Wie Kinder sprechen lernen. Wolfgang Butzkamm
im Alter von 16–18 Monaten. Dann blicken sie auch hinter sich, um nachzuschauen, ob die Mutter direkt hinter ihnen etwas anschaut. Bischof sieht hier eine präzise zeitliche Koppelung, die aufdämmernde Ahnung, daß es ein Selbst gibt und ein separates Du: die Auflösung der seelischen Mutter-Kind-Symbiose.6
Wer hat die Hauptrolle?
Leistet das Kind das meiste, weil es so gut auf die Eltern zu hören versteht? Oder gelingt die Nachahmung nur so gut, weil die Eltern sich so gut auf das Kind einstellen?
Die Initiative geht von der Mutter aus. Sie ist auf die Rolle der Spielleiterin abonniert und hält das Spiel in Gang. Sie ist nicht die bloße Assistentin des Kindes; sie ist die treibende Kraft. Es dauert eine ganze Weile, bis das Kind sich so gründlich auskennt, daß es selbst zum Ausführenden wird, der das Spiel steuert. So übernimmt es eindeutig die Hauptrolle wohl erst, wenn es im dritten Lebensjahr damit beginnt, sich die Grammatik zusammenzureimen – eine Aufgabe, bei der die Eltern weit weniger Hilfe leisten können (auch wenn sie wollten). Erst dann gilt PinkersPinker, Steven Satz, daß Kinder »das größte Verdienst an der von ihnen erworbenen Sprache« besäßen.1
Wie Eltern ihr Verhalten den Lernfortschritten ihrer Babys anpassen, kann man u.a. auch damit belegen, daß in den ersten Monaten nur 10 % der Mütter Kinderwörter wie hamham, wauwau, gagack gebrauchten. Dieser Anteil stieg zwischen dem 7. und 15. Monat auf 66 %.2 In dieser Zeit des SilbenplappernsSilbenplappern können die Babys eben viel mehr damit anfangen. Es sind Wörter, die zu ihrem Lautrepertoire passen und die sie bald übernehmen können.
Nicht alle Eltern setzen alle hier erwähnten pädagogischen Tricks ein, ohne daß sprachliche Verzögerungen aufträten. Offenbar hat die Natur ein so reichhaltiges Repertoire angelegt, daß auch mal etwas fehlen kann.
Was bringt nun das Baby in diese Situation ein? Es antwortet mit heranreifenden fertigen Verhaltensweisen: dem Lächeln, dem Weinen, dem Lachen, dem Ausdrücken von Unmut oder Ablehnung. Sie kommen in allen Kulturen vor. Mehr noch: Sie treten auch bei taubblindtaubblind geborenen Kindern auf, den »Kindern der Nacht und der Stille«, die Klang und Mienenspiel niemandem abgucken und ablauschen können.3 Denn solche Ausdrucksbewegungen »sind die erste Muttersprache der Kinder, welche Mutter Natur selbst sie gelehrt hat«, wußte schon Joachim Heinrich CampeCampe, Joachim Heinrich.4 Der Säugling tut so seine Gemütslagen kund, welche die Eltern auf Anhieb verstehen und als Ansatzpunkt für einen kommunikativen Austausch benutzen. Sie sind das Pack-Ende für ihre Führungskunst.
Gehörlose Kinder fangen zu lallen an wie gesund geborene Kinder. Mit ungefähr sechs Monaten gehen die Lautierungen jedoch stark zurück. Je nach Resthörvermögen und Hörgeräteversorgung gelangen sie auch zum Silbenplappern, jedoch später als gesundgeborene Kinder und nicht in so deutlich auf Sprache hinzielender Ausprägung. Die wohlgeformten, am sprachlichen Input orientierten Silben, die sie ja gar nicht vernehmen, können sie auch nicht produzieren. Es ist, als ob auch diese kleinen Wesen mit ihrem Gebrabbel eine Frage an die Welt wie auch an sich selbst richten und auf Antworten warten, die jedoch nicht kommen. Weder hören sie ihre Eltern, noch hören sie sich selbst. Diese Antworten brauchen sie aber, um weiterfragen zu können.
Kindliche Ausdrucksbewegungen, kategoriales Hören, Lallen und Plappern bilden den genetischen HebelSpracheGenetische Doppelsicherung, an dem die Eltern ansetzen. Auf der einen Seite: angeborene Ausdrucksformen und die Spontaneität des stimmlichen Spielens und Brabbelns. Auf der anderen Seite: ständige Ansprache, ständiger Zuspruch. So konvergiert der Sprachtrieb des Kindes mit dem Bemühen der Eltern. Sprechen ist – auf beiden Seiten – eine aus den Tiefen der Persönlichkeit hervorbrechende Betätigung. Erst die Konvergenz – das Zusammenspiel – ermöglicht den Erwerb der Sprache.5
Ständiger Wechsel in der Regieführung
Selbstthätigkeit – o merkt euch diese für die ganze Erziehung so überaus wichtige Wahrheit! – Selbstthätigkeit allein übt, stärkt und entwickelt die geistigen wie die körperlichen Kräfte des Kindes.
