Wie Kinder sprechen lernen. Wolfgang Butzkamm

Wie Kinder sprechen lernen - Wolfgang Butzkamm


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Ein Beispiel: Der MIT-Forscher Deb Roy und sein Team verkabelte sein ganzes Haus und stattete es mit Videokameras aus, um den Spracherwerb seines Sohnes möglichst lückenlos (!) zu dokumentieren. Drei Jahre lang wurden täglich acht bis zehn Stunden Ton- und Bildmaterial aufgenommen, insgesamt 90.000 Stunden, eine riesige Datenmenge. Er konnte so u.a. zusammenstellen, wie im Laufe eines halben Jahres aus ursprünglich »gaga« (kurz nach seinem ersten Geburtstag) schließlich die korrekte Lautfolge »water« wurde. Alle Vorkommnisse wurden eingefangen: »Gagagagaga Gaga gaga gaga guga guga guga wada gaga gaga guga gaga wadö guga guga uata wata wata wata wata wata water water water«.4

      Die ArtikulationArtikulation ist eine Aufgabe, die sich die Kinder selbst organisieren, besser, als es jeder Betreuer vermöchte. Jahrelang wird hier unablässig gelernt, aber wir haben das vergessen. Denn wenn wir erst einmal wissen, was wir mit welchen Wörtern sagen wollen, bilden sich diese in uns wie von selbst, und wir brauchen uns nicht mehr um sie bemühen. Wir zeigen im nächsten Kapitel, daß gerade das reifende, sich noch entwickelnde Gehirn optimal dafür geeignet ist, sich das hier zu Leistende in kleine Lernschritte aufzuteilen.

      Die ersten Wörter

      Manche Eltern betrachten es liebevoll als ersten Streich ihres kleinen Schelms, wenn Wa(u)wa(u) oder Auto klar vor Mama und Papa durchs Ziel gehen. DarwinsDarwin, Charles Sohn William (»Doddy«) produzierte mit zwölf Monaten als erstes Wort mum, wenn er etwas zu essen haben wollte; bei Hans wurden als erste Wörter mm und da, im Alter von 1;1, notiert:

      Denn so oft ein Wagen vorüberfährt, von dem er nur das Geräusch hört, ohne ihn zu sehen, meldet er ihn mit einem lang ausgehaltenen mm an, welche Beschäftigung er auch gerade treiben mag … Sein mm kann schwerlich als eine bloße Schallnachahmung angesehen werden, sondern soll offenbar so viel bedeuten als »Jetzt kommt ein Wagen« oder »Ich höre einen Wagen kommen« und ähnliches.1

      Etwa zur selben Zeit gebraucht er da und Varianten wie dat, dada, ded, de. Dies wurde in den folgenden Wochen die am meisten gehörte Lautfolge; denn jede Wahrnehmung des Kindes und jeder Gegenstand, der sein Interesse erregte, wurde mit einem da oder dat bezeichnet. Gemeinhin kommt auch »nein« sehr früh, ist es doch für Kleinkinder viel wichtiger als »ja«!

      Gegenbeispiele: »Erst kurz vor Weihnachten kommen die ersten Worte und zwar sonderbarerweise ›Wust‹ (=Wurst) und ›Bod‹ (=Brot). Papa und Mama folgen erst nach einiger Zeit«, schreibt Katja Mann über ihren achtzehn Monate alten Golo.2 Ein Vater hat bei seiner Tochter als erstes ein Wort notiert, das eigentlich aus zwei besteht: i(ch) au(ch)! Sie hatte zwei ältere Brüder und mußte sich ihnen gegenüber behaupten. Tabea gebrauchte ihr erstes Wort um ihren ersten Geburtstag herum. Ihr Vater hatte sie unter die Arme gefaßt, läuft mit ihr durch die Wohnung und dirigiert dabei ihre Beine so, daß sie einen Ball kickt. Dabei macht er einen Mordsspektakel: »Da kommt die Flanke von rechts, sie müßte schießen, schießt auch, Tor, Tooor!« Und die Erregung teilt sich dem Kind mit, sie fällt mit ihrem dünnen Stimmchen ein: Tor! War das nun das erste Wort? Klar, denn am nächsten Morgen kommt sie ins Zimmer, sieht den Ball und artikuliert noch einmal erkennbar: Tor! Das hat schon etwas wie Bedeutung, ist eine Verknüpfung von Silbe und Situation und eine Verschmelzung von Gegenstand und Handlung, ein »AktionsdingAktionsding«.

