Wie Kinder sprechen lernen. Wolfgang Butzkamm

Wie Kinder sprechen lernen - Wolfgang Butzkamm


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hinter dem ein Wille, eine Intention steht.

      Indem aber schon ein Anzeichen als Dialogbeitrag bestätigt wird, entsteht eine Zweieinigkeit im Wechsel, und Kinder lernen, noch bevor sie ein Wort sagen können, wozu Sprache eigentlich da ist: ein Stück des eigenen in ein fremdes Bewußtsein einpflanzen. Es lernt auch schon »antworten«, es genügt gewissermaßen seiner Antwortpflicht. Später erst merkt es, daß man noch mehr tun muß, weil in einer Frage noch mehr steckt, als es bisher in seiner Antwort zurückgegeben hat.

      Noch vor wenigen Jahrzehnten galt die Aufmerksamkeit der Forscher ganz dem Kinde, dessen Äußerungen sorgfältig in Tagebüchern notiert wurden. Man betrieb »Kindersprachforschung« und übersah dabei den Part, den die Eltern spielten. Beim Studium moderner Tonband- und Videoaufnahmen, die das Gesamtereignis festhalten, war die Mitwirkung der Eltern jedoch nicht mehr zu übersehen.

      Am auffälligsten ist, daß die Mutter in das Konzert des Kindes einstimmt und seine Lautgebilde nachahmt, bevor das Kind seinerseits die Mutter nachahmt. Dabei

       versetzt sie sich in die Gefühlslage des Babys, d.h. sie reagiert jeweils anders auf Äußerungen des Wohlbehagens und des Mißbehagens,

       zeigt sie ihm, wie man gemeinsam etwas (mit der Stimme) tut,

       bestärkt sie das Kind in seinen Vokalisationen,

       gibt sie ihm Vergleichsmöglichkeiten des Hörens, liefert also akustische Modelle,

       zeigt sie ihm zugleich, wie das aussieht; z.B. was man mit den Lippen macht, ob man sie schließt, ganz wenig oder weit öffnet, rundet oder spreizt.

      Voraussetzung für gelingende vorsprachliche Kommunikation ist somit das seelische Einsseinseelisches Einssein von Mutter und Kind, die intime seelische Symbiose, die bei der stillenden Mutter auch eine körperliche ist. Eltern spiegeln dem Kind bis in feine Nuancen hinein seine eigenen Stimmungen wider. Wie genau sich die Eltern dabei auf die Lallgebilde ihrer Säuglinge einstimmen und sie dabei fortentwickeln, haben erst neueste Forschungsmethoden zutage gebracht, die sich Videotechnik (Wiederholung in Zeitlupe), Sonagramme und akustische Analyseprogramme, d.h. Computeranalysen von Grundfrequenz, Intensität und Zeitstruktur, zunutze machen. Mit solchen Instrumentarien haben die Münchner Pädiater und Kindersprachforscher Mechthild und Hanus PapousekPapousek, Mechthild und Hanus u.a. interaktive Lautspielchen beschrieben, in denen die Eltern signalisieren: Jetzt bin ich dran und jetzt bist du dran. Sie haben auch die Asymmetrie in der Steuerung der frühen Dialoge hervorgehoben.1

      Wie sehr unsere Babys auf die gemeinsamen Lautspielchen eingestellt sind, zeigt eindrucksvoll das sog. »still face« Experimentstill face-Experiment des amerikanischen Entwicklungspsychologen E. Tronick, das wie folgt abläuft: Das Einjährige sitzt der Mutter in einem Kindersitz gegenüber. Die beiden »unterhalten« sich stimmlich, mimisch, gestisch. Dann wendet sich die Mutter kurz ab. Wenn sie sich danach dem Baby wieder zuwendet, schaut sie das Baby ruhig an, bleibt aber völlig still, ausdrucks- und bewegungslos. Das Baby versucht sofort, die Mutter wieder ins »Gespräch« zu ziehen, lächelt sie an, zeigt auf etwas: »da«; doch die Mutter guckt nicht hin (Was ist denn da los?). Es klatscht in die Hände, kreischt kurz auf, versucht dann der Situation zu entkommen, indem es sich wegwendet, blickt dann wieder zurück und fängt schließlich an zu schreien, verstört und frustriert. Bis die Mutter endlich wieder mitmacht und seine Welt wieder in Ordnung ist.2

      Eltern machen also weit mehr als ein Sprachangebot. Gelernt wird der Dialog, wie man sich dabei abwechselt: daß erst der eine das Wort (genauer: die Stimme) führt, dann der andere; daß man sich möglichst nicht ins Wort oder in die Stimme fällt; daß und wie man sich darüber abstimmt, ob man weitermacht oder Schluß macht. Das alles hört sich so einfach an und ist doch komplizierter, als man denkt. Es kommt natürlich ebenso vor, daß beide vor freudiger Erregung gemeinsam babbeln, gewissermaßen im Duett vokalisieren. Das Baby lernt schnell, seinen Part richtig mitzuspielen, und wird seinerseits initiativ. Das Animieren, das frühe Andichten oder Suggerieren einer AbsichtAbsicht, Redeabsicht, Sprechintention, das gezielte Abwarten einer Antwort, die prompte Reaktion (wegen der kurzen Aufmerksamkeitsspanne des Säuglings sehr wichtig) und die Einübung des Wechselns gehen jedoch anfangs von den Eltern aus.

