Wie Kinder sprechen lernen. Wolfgang Butzkamm
Kinder aller Altersstufen sollten um ihre Eltern werben. Davon profitieren beide Parteien.6
Yehudi Menuhin erinnert sich:
Später, in der Steiner Street, hörte ich ihn (=den Vater) manchmal, wenn ich in meinem Bett im Gartenhaus lag, der Mutter aus den Werken Scholem Alejchems vorlesen, und oft drang Gelächter zu mir herüber. Für mich waren es Augenblicke großen Glücks; sie bedeuteten die vollkommene häusliche Eintracht.7
Ehepaare, die besonders verständnisvoll miteinander umgehen, so bestätigt uns die amerikanische Forschung, sind zugleich diejenigen, die ihren Kindern im Auf und Ab der Gefühle am besten helfen.8
Ungleiche Partner und unfreiwilliges Verstummen
Es ist auch niemand sein eigner Lehrer im Sprechen.
(Johann Conrad AmmanAmman, Johann Conrad, 1692)
Spracherwerb ist Gemeinschaftsarbeit. Jeder Spracherwerb ist zugleich Sprachvermittlung. So gesehen können auch Lehrer, die in den Schulen unter ganz anderen Bedingungen eine Muttersprache, Zweit- oder Fremdsprache vermitteln, von der Art und Weise lernen, wie die Natur Unterricht quasi inszeniert. Ausgangspunkt ist das Einverständnis der Beteiligten.
Wie ungleich sind doch die Partner in diesem Spiel! Die einen kennen sich in der Welt aus, der andere muß sie sich noch erobern. Die einen haben die Sprache, der andere hat sie nicht. Sprache will Schritt für Schritt, ja Laut für Laut gewonnen werden. Dabei ist dem Neugeborenen nicht einmal gezielte Gestik möglich. So müssen die Eltern die Führungsrolle übernehmen und Einvernehmen herstellen. Sie tun das auf eine Weise, deren Raffinement ihnen zumeist gar nicht bewußt wird. Mit welcher Freude, mit welchem Stolz registrieren Eltern selbst kleinste Entwicklungsschritte ihrer Sprößlinge!
Umso schlimmer, wenn Eltern sterben oder auch sonst kein Einverständnis da ist. Manchem hat es gar die Sprache verschlagen (Fachjargon: elektiver oder selektiver MutismusMutismus, das Erstummen nach Erwerb der Sprache bei Intaktheit der Sprachorgane). Die Mutter des amerikanischen Schriftstellers Harold BrodkeyBrodkey, Harold (Die flüchtige Seele) starb, und der trinkende Vater verkaufte das Kind regelrecht für 350 Dollar an Verwandte, die ihn adoptierten:
Als meine Mutter starb, war ich zwei Jahre alt. Das Trauma dieses Verlustes war so stark, daß ich nicht mehr das Englisch meiner Mutter sprechen konnte – ich verstummte, sagte zwei Jahre kein Wort mehr.1
Nichts vermag die Macht der Affekte über die Sprache besser zu verdeutlichen als dieses plötzliche Verstummen. Kinder, die sprechen können, sprechen plötzlich nicht mehr!
Extremfälle sind lehrreich. Sie zeigen uns, wie wenig wir im Grunde über die sprachliche Verfaßtheit des Menschen wissen und wie sensibel wir als Kommunikationspartner sein sollten.
Ein Therapeut schreibt ein Buch über seine Arbeit mit Laura. Laura wird von ihren Eltern, unzurechnungsfähigen Alkoholikern, aufs Blut gepeinigt und entrinnt knapp dem Tode, als sie mit eineinhalb Jahren mit schwersten Verbrennungen ins Krankenhaus eingeliefert wird. Von dort kommt sie ins Kinderheim und spricht zwölf Jahre lang kein Wort, bleibt stumm und teilnahmslos. (Kommen wir aber deshalb nicht auf die Idee, daß ein solches Trauma Ursache für Mutismus sein muß!) Später führt der Autor mit ihr eine Therapie durch: er spricht wie gegen eine Wand, hält fast drei Jahre lang wöchentliche Monologe vor ihr. Sie liefert ihm nicht die geringsten Angriffspunkte für eine gezielte Therapie. Die Schwestern im Heim behaupten aber, daß Laura Sprache verstehe.
Dann stellen sich erste Erfolge ein: Sie nimmt ein Stück Schokolade an. Oder: der Therapeut möbliert ein Puppenhaus vor ihren Augen, und plötzlich reagiert sie, greift hinein und stellt die Möbel um, wie sie es haben will. Und so schmilzt ganz langsam der Eispanzer, der sie umgibt. Dabei wird immer klarer: Laura kann im Grunde sprechen (das jedoch hatte der Therapeut bislang ja nie erlebt), aber auch wenn sie möchte, scheint sie zum Zuschauen verdammt, braucht unendlich viel Liebe und Geduld. Die Sprache ist ein Hauptmittel für uns, die Welt vernünftig zu erfassen, und ein Kind benennt die Dinge aus Liebe, erklärt der sie behandelnde Therapeut, der ihr schließlich die Zunge löst.2
Ich bin, weil du bist
Das Kind lernt, ein Gespräch zu führen – lange, bevor es sprechen kann. Das ist viel mehr, als zu wissen, wie man sich dabei abwechselt, wann wer an der Reihe ist. Das Kind entdeckt sich als ein in eine Partnerschaft und Gemeinschaft eingebundenes Wesen. Es beginnt, sich selbst als ein »Ich« zu verstehen und das »Du« als ein anderes »Ich«, das ebenso fühlen kann und mit dem man eins werden kann. Es beginnt, erste soziale Signale zu lesen.
