Wie Kinder sprechen lernen. Wolfgang Butzkamm
Helen hält den Gegenstand in der einen Hand, und die Zeichen dafür werden ihr in die andere geschrieben. Helen »fragt« sogar schon nach »Wörtern«: wenn sie auf etwas zeigt, dann die Hand ihrer Lehrerin tätschelt, erwartet sie von ihr ein bestimmtes Reizmuster zum Nachmachen. Das in die Hand getippte und gestreichelte Muster gehört irgendwie zum betasteten und erfühlten Gegenstand dazu. Aber sie ist noch nicht zur vollen Klarheit gelangt. Das Reizmuster ist mehr ein Anhängsel als ein Stellvertreter der Sache, noch kein Zeichen für etwas. Manchmal gibt es Ärger. Helen will nicht akzeptieren, daß Anne ihr das gleiche Muster für zwei ganz verschiedene Puppen in die Hand tippt, und wirft die Puppe wütend auf den Boden, wo sie zerschellt.
Schwierigkeiten gibt es auch beim Auseinanderhalten von Becher (mug), Milch und Trinken. Für Helen fällt das eher in ein Ereignis zusammen. Die Dinge und die damit regelmäßig verbundenen Tätigkeiten sind ungeschieden, sind »AktionsdingeAktionsding«: zum Ball gehört der Kick, zur Puppe das Spielen, zum Kuchen das Aufessen, zur Milch das Trinken. Anfänglich bezeichnen viele Kinderwörter ein solches Erlebnisganzes: quak-quak ist zugleich Ente, Wasser, Teich.
Über das entscheidende Erlebnis berichtet die Lehrerin:
Als ich sie heute früh wusch, wünschte sie die Bezeichnung für Wasser zu erfahren. Wenn sie die Bezeichnung für etwas zu wissen wünscht, so deutet sie darauf und streichelt mir die Hand. Ich buchstabierte ihr w-a-t-e-r in die Hand und dachte bis nach Beendigung des Frühstücks nicht mehr daran. Dann fiel es mir ein, daß ich ihr vielleicht mit Hilfe des neuen Wortes den Unterschied zwischen mug und milk ein- für allemal klarmachen könnte. Wir gingen zu der Pumpe, wo ich Helen ihren Becher unter die Öffnung halten ließ, während ich pumpte. Als das kalte Wasser hervorschoß und den Becher füllte, buchstabierte ich ihr w-a-t-e-r in die Hand. Das Wort, das so unmittelbar auf die Empfindung des kalten über ihre Hand strömenden Wassers folgte, schien sie stutzig zu machen. Sie ließ den Becher fallen und stand wie angewurzelt da… Sie buchstabierte das Wort water zu verschiedenen Malen. Dann kauerte sie nieder, berührte die Erde und fragte nach deren Namen, ebenso deutete sie auf die Pumpe und auf das Gitter. Dann wandte sie sich plötzlich um und fragte nach meinem Namen. Ich buchstabierte ihr teacher in die Hand.3
Helen selbst schreibt dazu:
Mit einem Male durchzuckte mich eine nebelhaft verschwommene Erinnerung an etwas Vergessenes, ein Blitz des zurückkehrenden Denkens, und einigermaßen offen lag das Geheimnis der Sprache vor mir. Ich wußte jetzt, daß w a t e r jenes wundervolle kühle Etwas bedeutete, das über meine Hand hinströmte.4
Wasser war das ZeichenZeichen, das den Weg zu allen weiteren Wörtern wies. Helen erlebt es wie einen Gedankenblitz. Dennoch kein Blitz aus heiterem Himmel, sondern einer, der sich angekündigt hatte. Es war ein Kulminationspunkt, in dem das, was in wenigen Wochen angebahnt wurde, zusammenkam.
Ich verließ den Brunnen voller Lernbegier. Jedes Ding hatte eine Bezeichnung, und jede Bezeichnung erzeugte einen neuen Gedanken. Als wir in das Haus zurückkehrten, schien mir jeder Gegenstand, den ich berührte, vor verhaltenem Leben zu zittern.5
Normalsinnige Kinder gleiten unmerklich in die Erkenntnis hinein, daß Dinge, Eigenschaften, Tätigkeiten und Vorgänge Namen haben können und daß umgekehrt die Geräusche, die wir mit unserem Mund erzeugen, etwas »bedeuten«. Wenn Kindern dieser natürliche Weg zunächst verwehrt wird, kann dieses Erkennen bewußt erlebt werden. Blitzartig leuchtet die Erkenntnis auf, wird ein Zusammenhang klar. Dieses Erlebnis ist von freudiger Erregung begleitet.
