Stil und Text. Michael Hoffmann

Stil und Text - Michael Hoffmann


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gestaltbildend in Betracht kommen. Doch worauf können wir uns dabei stützen? Anschaulichkeit hat viele Gesichter, tritt in unterschiedlichen Ausprägungen in Erscheinung, was auf die im GestaltungsmusterGestaltungsmuster VeranschaulichenVeranschaulichen angelegten Möglichkeiten zurückzuführen ist. Verschaffen wir uns deshalb zunächst einen Überblick (siehe Tab. 6).

StilgestaltStilgestalt AnschaulichkeitAnschaulichkeit(Ausprägungen)GestalteinheitenGestalteinheit
BildhaftigkeitBildhaftigkeitKonkreta (statt Abstrakta)bildhafte VergleichVergleichbildhaftere (z.B. funkeln wie ein Diamant)Wortschatzeinheiten zur Bezeichnung von Sinneswahrnehmungen (z.B. Farb- und Klangadjektive)OnomatopoetikaOnomatopöie (lautmalende Wörter)
BildlichkeitBildlichkeitMetaphernMetapher/Metaphorisieren und AllegorienAllegorie (Großformen der Metapher)bildliche Vergleiche und GleichnisseGleichnis (Großformen des bildlichen Vergleichs)PersonifikationenPersonifikation/Personifizierenbildliche PeriphrasenPeriphrasebildliche PhraseologismenPhraseologismus
DetailliertheitDetailliertheitAufzählungenAufzählen von Einzelheiten eines Erscheinungsbildes: entweder zweigliedrig (darunter Paarformeln) oder aus mindestens drei Gliedern bestehend (Monosyndeta, Asyndeta, Polysyndeta)
AndringlichkeitAndringlichkeithistorisches PräsensPräsenshistorischesfuturisches PräsensPräsensfuturischesTemporaladverbien
IllustriertheitIllustriertheitsprachmedial: Exempel (konkrete Beispiele, Beispielerzählungen)bildmedial: Fotos, Zeichnungen, Diagramme, Organigramme u.a.m.

      Tab. 6: Ausprägungen von AnschaulichkeitAnschaulichkeit

      Die aufgeführten Ausprägungen von AnschaulichkeitAnschaulichkeit können in Texten natürlich auch kookkurrieren. Sie können sich überschneiden, z.B. in Form von bildhafter oder bildlicher DetailliertheitDetailliertheit. Auf den Unterschied zwischen BildhaftigkeitBildhaftigkeit und BildlichkeitBildlichkeit haben Elise Riesel und Evgenia Schendels (1975: 205ff.) aufmerksam gemacht. Sie verweisen darauf, dass Bildhaftigkeit bereits in der BedeutungSemantik/semantisch lexikalischer Einheiten angelegt ist (Beispiele liefern bildhafte Verben wie trippeln statt gehen oder nippen statt trinken), während Bildlichkeit i.d.R. erst im Text entstehen kann, durch die Verwendung lexikalischer Einheiten. Bildlichkeit ist allerdings vielen phraseologischen Einheiten eigen, z.B. SprichwörternSprichwort (Viele Köche verderben den Brei.). Durch ihre Verwendung entsteht formelhafteFormelhaftigkeit/Formelhaft-Machen Bildlichkeit. Im Unterschied dazu ist die GestaltqualitätGestaltqualität AndringlichkeitAndringlichkeit kennzeichnend beispielsweise für Texte, die von einem vergangenen oder zukünftigen Geschehen handeln, als sei es ein gegenwärtiges. Das Geschehen wird dicht an den Rezipienten herangebracht (vgl. Schneider 1931: 19). GestalteinheitenGestalteinheit sind Verbformen im Präsens sowie Temporaladverbien wie gerade oder soeben, die verdeutlichend hinzutreten können.

      Betrachten wir nun zwei Textproben im Hinblick darauf, welche Ausprägung von AnschaulichkeitAnschaulichkeit sie zu erkennen geben.

      Es sieht aus wie eine ganz normale Kneipe, eine recht kleine eben. An vier Tischen sitzen junge Menschen vor gefüllten Gläsern und Tassen, sie quasseln und lachen. Die Frauen haben Make-up aufgelegt, manche mehr, manche weniger. Einige haben ihre Nägel lackiert, andere nicht. Sie haben Hosen, Röcke, Kleider an. Die Männer tragen Hemden, T-Shirts, lange Haare, kurze Haare, Vollbärte, Nullbärte. Sie reden miteinander, durcheinander. Sie lachen, streiten, debattieren. Quer über die Tische hinweg. Frauen mit Frauen, Frauen mit Männern, Männer mit Männern. Wie es eben so abends an Orten aussieht, an denen sich Studenten treffen. Nur dass dieser Ort in einer mittelgroßen Stadt im Iran liegt: Siraz.

       Beispieltext 5: Reisereportage (Textanfang)

      Das Magazin, Nr. 4/2015, 47.