      Manchmal folgt eine Pause von mehreren Monaten, in der die Kinder nur mit einem Wort (und seinen Lautvarianten) operieren, bis sie dem ersten ein neues hinzufügen und weitere Einwortsätze äußern. Sie lassen es hier also langsam angehen. Diese Phase der Einwortsätze dauert dann im Durchschnitt ein halbes Jahr; die Schwankungsbreite liegt zwischen vier Monaten und einem ganzen Jahr. Es gibt Kinder mit normaler Sprachentwicklung, die schon als Einjährige oder sogar kurz davor ihr erstes Wort äußern, und solche, die erst gegen Ende des zweiten Lebensjahres anfangen, dann aber schnell vorankommen. Die Spannbreite dessen, was als ganz normal gelten muß, ist groß, sowohl was den Sprechbeginn als auch Entwicklungstempo und -verlauf (große Sprünge, kleine Schritte…) angeht. Es kommt auch vor, daß einige Erstlingswörter zeitweilig wieder aufgegeben werden, wenn Kinder etwa das zuvor erworbene Mama fallen lassen und Papa für beide Eltern verwenden.3 Schließlich gibt es eher »geschwätzige« Kinder, die schon bald lange, dafür aber oft kaum verständliche Äußerungen tun, und wortkarge, die sich anfangs mit wenigen, gut erkennbaren Silben begnügen.

      Natürlich verstehen die Kinder immer schon viel mehr, als sie sagen können. »Lukas, ich glaube, du brauchst jetzt ’ne frische Buxe«, sagt die Mutter des 17 Monate alten Knaben. Obwohl dieser noch keines der in diesem Satz enthaltenen Wörter spricht, läuft er spornstreichs zum Wickeltisch, rückt das Stühlchen heran, um auf den Tisch zu klettern, wo ihm die Windeln gewechselt werden. Als LindnersLindner, Gustav Sohn mit mm und da anfing, erstreckte sich sein Sprachverständnis schon auf eine ganze Reihe von Formen wie Geh, komm, steh auf, horch, riech mal, gib, sprich, sag, wie schmeckt’s, wo ist das?

      Die ersten Bedeutungen

      Einige Wörter stehen als Globalwörter für eine ganze Situation:

aua: kann alles bedeuten, was mit Schmerz zu tun hat, was weh tut oder womit man sich weh tun kann, wie Nadel oder Schere.
lecker/mhm: ist lecker, schmeckt gut, hab Hunger, hab Durst; mein Essen.

      Kinder verfallen auf wirkungsvolle Kürzel:

mit: ich will mitgehen, mitspielen, mitfahren …
mal: ich will das noch mal, noch etwas essen, noch mal streicheln …

      Viele Kinder drücken diesen Wunsch statt mit mal mit mehr aus; Gisa verfiel auf das Wörtchen ein, das sie wohl aus Äußerungen wie »Noch ein Löffelchen, ein Löffelchen für Papa, ein Löffelchen für Mama« ableitete. Der Zufall spielt mit!

      Andere Wörter orientieren sich in ihrer weiträumigen Bedeutung an einem bestimmten Merkmal, etwa wenn Ball alles einschließt, was rund ist. Für die zweisprachige Olivia sind alle Männer papá, alle Kinder, auch Achtjährige, bébé. So werden anfangs etwa ein Viertel der Wörter in einem größeren Bedeutungsumfang gebraucht, als ihnen zukommt. Auto kann z.B. auch für Motorrad, Fahrrad, Laster, Flugzeug und Hubschrauber gebraucht werden. Merkmale, nach denen die Kinder die Bedeutung gruppieren, sind vor allem die Form, wie bei Ball, aber auch die Größe, der Schall, die Bewegungsart wie beim Wort Auto, der Geschmack, die Textur. »Mit machen kann?« war eine Zeitlang eine Standardfrage von Gisa. Wichtig ist also noch ein anderes Merkmal, der funktionale Aspekt eines neuen Gegenstands, nicht nur, was das Ding tut (wauwau, muh), sondern was man selbst damit tun kann: etwas zum Rollen, zum Beißen, zum Streicheln usw. Georg hieß der Bauer gegenüber, der meist auf dem Traktor saß, und bald hieß jeder Traktor, Bagger und Erdschieber »Georg«: auch solche Verschiebungen wie hier vom Menschen auf die Maschine oder auch vom Teil aufs Ganze und umgekehrt kommen vor. Elemente, die in Raum und Zeit zusammen vorkommen und eine Erlebniseinheit gebildet haben, können füreinander eintreten. So beginnt der sprachliche Erkennungs- und OrdnungsdienstSprachesprachlicher Ordnungsdienst.1

      Einige Beispiele von verschiedenen Kindern:

ohm (oben): nach oben, aber auch nach unten; Treppe rauf oder runter
piepiep: beim Anblick von Vögeln; dann auch Insekten
baba: wenn Bubi aufs Töpfchen geht, schmutzig, unsauber; dann auch unordentlich und unartig
huh, huch: zuerst Schaudern bei Kälte; dann auch heiß; endlich alles Unheimliche, z.B. das dunkle Zimmer; ähnlich bedeutet
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