Wie Kinder sprechen lernen. Wolfgang Butzkamm

Wie Kinder sprechen lernen - Wolfgang Butzkamm


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auf kaiserliches Geheiß gewiß gut umsorgten Babys starben, wie Salimbene wohl richtig vermutet, weil es ihnen an liebevollem Zuspruch fehlte. Seelische Leiden – so wissen wir heute – können das Immunsystem schwächen, und auf diese Weise könnten die Kinder für allerlei Infektionen anfällig geworden sein. So zeigen uns die Kleinkinder, was wir auch später noch brauchen, wenn wir an Körper und Psyche gesund bleiben wollen. Wir brauchen Beständigkeit. Häufiger Wechsel kann uns auf die Dauer nicht zufriedenstellen. Wir brauchen einige wenige, aber echte Freunde. In der Not sorgen wir für sie und sie für uns. Unmittelbarer Ausdruck solcher Freundschaft und Fürsorge ist – ähnlich wie beim Baby – der Körperkontakt: Händedruck und Umarmungen, aus Freude oder um zu trösten. Erst die Geborgenheit der Kleingruppe macht weitere wechselnde Kontakte, die auch der geistigen Erneuerung dienen, lohnend und sinnvoll.

      Nach BowlbyBowlby, John, dem Londoner Kinderarzt und Senior der Bindungsforschung, sind enge BindungenBindung, personale B. an andere Menschen der Angelpunkt unseres Lebens bis ins Greisenalter.2 Aus ihnen gewinnen wir die Stärke, das Leben zu meistern und zu genießen.

      Harry und Margaret HarlowHarlow, Harry und Margaret unterscheiden fünf Arten von Liebe bei Affen und Menschen: die Liebe der Mutter zum Kind (1), die Anhänglichkeit des Kindes an die Mutter (2), die Zuneigung des Vaters zum Kind (3) und umgekehrt (4), und, nicht zu vergessen, die Freundschaft der Geschwister und Spielkumpane untereinander (5). Fehlt in der Kindheit eine von ihnen, so ist mit Entwicklungsstörungen zu rechnen.3

      Später ermöglichen diese frühen Liebeserfahrungen auch die geschlechtliche Liebe.4 In kulturvergleichendenKulturvergleich Untersuchungen hat sich herausgestellt, daß es vor allem auf die Responsivität der Mutter ankommt.5 Wenn wir geliebt werden, halten wir uns auch für wert, geliebt zu werden. Daraus fließt unser Selbstwertgefühl und die Sicherheit, die uns befähigt, die Welt zu erkunden.

      TrotzenTrotz ist natürlich

      Verena holt ihre Tochter bei der Tagesmutter ab. Statt wie immer freudig auf sie zuzulaufen, blickt sie kurz auf, sagt »nein« (eines ihrer ersten Wörter) und wendet sich wieder ihrer Beschäftigung zu. Nein – aus heiterem Himmel. Das schmerzt, braucht es aber nicht. Die 14 Monate alte Olivia ist einfach dabei, ihren eigenen Willen zu entdecken und probiert ihn aus: sie will eben jetzt noch nicht abgeholt werden. In diesem Alter beginnt das Kind sehr deutlich Wut und Ärger zu äußern, wenn es etwas nicht soll oder nicht bekommt, was es haben will. Aber Verbote müssen sein, und Regeln müssen eingehalten werden. Sie werden umso wichtiger, je selbständiger das Kind in die Welt ausgreifen und sich auch selbst in Gefahr bringen kann. Ziel jeder Erziehung muß sein, die Einhaltung von Regeln und Verboten einsichtig zu machen. Die folgenden Episoden vom 16 Monate alten Bubi zeigen, wie Sprache hier mitwirkt:

      Er hat eine besondere Vorliebe für Nippessachen, Blumentöpfe und Aquariengläser und versucht trotz vieler Verbote immer wieder danach zu greifen. Doch bewies er schon sehr niedlich, daß er das Verbot begriffen hat, indem er beim Vorbeigehen an den verbotenen Gegenständen die Hände fest an sein Kleid legte, den Kopf schüttelte und »nein, nein!« sagte, wobei er uns so recht verständig und brav ansah.

      Heute kratzte er die Mutter und schüttelte, als sie ihn zürnend ansah, schnell den Kopf und sagte: »Nein, nein!« Als wolle er dadurch seine Missetat zurücknehmen.

