Homer und Vergil im Vergleich. Philipp Weiß
Methoden waren demnach nicht das Spezialgebiet der professionellen Grammatiker, sondern steuerten allgemein ästhetische Wahrnehmungsprozesse in der Antike.4 Die Literaturvergleiche sind daher ein wesentlicher Schlüssel für das Verständnis sowohl der Rezeptions- als auch der Produktionsbedingungen innerhalb einer literarischen Kultur, die die einzelnen Werken der Dichter, aber auch der Geschichtsschreiber, Redner und Philosophen, als grundsätzlich aufeinander bezogen wahrnahm, ob sie nun tatsächlich in einem intentionalen imitatio-Verhältnis von Modell und Nachahmung standen oder ob sich die Bezüge loser – etwa durch einen gemeinsamen Gegenstand o.ä. – gestalteten.5
Das Vorgehen ist im Folgenden grundsätzlich chronologisch und autorengebunden, was sich aus der übergeordneten Frage nach der Einordnung in die Kanondiskussion ergibt: Ausgegangen wird dabei von der frühesten Phase der Vergilrezeption, aus der uns zwar keine Texte, aber immerhin Titel einschlägiger Schriften überliefert sind. Wie bereits erwähnt, lässt sich zeigen, dass Vergil im Verlauf dieser frühen Diskussion, in der die Frage nach der Bewertung homerischer Übernahmen z.T. mit dem Vorwurf des Plagiats beantwortet wurde, eine Schlüsselstellung zugewiesen wird und der Dichter der Aeneis nach und nach zum exemplarischen Modellfall für Dichtung „auf zweiter Stufe“ im positiven Sinne avancieren konnte (→ Kap. 2). Seneca d.Ä. steht mit seinen beiden Homer-Vergil-Vergleichen noch ganz im Kontext dieser Diskussion (→ Kap. 3), während für Gellius die kanonische Stellung Vergils als eines exemplarischen Homernachahmers bereits soweit gefestigt ist, dass er sich in seiner literaturhistorischen Einordnung ganz im Fahrwasser Quintilians bewegt (→ Kap. 4.2) und frühere Kritik an Vergils Homer-imitatio kommentarlos in ihrer Widersprüchlichkeit entlarven kann (→ Kap. 4.3). Macrobius steht mit seinen Saturnalia am Ende der hier behandelten Reihe: Bei ihm erlangt der Homer-Vergil-Vergleich systematische Geltung und wird konstitutiv für ein umfassendes Bildungsprogramm (→ Kap. 5.1.1 u. 3). Gleichzeitig ist der Vergleich mit Homer argumentativ eingebunden in einen symposialen Dialog, in dem die Diskussion über kanonischen Rang und Autorität (vgl. bes. Sat. 5, 11 und 13) eine neue Funktion erhält (→ Kap. 5.1.3). Die wertenden Vergleiche begründen nämlich zwar abwechselnd den Vorrang Vergils und Homers, zeigen aber vor allem stilistische Sachverhalte auf (→ Kap. 5.2.1). Dann wird in einem nach Kategorien geordneten Nachweis der Versuch unternommen, Vergils Dichtung als strukturelle Adaption ihres homerischen Vorbilds zu erweisen, womit sich eine bestimmte Absicht verbindet, nämlich der Entwurf einer Poetologie griechisch-römischer Hexameterdichtung in der Nachfolge Homers, wie er in vergleichbarer Geschlossenheit sonst bei keinem Autor der (Spät-)Antike vorliegt (→ Kap. 5.2.2). Ausgehend von den Ergebnissen dieser Untersuchungen soll dann abschließend auf die bereits aufgeworfene Frage nach der Stellung der Synkrisis zwischen Homer und Vergil in den antiken Kanondebatten6 eingegangen werden (→ Kap. 6).
Methodisch ergibt sich in den Kapiteln zu Seneca d.Ä., Gellius und Macrobius jeweils folgender Doppelschritt: Auszugehen ist von den – etwa in den Vorreden formulierten – programmatischen Stellungnahmen, in denen sich die Autoren über die Voraussetzungen und Ziele ihrer Schriften äußern. Besonderes Augenmerk ist dabei auf die Rolle literarischer Texte, die jeweils artikulierte Bildungsidee, den methodischen Stellenwert des (Literatur-)Vergleichs im Allgemeinen sowie auf das grundsätzliche Verhältnis zur griechischen Vorbildkultur zu legen. – Im zweiten Schritt werden dann die einzelnen vergleichenden Urteile in Abgleich mit ihren philologisch-ästhetischen Bedingungsfaktoren gebracht und auf Divergenz oder Konvergenz mit den andernorts überlieferten Wertungen geprüft. Vor dieser rezeptionsgeschichtlichen Folie kann dann die Stoßrichtung des einzelnen Urteils näher bestimmt und die Frage seiner Berechtigung bzw. seiner spezifischen Tendenz genauer beantwortet werden.