(Joachim Heinrich CampeCampe, Joachim Heinrich 1785)
Eine Spielsituation, die viele Mütter inszenieren, ist das Vorzeigen, das anschließende Verschwindenlassen: Ja, wo ist denn jetzt das Häschen? und Wiederhervorzaubern eines Gegenstandes. Das emphatische Da isses! wird vom Kind mit einem Jauchzer quittiert. Das Spiel ist beendet und kann von neuem anfangen. Im Laufe der Zeit ergeben sich charakteristische Veränderungen, die sich am Lernfortschritt des Kindes orientieren und schließlich in die Übergabe des Taktstocks an das Kind einmünden. Wieder wird die grundgescheite elterliche Pädagogik erkennbar.
BrunerBruner, Jerome S. hat detailgenau dokumentiert, wie Mütter ihren Kindern zunehmend mehr Spiel- und später Sprechanteile überlassen und bereit sind, die Dirigentenrolle an sie abzutreten.1 Er spricht vom hand-over-principlehand-over-principle. Etwa so:
die Mutter führt ein Spielchen ein
das Kind macht nach
das Kind macht mit
das Kind ergreift selbst die Initiative und führt Regie
Der Drang der Kinder zur Selbständigkeit, dem die Mütter so klug nachgeben, ist natürlich nicht auf das Sprechenlernen beschränkt. Ich erinnere mich, wie Gisa über eine Mauerkrone lief und irgendwann meine helfende Hand fortstieß: »Gis leine« (Gisa kann das alleine). Ebenso Bubi: Als die Mutter ihn füttern wollte, nahm er ihr den Löffel aus der Hand: »Nein, Bubi leine«, und versuchte wirklich leidlich geschickt, allein zu essen.2
Andere Kinder gebrauchen ähnliche Formeln:
Kann helber! (= selber)
Helber machen! Auch machen wollen!
Nein, ich!
Can manage!
Mareike (1;11) sagt in einem besonderen Tonfall Mama!, um auszudrücken: Laß das; ich mach das.3
Bubi (3;2):
Beim Blättern im Bilderbuch wünscht Bubi jetzt meistens ungestört zu sein und fragt nur noch selten nach der Bedeutung der Bilder; er legt sich ihren Sinn lieber selber aus, die Gestalten werden lebendig, er füttert die abgebildeten Tiere und unterhält sich drollig mit Personen und Tieren; dabei schlägt er zu unserem Ergötzen immer einen recht gönnerhaften Ton an.4
Wie eng gehen soziales und sprachliches Lernen zusammen! Bubi weiß, daß es ganz bei ihm liegt, ob oder wieviel er seine Tiere »füttert«, und er beherrscht auch schon den passenden »gönnerhaften« Ton.
Das Prinzip der RollenübergabeRollenübergabe, Prinzip der R. ist in der Pädagogik als das Prinzip des selbsttätigen, eigenverantwortlichen Lernens hinlänglich bekannt, verwandt auch mit dem Grundsatz des learning by doing. Von einem amerikanischen Sprachpädagogen stammt der Ratschlag: Teach, then test, then get out of the way. Zeig, wie’s geht; schau, ob du verstanden worden bist; danach nimm dich zurück. Ein Zyklus, der stets mit dem Rückzug des Lehrers endet. Dann heißt es: Now it’s up to you! – Du bist jetzt dran! Auf dich kommt’s jetzt an!
So kann die Schule der Natur manches abgucken. Jedenfalls ist jede Sprachlehrmethode auch daran zu messen, ob und wie sie diesen Rollenwechsel regelmäßig einplant und herbeiführt. »Übrigens ist mir alles verhaßt, was mich bloß belehrt, ohne meine Tätigkeit zu vermehren oder unmittelbar zu beleben«, bekannte GoetheGoethe, Johann Wolfgang von. Führen und Wachsenlassen gehören zusammen. So bekommen wir Kinder, die sich ihr Können selbst erschließen, sich aktiv Ziele setzen und später bereit und fähig sind, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen.
Ein folgenreicher Befreiungsschritt
Wenn die Sprache auf den Plan tritt, kann die Kommunikation zwischen Eltern und Kind in ganz neue Dimensionen vorstoßen. Sprache ist dann nicht nur Verständigungsmittel, sondern darüber hinaus ErkenntnismittelSpracheErkenntnismittel. Sie wird in der Folge immer weniger an das unmittelbare Vor-Augen-Sein von Personen,