      Wird der Knabe wegen einer Unart gescholten, versucht er recht schlau unsere Aufmerksamkeit von sich abzulenken, indem er plötzlich auf etwas zeigt: »Da, tickta. Da, bau!«

      Hat man den Jungen durch einen leichten Schlag auf die Finger oder ein unfreundliches Wort oder durch Wegnahme eines als Spielzeug erwählten Gegenstandes beleidigt, so steht er erst mürrisch da, auf alle Fragen antwortet er nur finster: »nein!« Dann ignoriert er unsere Anwesenheit vollständig, tut, als wären wir Luft und beginnt allein für sich zu spielen; begegnen sich zufällig unsere Blicke mit denen des Knaben, so dreht er uns sofort den Rücken zu: »Nein!«1

      Die Blickvermeidung ist typisch. Hat er das Schmollen jemandem abgeguckt? Die Trotzszenen, die sich im dritten Lebensjahr häufen, sind wohl nur Kehrseite eines stärker werdenden Ichbewußtseins des Kindes, das sich aus der sicherheitsspendenden Einheit mit der Mutter gelöst hat. Wenn man weiß, was hier vor sich geht, wird man mehr Geduld und Gelassenheit aufbringen. Das Kind kann jetzt auch seinen eigenen Willen klar artikulieren: »Will aber« oder »Will nich« usw. Es weiß, was es will, und sieht sich durch die Eltern klar gehindert. Unterschwellig mag es sich dagegen wehren wollen, daß es gegen die Eltern einfach nicht ankann und ihnen auch sprachlich noch weit unterlegen ist, so daß es sich mit ihnen auf keinen Wortstreit einlassen kann. Also greift es zu anderen Mitteln. So mag man den Wutausbrüchen, so unangenehm sie sind, auch etwas Positives abgewinnen. Jedenfalls waren in Hildegard HetzersHetzer, Hildegard Beratungsstelle weit überdurchschnittlich viele jener Kinder, die sich später als unselbständig erwiesen und ständig an die Hilfe der Erwachsenen appellierten, solche, die sich nie in einer den Eltern erinnerlichen Weise trotzig gezeigt hatten.2

      Hören wir den Stoßseufzer einer genervten Mutter, die uns mitteilt, was sich während einer Wanderung in den Pyrenäen abspielt (zugleich ein schönes Beispiel dafür, wie beim Grammatiklernen Satzmuster ausgereizt werden):

Ici, c'est »veux pas!« en vacances dans les Pyrénées…
Hier herrscht das »will nicht!« In den Pyrenäen, in den Ferien, heißt es: Will nicht die Berge Will nicht laufen Will nicht in den Kinderwagen Will nicht den See Will nicht die Kühe Will nicht auf Papas Schultern Will nicht Mama Will nicht die Blumen Will nicht »Wie schön die Landschaft ist«.
Okay, das ist ja nur eine Minute der Wanderung als Beispiel, oder?
Nein, so geht’s den ganzen Tag und leider nicht nur in den Pyrenäen.

      Das Kind wird von den eigenen Affekten überwältigt und ist keinem Zuspruch zugänglich. Nachgeben wäre in den meisten Fällen falsch, noch törichter aber, den »Trotz« brechen zu wollen. Das Beste: sich mit Gelassenheit wappnen, dem eigenen Ärger so wenig wie möglich Raum geben und den Anfall vorübergehen lassen. Später, wenn die Erregung abgeklungen ist, sagen: »Ich hab dich trotzdem lieb«. Denn ganz bewußt wollen Kinder jetzt auch »lieb« sein. Sie buhlen um die Gunst der Erwachsenen. Das ist nach HansenHansen, Wilhelm die Kompensation der Trotzphase:

      Die Bewegtheit des Gefühlslebens während dieser Zeit zeigt sich auch in einem erhöhten Zärtlichkeitsbedürfnis des Kindes. Es sucht die Mutter mehr als sonst, will sie beim Zubettbringen lange bei sich behalten, schmiegt sich an und möchte liebgehalten werden.3

      Die schönste Trotzgeschichte, die uns erzählt wurde, leistete sich die dreijährige Jana. Sie beschloß nach einem Verweis durch die Mutter auszuziehen. Sie schulterte ihren Rucksack, in den sie sich eine Flasche Sprudel gepackt hatte, ließ sich aber dann schon auf der Einfahrt des Nachbarhauses nieder, wo sie allen, die es wissen wollten oder nicht, erzählte, daß sie ausziehe. Nach einer guten Stunde kam die Mutter auf sie zu und fragte sie, ob sie nicht doch zurückkommen wolle. Sie fühle sich sehr allein im Haus. Na gut, erklärte Jana und ging heim.

      Der Witz dabei ist, daß die Mutter dem Kind nicht das Unvernünftige seines Tuns klarmacht und damit sein Selbstwertgefühl schwächt, sondern dies sogar stärkt, indem sie auf ihre eigene Abhängigkeit hinweist. Die gefühlsmäßige Abhängigkeit von ihrem Kind ist ja ebenso real wie die emotionale und physische Abhängigkeit des Kindes von ihr.

      Nicht immer gelingt es Eltern, so gelassen zu reagieren; viel weniger noch, so phantasievoll wie in der folgenden Begebenheit, die Bernt von HeiselerHeiseler, Bernt von aus seiner Kindheit erzählt:

      Es war ein allverneinender Geist in mich gefahren, wie er ja nicht nur Kinder zuzeiten quält. Nichts war mir recht zu machen, ich widersetzte mich jedem freundschaftlichen Vorschlag zu einem Spiel oder Spaziergang. Das ging so lange, bis meine Mutter mich aufhorchen machte mit der Bemerkung, sie könne mich nicht mehr deutlich sehen, und den Vater herbeirief. Schon durch seine Anwesenheit – der


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