Es gibt mittlerweile weitere Berichte über Gehörlose, in denen dieser dramatische Moment geschildert wird. So schreibt die Gebärdendolmetscherin Susan SchallerSchaller, Susan über den Unterricht, den sie einem siebenundzwanzigjährigen Taubgeborenen erteilt. Als sie ihm die GebärdeGebärdensprache für Dein Name? vormachte, imitierte er diese einfach wie Helen, ohne sie als Zeichen für eine Frage zu verstehen. Der Durchbruch kam nach tagelangen Versuchen, in denen er zigmal Gebärdenwörter wiederholt hatte, besonders das Zeichen für Katze, ohne eigentliches Verständnis. Doch plötzlich war es keine Geste mehr, mit der man nichts weiter anfangen konnte, als sie nachzumachen, weil es offenbar so erwartet wurde. Es wurde etwas ganz anderes, und seine Lehrerin jubelt:
Er hatte es geschafft! Er hatte verstanden, hatte denselben Strom durchquert wie Helen KellerKeller, Helen, als sie am Pumpbrunnen plötzlich den Zusammenhang zwischen dem Wasser, das über ihre Hände floß, und dem Wort water herstellte. Ja, W A T E R und C A T bedeuteten etwas! Und die Bedeutung von Katze in der Vorstellung des einen Menschen konnte die Bedeutung von Katze in der Vorstellung eines anderen wachrufen, wenn man ein Symbol – ein Wort oder eine Gebärde für Katze benutzte.6
Auch bei doppelt behinderten, taubblinden Kindern haben wir mittlerweile weitere Zeugnisse über ein solches Aha-Erlebnis. Ein Film zeigt, wie ein taubblindes Kind unterrichtet wird, indem man ihm z.B. einen Apfel in die Hand gibt oder einen Ball und ihm dann das Wort in die Hand buchstabiert.
Man sieht, wie das Kind aufmerksam mit der Hand lauscht, und als es endlich den Bedeutungszusammenhang zwischen Zeichen und Objekt erfaßt hat, hüpft es vor Freude in die Höhe. Ist dieser Durchbruch einmal geschafft, lernen die Kinder mit großem Eifer und überraschend schnell.7
Das Tor zur Bezeichnung der Welt ist aufgestoßen.
Das Wort: ZeichenZeichen statt Zugabe
Bedeuten und Benennen stellen eine besondere Form der Gedankenverbindung dar. Ein Name ist mehr als eine lose Assoziation. Helen hatte schon eine Zeitlang die Dinge mit den dazugehörigen taktilen Reizmustern verknüpft, bevor sie die besondere Art symbolischer Verknüpfung begriff.
An Kindern, die – aufgrund eines genetischen Defekts – nur sehr langsam Sprache erwerben, kann man mitunter deutlich beobachten, wie sie über längere Zeit hinweg Wörter äußern, ohne zu ihrem eigentlichen Sinn vorzudringen. Die Wörter werden aus Gewohnheit mit Sachen und Situationen verknüpft, aber ohne symbolisches Verständnis. Da die Wörter im Grunde funktionslos bleiben, werden sie auch schnell wieder vergessen.
So besteht eine sprachliche Besonderheit autistischerAutismus Kinder darin, daß sie irgendwann ein Stück Sprache aufschnappen, um es dann stereotyp bei – aus ihrer Sicht – passenden Gelegenheiten zu verwenden (vgl. S. 222f.). Typisch für dieses Verhalten ist folgende Episode:
Vor einiger Zeit habe ich Frank erklärt, daß er nicht mehr so viel Papier bekommen kann, weil dann immer gleich »der Mülleimer voll ist.« Wann immer jetzt von Papier die Rede ist, sagt er »Mülleimer voll«! Natürlich freuen wir uns, daß er überhaupt Zweiwortsätze spricht.1
Ein anderes Kind verwendete das Satzfragment »partly heard song« im Sinne von »I don’t know« – als ob eine Assoziation plötzlich einrastet und man von ihr nicht mehr loskommt.2 Wer nicht bei der Ausgangssituation dabei war, kann sich keinen Reim darauf machen. So dauerte es jahrelang, bis die Eltern der autistischen Elly dahinterkamen, warum sie im Alter von vier Jahren das französische Kinderlied »Alouette« sang, wenn ihr nach dem Waschen die Haare gekämmt wurden. »Alouette« klang wie »all wet«.3 Wörter oder Satzfragmente werden gewissermaßen leitmotivisch verwendet. Sie erinnern an etwas, stellen also eine Verknüpfung her, ohne eigentlich zu verweisen und zu benennen. Erst sehr allmählich wird der Schritt zur symbolischen GleichungSymbolische Gleichung, symb. Verdoppelung getan: Etwas tritt für etwas ein, verweist auf etwas anderes, als es selbst ist, kurz: bedeutet etwas.
Das Als-ob-Spiel
KainzKainz, Friedrich spricht von der Symboltüchtigkeit des Menschen, seinem Symbolbewußtsein, seiner »entscheidenden Wendung zum Symbol«.1 Griechisch »symbolon« ist das, was »zusammengefügt« ein Ganzes ergibt. So gilt die Taube als Symbol des Friedens: Das wahrnehmbare Tier und die nichtwahrnehmbare Idee werden zusammengefügt. Oder die Lautung »Apfel« wird mit einer Baumfrucht verknüpft und kann daher stellvertretend auf sie verweisen.
Mit der sprachlichen SymbolfunktionSymbolfunktion hängt nach PiagetPiaget, Jean auch das symbolische Spiel oder Als-ob-SpielAls-ob-Spiel zusammen (das wir im zweiten Kapitel schon Deutungs-, Fiktions-, Illusions- oder Phantasiespiel genannt haben, engl. pretend