      Einstimmung, Übereinstimmung und Wechselseitigkeit

      Dies ist der Trieb zum Mitgefühl und zur Nachahmung. O eine treffliche Einrichtung unserer geistigen Natur, die das erste Erziehungsgeschäft für wirklich gute Eltern so leicht, so simpel macht!

      (Joachim Heinrich CampeCampe, Joachim Heinrich 1785)

      Das Verständniß war da vor der Mittheilung.

      (Hermann Steinthal 1881)

      Menschliches Leben, auch schon tierisches, ist ausdrucksvoll: Es teilt sich mit. Der Urgrund allen Verstehens ist genetisch vorgegeben. Es sind Gefühle wie Freude, Wut und Ärger, Ekel und Abscheu, Traurigkeit, Angst, Überraschung und die damit verbundenen Ausdrucksbewegungen wie Lächeln oder Weinen. Wir haben sie mit allen Menschen gemeinsam, so auch die Mutter mit ihrem Kind: den Ausdruck der Augen, die Mimik der Brauen, der Lider, der Nase, des Mundes. Am Ausgangspunkt herrscht eine Art »prästabilierter Harmonie«. Bestimmte Sprechmelodien wie ein tröstender, beruhigender Ton sind für den Säugling keine Geräusche unter vielen anderen, sondern werden von Anfang an gefühlsmäßig richtig verstanden, brauchen also nicht erst erlernt werden.1 Ursprüngliches Sprechen heißt Übereinstimmen, nicht: Sich-Auseinandersetzen. Noch vor dem Verständnis der Laute und Worte versteht das Baby unmittelbar den emotionalen Grundton, vernimmt die liebevolle Zuwendung der Mutter im Zugesprochenen. Es ist die emotionale Aufladung der Wörter, die das Kind zuerst vernimmt und aufhorchen lässt.

      So erlernen wir das Sprechen unter starker Beteiligung der Affekte. Die Mutter versucht nämlich, die »Seelensituationseelisches Einssein« (wie es MauthnerMauthner, Fritz so eindrucksvoll formulierte) für sich und ihr Kind gemeinschaftlich zu machen. Das Baby erfährt den liebevollen Zuspruch von jemandem, der zurück geliebt werden will. Die gemeinsame »Seelensituation« im BlickkontaktBlickkontakt, dreieiniger (referentieller) ist das erste Moment; gemeinsame Aufmerksamkeit das zweite. Der Mutter gelingt es, den flüchtigen Blick des Säuglings zu halten. Bei den RoutinenRoutinen des Wickelns, Waschens und Anziehens usw. merkt sie, wie sehr das Kind bei der Sache ist, und versucht, es bei der Stange zu halten, seinen Blick zu führen und Szenen der gemeinsamen Aufmerksamkeit zu gestalten. Wo schaut es hin? Ah, der Vorhang bauscht sich im Sommerwind. Es schaut nach oben: Na klar, die Sonne malt Muster vom bewegten Wasser der Badewanne an die Decke. Die Mutter spricht dabei und bereitet eine wesentliche Funktion des Sprechens vor: die Kunst der wechselseitigen Bewußtseinssteuerung, die Herstellung von Intersubjektivität. Lateinisch communicatio ist wörtlich das Gemeinsam-Machen des Neuen.

      Alledem liegt die große NachahmungskunstNachahmung des Menschen zugrunde, die sich schon bei wenige Tage alten Babys zeigt. Sie können offenbar mimische Gesten wie einen O-Mund, einen E-Mund, A-Mund, Zunge-Herausstrecken, Augenblinzeln, Kopfbewegungen, Stirnrunzeln, Fingerbewegungen imitieren. Sie können also visuelle Muster in motorische überführen.2

      Was kann sich daraus entwickeln? Beispiel: Die Mutter streckt dem Baby die Zunge heraus und wird nachgemacht. Daraus kann ein Spiel der Wechselseitigkeit entstehen. Unterbricht die Mutter das Spiel, kann das Kind die Initiative übernehmen. Es dirigiert auf diese Weise seine Mutter und freut sich über den Erfolg. Wenn also Eltern auf bestimmte kindliche Signale regelmäßig eine bestimmte Antwort geben, hat es das Kind in der Hand, diese Antwort auszulösen, indem es sein Signal gibt oder nicht: Es erfährt, wie man durch eigenes Handeln sein Gegenüber beeinflussen kann.

      Nachahmen ist also ein Stück Kommunikation. Wir signalisieren:

       Ich bin aufmerksam.

       Ich achte auf das, was du tust.

       Ich zeige dir, wie ich dich verstanden habe.

      Verstandenwerden ist gleich Angenommenwerden. Die Mutter spricht das Kind an. Das Kind brabbelt los. Die Mutter wertet dies als gültige Antwort. Somit reagiert das Baby »kontingent« – situations- und partnerbezogen, aber doch prinzipiell offen, so oder auch anders.


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