Wie Kinder sprechen lernen. Wolfgang Butzkamm
Die Sozialisierungsphase (8.–12. Woche) hat begonnen.1 So kommen auch beim Kind Verbote erst später, wenn es Sprache verstehen, mitdenken und in Ansätzen vernünftig sein kann. Der weinende Säugling aber ist in Not. Vielleicht braucht er nur die Anwesenheitsbestätigung seiner Mutter. Aber er braucht sie, wenn sich nicht die Angst des Verlassenseins einstellen soll. Die Mutter ist für ihren Säugling nicht anwesend, wenn sie ruhig im Nebenzimmer sitzen bleibt. Diese Vorstellung von Anwesenheit ist ihm noch nicht möglich. Er muß erst lernen, daß die Mutter noch da ist, auch wenn sie außer Sichtweite ist, genauso wie er erst langsam begreift, daß es den Ball noch gibt, wenn er unter den Schrank gerollt ist (im Fachjargon: der Säugling hat noch keine Vorstellung von der Objekt-PermanenzObjekt-Permanenz und Person-PermanenzPerson-Permanenz). Wie einsam kann er in seinem schicken Kinderzimmer sein, wenn ihn die Eltern, oft von den besten Absichten geleitet, dort kräftig schreien lassen! Erklärt wird die extreme seelische Verwundbarkeit des Säuglings mit der Tatsache, daß der Mensch im Vergleich mit verwandten Säugetieren zu früh auf die Welt kommt. Er braucht dann noch eine Zeitlang den sozialen Uterus der Familie, um möglichst vollkommene Geborgenheit zu erfahren. Die Schonfrist muß allerdings langsam auslaufen, schon weil das Kind immer beweglicher und selbständiger wird und damit auch in Gefahren kommt, vor denen es nachdrücklich – vielleicht auch mal mit einem leichten Klaps – gewarnt werden muß.
Es ist aber ein unsinniger Gedanke, ein Säugling könne es darauf anlegen, seine Eltern zu tyrannisieren. Man muß das Kind nicht dazu erziehen, allein bleiben zu können und es in die Unabhängigkeit drängen. Das in emotionaler Geborgenheit aufwachsende Kind lernt das von selbst, ergreift selbst die Initiative. So macht es sich auf dem Spielplatz selbst los von der Mutter, braucht aber noch ihre Nähe und läuft in regelmäßigen Abständen zu ihr zurück.
Typisch auch die Begebenheit, die die Eltern ScupinScupin, Ernst und Gertrud von ihrem dreijährigen Bubi berichten:
Drollig ist des Knaben Verhalten dem kleinen Schwein gegenüber, er fürchtet sich wohl etwas vor ihm, besonders, wenn es ihn mit dem Rüssel betastet und täppisch-wild auf ihn zugaloppiert kommt; das Tier läuft oft auf der Wiese vor dem Hause frei herum. Mutig wird Bubi erst dann, wenn ein Erwachsener in der Nähe ist. Fühlt er sich durch uns im Rücken gesichert, so tritt er beinahe energisch einen Schritt vor und schilt nun auf das Schweinchen: Du unartses Schweindel, gehste hier weg, Du, ich hau Dich, Du bist so smutzig, alter Nuck! Macht nun aber das Tier eine plötzliche Bewegung nach ihm hin, so verschwindet Bubi eiligst hinter uns.2
Die Keckheit ist schon da, macht sich verbal Luft, bedarf aber noch der Rückversicherung und bricht zusammen, wenn sich die Situation anders entwickelt als erwartet.
Was immer die Eltern tun, das Kind gestaltet seine Entwicklung aktiv mit. Schon der Embryo schafft sich weitgehend seine Entwicklungsbedingungen selbst. Er bildet die Plazenta, stellt damit die zur Fortführung der Schwangerschaft notwendigen Hormone her und löst hormonell den Geburtsvorgang aus, nicht die Mutter. Dabei zeigen Neugeborene bereits große individuelle Unterschiede. Sie kommen nicht als unbeschriebene Blätter zur Welt. Einige wechseln abrupt vom Schlafen zum Schreien, sind anfangs durch nichts zu beruhigen. Andere sind viel pflegeleichter, verlangen den Eltern viel weniger Kraft ab, sind in dieser Zeit viel liebenswerter. Einige sind schon in den ersten Wochen aufmerksamer als andere und verstärken so die Aufmerksamkeit, die ihnen die Eltern entgegenbringen. Es entstehen Wechselbeziehungen, die sowohl auf den individuellen Eigenschaften des Kindes wie der Eltern aufbauen. D.h. auch, daß Eltern nicht nur erziehen, sondern umgekehrt auch erzogen werden. Eltern, die von dem jeweils »schwierigeren« Kind genau das erwarten, was das Geschwisterkind freiwillig zu geben bereit war, lernen um. Menschen unterscheiden sich auf allen Altersstufen stark – von Anfang an.
Geborgenheit befreit
Zweierlei hatten wir, das unsere Kindheit zu dem gemacht hat, was sie gewesen ist – Geborgenheit und Freiheit.
