erworben, manchmal über Zwischenstationen wie Himmel-Auto oder Piepiep-Auto für Flugzeug.

      Leichte Wörter sind immer solche, die durch Anschauung gestützt werden, wie wauwau und piepiep. Wauwau wird meist für alle Vierbeiner gebraucht; später eingeschränkt auf Hunde, wird dann aufgegeben zugunsten von Hund. Übergangsformen wie »Wauwau-Hund« oder »Piepvogel« zeigen sehr schön, wie die anschauliche, lautmalende Kinderbezeichnung die Brücke zur unanschaulichen konventionellen Bezeichnung bildet. Wauwau bleibt aber noch der Name für den Stoffhund, der mit ins Bett kommt.

      Kinder wuchern einfach mit den wenigen Pfunden, die sie haben. Sie weichen auf ein nahe liegendes anderes Wort aus oder erfinden »Passe-partout-Wörter«, ähnlich wie wir uns mit Dingsbums aushelfen, wenn uns gerade das Wort nicht einfällt. So nennt der 17 Monate alte Bubi viele Dinge, die er nicht kennt, einfach mam, wie weiße Steine, Seife, Wachs, Siegellack und Kork.3

      Gewöhnlich geht also der Weg von einer überdehnten, umfassenden Bedeutung zur eingeschränkten, passenden Bedeutung. Das Kind greift zu weit aus, als ob es mit wenigen Wörtern die ganze Welt vereinnahmen möchte. So muß Bubi noch den beschränkten Anwendungsradius von blond lernen. Als Dreijähriger nannte er seine Hafersuppe und einen Goldring blond. Aber es gibt auch den umgekehrten Fall der Bedeutungs-Schrumpfung, d.h. einer zu engen statt zu weiten Bedeutung, etwa wenn Dorothee das Wort nackt bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres nur im Sinne von nackte Füße, barfuß verwendet und dann erst diese Beschränkung aufhebt.4 Solche Unterdehnungen fallen gewöhnlich nicht weiter auf, da das Wort ja, wenn angewendet, immer richtig angewendet wird.

      Einwortsätze

      Die ersten Wörter des Kindes sind jeweils Einwortäußerungen, die man in Kenntnis der Situation in vollständige Sätze verwandeln kann. Je nach Situation und Betonungskontur ist Ba ein Wunschsatz: »Ich möchte meinen Ball haben«, und ein anderes Mal eine zufriedene Feststellung: »Jetzt hab ich meinen Ball« oder auch eine Frage.

Papa? (Draußen hält ein Wagen, Türen klappern)
Papa! (Papa ist da und wird herbeizitiert)
Papa! (streckt ihm die Arme entgegen: Heb mich vom Schaukelpferd!)
Papa! (Papa ist abwesend, als Hendrik, 1;6, von seiner Mutter ausgeschimpft wird: Ich möchte jetzt zum Papa; wenn Papa bloß da wäre!)1

      Das letzte Beispiel zeigt, wie sehr die Gefühlswelt schon entwickelt ist und man sich trotz minimaler Sprache verständigen kann. Wenn Mutter böse ist, bleibt mir nur die Flucht zum Vater, der mich trösten kann. Sollte das überinterpretiert sein? Wir übernehmen die Deutung der Mutter, wie wir auch Clara SternsStern, Clara und William Deutung im folgenden Beispiel übernehmen. Es zeigt, wieviel Einwortsätze leisten können:

      Auf dem Spielplatz wollte sie eben nach der Schaufel eines anderen Kindes greifen; plötzlich besann sie sich, als ob ihr hier die EigentumsfrageEigentum aufginge; sie ließ die Schaufel liegen, sah die Mutter verständnisvoll an und sagte: »Kind«? = Die Schaufel gehört dem Kind, nicht wahr?2

      Naturgemäß dominieren leicht verständliche Aufforderungen an den Partner wie:

änte (Hände) = Nimm mich auf den Arm
ssoss = Nimm mich auf den Schoß
nasse = Putz mir die Nase3

      Oft sind es auch von Emotionen bestimmte Hinweise: dida = Da ist die Tick-Tack! Wauwau = Da, sieh doch, mein Wauwau! Überraschung, freudige Bewunderung, Entzücken mischen sich hinein, die Gefühle dominieren. Das BenennenNennfunktion, Benennen kommt erst dann rein zur Geltung, wenn das Kind anfängt, nach den Namen zu fragen, etwa mit der Formel: Isn das?

      Von Interesse mag noch sein, dass Hauptwörter als häufigste Wortklasse vorkommen. Einige Kinder verhalten sich aber auch ganz anders. Sie gebrauchen nämlich überwiegend FunktionswörterFunktionswörter wie da, das, ab, an und soziale Routinen wie ja, hallo, danke. Das Normkind ist eine Kunstfigur.4

      Helen KellerKeller, Helens Gedankenblitz: das Erlebnis des Bedeutens

      Fräulein SullivanSullivan, Anne liest Helen KellerKeller, Helen vor, indem sie die Wortzeichen mit ihrer rechten Hand auf die Innenfläche von Helens rechter Hand tastet.

      Die Erkenntnis, daß die Dinge ihren Namen haben, wächst wohl allmählich. Alles Sprechen ist ja von Anfang an in Situationen eingebettet, in denen viele Faktoren zugleich ein Verstehen bewirken. Es läßt sich normalerweise kein Moment festhalten, in dem einem Kind der ZeichencharakterZeichen, anders gesagt: die Darstellungs- oder Nennfunktion von Sprache, offenbar wird.

      Wir haben jedoch einen Fall von »wahrhaft gewaltigem Erkenntniswert«, bei dem diese Grunderfahrung des Nennens zu einem einmaligen Aha-Erlebnis zusammengezogen wurde.1 Helen KellerKeller, Helen erblindete und ertaubte mit 19 Monaten. Als sie fast sieben Jahre alt war, kam sie in die Obhut von Anne SullivanSullivan, Anne, einer begabten, gerade 19 Jahre jungen Frau, die selbst leicht sehbehindert war. Den Tag, an dem Anne Sullivan als Hauslehrerin bei den Kellers einzog, bezeichnete Helen später als den wichtigsten Tag in ihrem Leben. Anne Sullivan, ihre geistige Mutter, blieb zeit ihres Lebens Pflegerin, Dolmetscherin und Gesellschafterin von Helen, die sich später als Sozialistin und Pazifistin einen Namen machte und im Dienste von Blindenorganisationen um die Welt reiste. Helen Kellers Die Geschichte meines Lebens ist eigentlich eine Gemeinschaftsproduktion der beiden. (Den Erlös aus der deutschen Übersetzung hat sie den deutschen Kriegsblinden aus dem Ersten Weltkrieg gestiftet. Die Nazis haben ihre Bücher verbrannt – der Dank des Vaterlandes …)

      Der Unterricht beginnt, indem ihr Anne eine Puppe schenkt, sie eine Weile damit spielen läßt und ihr dann das Wort Puppe in die Hand buchstabiert. Dabei benutzte sie die Rochester-Methode, bei der das traditionelle Fingeralphabet auf eine Hand konzentriert wird und mit der Taubblindetaubblind auch untereinander kommunizieren können.Lorm, Hieronymus2

      Somit ergibt auch ein kurzes Wort wie Puppe (doll) ein kompliziertes Muster. Was macht Helen damit? Sie versucht, das Muster nachzumachen, und freut sich, wenn es ihr gelingt. So lernt sie über mehrere Wochen noch viele »Wörter«: Es sind im Grunde nur verschiedene taktile Reizfolgen ohne Bedeutung. Allmählich


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