Was das bedeutet, wird einem erschreckend klar, wenn man auf autistischeAutismus Kinder trifft, denen diese grundlegenden kommunikativ-emotionalen Fähigkeiten weitgehend fehlen. Ihr Blick geht durch einen hindurch. Hat man ihren Blick doch einmal gefunden, kann man ihn nicht halten. Sofort schweifen die Augen wieder ab. Auch wenn sie sprechen können, bleiben Ansprechversuche oft ohne Reaktion. Anreden oder Fragen werden einfach überhört. Es ist, als ob man als Partner nicht existiere. Auch die jahrelang schweigende Laura war, solange sie schwieg, für ihren Partner kein soziales Wesen, das im anderen den Mitmenschen sah und suchte. Sie muß todunglücklich gewesen sein.
Dank der Führungskunst der Eltern lernen wir aber nicht nur, wie man mit anderen spricht und sie versteht. Wir neigen auch dazu, die Art und Weise ihres Umgangs mit uns auf uns selbst zu übertragen. Reden sie uns gütig und verständnisvoll zu, fällt es uns leicht, uns selbst zu lieben. Bauen sie auf den sanften Zwang des besseren Arguments, statt uns nur herrisch in die Pflicht zu nehmen, lassen wir auch im Umgang mit uns selbst Vernunftgründe gelten. Geben sie uns die Möglichkeit, zu sagen, was wir empfinden, können wir uns über die eigenen Befindlichkeiten klar werden und die anderer mitbedenken. Die Kommunikationsmuster der frühen Kindheit legen Grundlagen für die Weise, wie wir mit uns selbst ins Gespräch kommen und dabei Entscheidungen treffen. Wir verlegen die Zwiegespräche auf eine innere Bühne und lernen somit, uns selbst zu finden oder zu verfehlen.
»Der Mensch wird am Du zum Ich«, lautet ein berühmtes Wort von Martin BuberBuber, Martin. So kommen wir wohl nur über die Bilder, die die anderen uns liefern, zu uns selbst. An ihren Reaktionen und Gefühlen gelingt es uns, die eigenen zu verstehen. Später kehrt sich das Verhältnis um. Wir lernen von uns auf andere zu schließen und verstehen ihre Eifersucht, weil wir sie schon in uns selbst gespürt haben.
Kommunikative und sprachliche IntelligenzIntelligenz, IQ-Test
Nach GardnerGardner, Howard umfaßt das Spektrum der Intelligenzen die sprachliche (1), die musikalische (2) und die logisch mathematische (3). Dazu kommen die räumliche, wie sie etwa Architekten oder auch Schachspielern zu eigen ist (4), und die Bewegungsintelligenz und Körperbeherrschung (5). Zu seinen sieben separaten Begabungsfeldern zählt Gardner noch die schon genannte soziale oder kommunikative Intelligenz (6) und die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis (7) und faßt sie als personale (intra- und interpersonale) Intelligenz zusammen. Insgesamt ein Sortiment, das man noch unterteilen, aber auch erweitern könnte. Wie wäre es beispielsweise mit der (8) handwerklichen Intelligenz, dem gekonnten Zusammenspiel von Handfertigkeit, Materialgefühl und Kombinationsfähigkeit?
Interessanterweise ist also die soziale oder kommunikative Intelligenz von der sprachlichen geschieden. Auf andere Menschen eingehen und mit ihnen umgehen zu können, die Kunst des Miteinander, erfordert zwar oft erhebliches sprachliches Geschick, ist aber im Kern etwas anderes als eine besondere Begabung für Sprache, wie sie etwa bei Schriftstellern und anderen Wortkünstlern sichtbar wird. Soziale Intelligenz findet sich auch bei gesellig lebenden Tieren. In der Gruppe muß man mit anderen Individuen der eigenen Art auskommen, deren Handeln vorhersagen, ihre Wünsche, Stimmungen oder Ziele erraten können, einen passenden Sexualpartner finden, den Nachwuchs erziehen, einweisen, trainieren. Schimpansen haben so etwas wie Schimpansenkenntnis und Menschen Menschenkenntnis – und zwar in individuell sehr unterschiedlichen Graden. Menschen wie auch Schimpansen können sich vorstellen, was andere vielleicht fühlen und wie sie reagieren werden. Erkenne die anderen, und du lernst dich selbst besser verstehen. Dann auch umgekehrt. Erkenne dich selbst, und du verstehst auch die anderen. Jeder Monolog, jedes Gespräch mit sich selbst ist Fortführung