(Astrid LindgrenLindgren, Astrid)
Beobachten Sie Ihr Kind, wie es spontan und ohne Anleitung seine Welt auskundschaftet, wenn es sich behütet weiß. Der niederländische Verhaltensforscher und Nobelpreisträger Nico TinbergenTinbergen, Nico erzählt, wie ein einjähriger Junge über eine Sanddüne kriecht: Tante und Großmutter sind in Sichtweite. Auf der Sanddüne wachsen Wegerich, vereinzelt auch Disteln. Nachdem er schon über einzelne Wegerichpflanzen hinweggekrochen ist, ohne ihnen Aufmerksamkeit zu schenken, stößt er mit dem nackten Füßchen an eine Distel. Er zuckt leicht zusammen, kriecht aber erst etwas weiter, hält dann an und schaut zurück. Probierend fährt er mit dem Fuß noch einmal über die Distel, um sie sich schließlich genau anzuschauen. Er berührt sie mit der Hand und macht dann, was Tinbergen »das perfekte Kontrollexperiment« nennt: kriecht zu einem Wegerich, fährt ebenfalls mit dem Händchen darüber und prüft die Distel jetzt noch einmal. Erst danach setzt er seine Reise über die Düne fort.1
Eines Morgens erklärte uns Gisa, sie gehe nun auf Besuch, und machte, ungebeten, ihre Runde bei den Nachbarsfrauen, egal, ob es da Spielgenossen gab oder nicht. Geborgenheit befreit. Wer sich im Schutz der Familie aufgehoben weiß, ist schneller selbständig und bereit, es mit der Welt aufzunehmen und Erfahrungen zu sammeln. Eine Gruppe von Babys im Alter von sechs bis vierzehn Wochen wurde beim freien Spiel in der Gegenwart ihrer Mütter beobachtet. Dabei wurde festgehalten, wie oft und wie lange sie jeweils den Blickkontakt mit ihrer Mutter suchten. Es gab »Viel-Schauer«, die also immer wieder die BindungBindung, personale B. zur Mutter suchten und fanden, »Wenig-Schauer« und »Blickvermeider«. Dieselben Kinder wurden zwei Jahre später noch einmal gefilmt, wie sie sich an einem neuen, dafür extra konstruierten Spielzeug zu schaffen machten, an dem es viel auszuprobieren gab. Bei den Viel-Schauern, die schon früh und intensiv Bindung gesucht und gefunden hatten, war die Bereitschaft, den neuen Gegenstand zu begucken, zu betasten und auszukundschaften – mit anderen Worten: die Lernbereitschaft – am stärksten ausgeprägt! Das Kleinkind muss zwei Bedürfnisse, die miteinander in Widerstreit geraten können, austarieren: das Bedürfnis nach Sicherheit and das Verlangen, Neues zu unternehmen und hinzuzulernen.
Freuen Sie sich also, wenn Ihr Krabbelkind alle Schubladen ausräumt, an die es herankommt. Es folgt einem Lerntrieb, durch den es später auch die Sprache meistern wird. Und es wagt sich nur an das Unbekannte heran, weil es sich bei Ihnen behütet fühlt, weil es ihm momentan gut geht. Ist es hungrig, müde, ängstlich oder gar krank, dann sucht es Trost und klammert sich an die Mutter. Das ExplorierenExplorieren – und damit das Lernen – hört schlagartig auf. Hier zeigen sich schon früh Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Mädchen waren gegenüber neuen Spielsachen zurückhaltender, Jungen erkundeten länger, wagten sich weiter weg, riskierten einfach mehr, weinten aber auch häufiger und heftiger, wenn etwas schiefging und ihre Sicherheit zusammenbrach.2
»Der sich entwickelnde Mensch braucht nicht motiviert zu werden«, schreibt Leo Montada, Mitherausgeber des führenden Lehrbuchs zur Entwicklungspsychologie, »seine Erkenntnismöglichkeiten drängen nach Erprobung und Anwendung. Ein Kleinkind, das gerade werfen gelernt hat, wirft, was immer ihm in die Hände kommt.«
Nur Menschen ist es zugedacht, diesen Zauber des Anfangs durch die Zeit zu retten – bis ins Alter hinein.
Was Babys uns lehren
Kinder brauchen die Nestwärme einer beständigen Kleingruppe. Zu dieser Nestwärme gehört die Vertrautheit, die durch fortwährende Kommunikation von der Stunde der Geburt an entsteht und in die – zunächst nur auf Seiten der Eltern – Sprache untrennbar verwoben ist.
Der Bettelmönch und Geschichtsschreiber Salimbene von ParmaSalimbene von Parma berichtet über ein Experiment seines Kaisers, des Hohenstaufen Friedrich II.Friedrich II (der Staufer):
Und deshalb befahl er den Ammen und Pflegerinnen, sie sollten den Kindern Milch geben, daß sie an den Brüsten saugen möchten, sie baden und waschen, aber in keiner Weise mit ihnen schön tun und zu ihnen sprechen. Er wollte nämlich erforschen, ob sie die hebräische Sprache sprächen, als die älteste, oder griechisch oder latein oder arabisch, oder aber die Sprache ihrer Eltern, die sie geboren hatten. Aber er mühte sich vergebens, weil die Knaben und (andern) Kinder alle starben. Denn sie vermöchten nicht zu leben ohne das Händepatschen und das fröhliche Gesichterschneiden