      Im Rahmen der journalistischen TextsorteTextsorte Reportage stellen sich u.a. folgende Stilfragen:

       Welcher Einstieg wird reportageeröffnend gewählt?

       Wie wird der Schauplatz des Geschehens beschrieben?

      Als GestalteinheitenGestalteinheit von AnschaulichkeitAnschaulichkeit kommen folgende StilelementeStilelement in Betracht:

       eine Vielzahl an Konkreta unter den Substantiven, d.h. Wörtern, die Gegenständliches bezeichnen (Kneipe – Tische – Gläser – Tassen – Haare – Bärte usw.);

       ein bildhafter VergleichVergleichbildhafter (aussehen wie eine ganz normale Kneipe);

       eine Vielzahl an paarigen Aufzählungsgliedern (Gläser und Tassen – quasseln und lachen – manche mehr, manche weniger – einige, andere – miteinander, durcheinander – Frauen mit Frauen usw.);

       eine Vielzahl an Asyndeta (Hosen, Röcke, KleiderHemden, T-Shirts, lange Haare, kurze Haare, Vollbärte, Nullbärte – lachen, streiten, debattieren – Frauen mit Frauen, Frauen mit Männern, Männer mit Männern);

       ein ZeugmaZeugma (Hemden und T-Shirts tragen vs. Haare und Bärte tragen – die Aufzählungsglieder liegen nicht auf ein und derselben begrifflichen Ebene);

       das historische PräsensPräsenshistorisches (z.B. An vier Tischen sitzen junge Menschen.).

      Wir stellen fest: Es dominiert das AufzählenAufzählen von Einzelheiten eines Erscheinungsbildes, was dem Text DetailliertheitDetailliertheit verleiht. Weitere Ausprägungen von AnschaulichkeitAnschaulichkeit im Text sind BildhaftigkeitBildhaftigkeit (siehe Konkreta und bildhafter VergleichVergleichbildhafter) und AndringlichkeitAndringlichkeit (siehe historisches PräsensPräsenshistorisches). Dass sich die StilgestaltStilgestalt Anschaulichkeit im Rahmen der TextsorteTextsorte Reportage entfalten kann, ist in der journalistischen Kommunikationsaufgabe begründet, über Geschehnisse an einem Ort aus eigenem Erleben, d.h. vor Ort Bericht zu erstatten. Der Reporter ist immer Augenzeuge eines Geschehens und baut eine „Erlebensperspektive“ (Lüger 1995: 115) auf. Der Einstieg, die Texteröffnung, muss jedoch nicht zwangsläufig anschaulich gestaltet sein, denn Journalisten können auch mit einer These, einem abstrakten Gedanken, einem Standpunkt beginnen (vgl. Gehr 2010: 172f.). Anschaulich hingegen ist der szenische Einstieg, bei dem sich der Reporter schon mit dem ersten Satz „räumlich in einer ‚Szene‘ situiert“ (Burger 2005: 216) – wie bei unserem Beispieltext.

      Die nächste Textprobe ist ein Auszug aus einem Roman.

      Unter einer gläsernen Käseglocke sind sie miteinander eingeschlossen, Erika, ihre feinen Schutzhüllen, ihre Mama. Die Glocke läßt sich nur heben, wenn jemand von außen den Glasknopf oben ergreift und ihn in die Höhe zieht. Erika ist ein Insekt in Bernstein, zeitlos, alterslos. Erika hat keine Geschichte und macht keine Geschichten. Die Fähigkeit zum Krabbeln und Kriechen hat dieses Insekt längst verloren. Eingebacken ist Erika in die Backform der Unendlichkeit.

       Beispieltext 6: Roman (Auszug aus Teil I)

      Elfriede Jelinek: Die Klavierspielerin. 27. Aufl. Reinbek bei Hamburg 2003: Rowohlt Taschenbuch, 17f.

      Im Rahmen der poetischenPoetizität/poetisch TextsorteTextsorte Roman sind u.a. folgende Fragen stilistisch relevant:

       Aus welcher PerspektivePerspektive/Perspektivieren wird das fiktionale Geschehen erzählt?

       Wie werden die Figuren des fiktionalen Geschehens bezeichnet und beschrieben?

      Erzählstilistisch relevant ist an dem Auszug aus Elfriede Jelineks Roman „Die Klavierspielerin“ erstens, dass das Erzählersubjekt keine Figur des Romans ist, erzählt wird von einer Außenperspektive aus, dass sich das Erzählersubjekt zweitens reflektierend in das Romangeschehen einschaltet, es damit unterbricht, und dass es drittens – und das ist für unsere Untersuchung relevant – seine Reflexionen mit BildlichkeitBildlichkeit ausstattet, und zwar mittels einer dreigliedrigen Kette von AllegorienAllegorie. Dabei finden drei unterschiedliche Bildmotive Verwendung (Käseglocke, Bernsteinschmuck,


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