1.3 Die Synkrisis in der antiken Praxis und Theorie im Überblick
1.3.1 Der Literaturvergleich als Methode und Gattung philologischer Spezialliteratur
Der zentrale Begriff, mit dem man in der Antike wertende Textvergleiche im oben erläuterten Sinne umschrieb, war derjenige der Synkrisis (σύγκρισις).1 In seiner Verwendung i.S. v. comparatio2 bezeichnet dieser Terminus zunächst allgemein die logische Operation des Vergleichs.3 Eine speziellere Verwendung ergibt sich im literaturkritischen Zusammenhang: Hier ist an die κρίσις ποιημάτων zu denken, die nach Dionysios Thrax als sechstes Aufgabenfeld des antiken Philologen zur γραμματικὴ τέχνη gehört und – neben Echtheitskritik – im Kern die ästhetische Würdigung umfasst.4 Die σύγκρισις ist folglich die wechselseitig aufeinander bezogene κρίσις mehrerer Schriftwerke – Dichtung, aber auch Reden und andere vom Grammatiker behandelte Texte. Die Synkrisis als Methodenbegriff lässt sich folglich näherhin als vergleichende ästhetische Würdigung von Texten definieren, und der Hinweis auf die disziplinäre Einbettung der κρίσις ποιημάτων legt bereits nahe, dass es sich hierbei in der Regel nicht um eine subjektive Einschätzung, sondern um einen methodisch geleiteten Vorgang, der bestimmten ästhetischen Prinzipien folgt, handelt. Die Zahl möglicher Vergleichsgegenstände ist mit diesem Begriff noch nicht näher bestimmt, mindestens zwei müssen es aber natürlich sein. Dazu kommt, dass die Vergleiche in der Regel auf einen abschließenden Rangentscheid (iudicium bzw. κρίσις) hin ausgerichtet sind, es also nicht allein darum geht, Gemeinsamkeiten und Unterschiede festzustellen, sondern die Parteinahme des κριτικός gefordert ist.5 – Der Terminus σύγκρισις kann neben der Methode des wertenden Vergleichens auch als Gattungsbegriff für eine literarische (Klein-)Form stehen, z.B. – aber nicht nur6 – im Gebiet der Literaturkritik. Diese beiden Bedeutungsvarianten zeigen eine grundsätzliche Schwierigkeit bei der Annäherung an das Phänomen des Literaturvergleichs in der Antike, da die Methode der Komparation sowohl in unselbstständiger wie auch in selbstständiger Form angewandt sein kann, wobei sie im letzteren Fall dann auch u.U. wiederkehrende Gattungsmerkmale – etwa einen symposialen Rahmen, die Form des Streitgesprächs o.Ä. – aufweist. Im Textkorpus der vorliegenden Untersuchung schlägt sich das insofern nieder, als in den Homer-Vergil-Vergleichen beide Möglichkeiten realisiert sind: Die exkursartigen Einlassungen Senecas rechnen zum ersten Typus, die eigenständigen Synkrisiskapitel bei Gellius, aber auch der in sich geschlossene wertende Vergleich in Sat. 5, 11–13 sind eher als συγκρίσεις bzw. diiudicationes im gattungsmäßigen Sinn anzusprechen.
Berücksichtigt man außerdem das Verhältnis der analysierten Texte zueinander, so ist noch eine – zumal für den Bereich der römischen Literaturkritik relevante – begriffliche Unterscheidung zu treffen. In vielen Fällen lässt der Literaturkritiker nämlich erkennen, dass er einen direkten, vom jüngeren Autor intendierten Bezug auf den älteren Text annimmt. Relativ selten – zumindest im römischen Bereich – sind dagegen die Fälle, wo dies nicht der Fall ist, die Texte also etwa allein wegen ihres gemeinsamen Themas gewählt sind. Die Art dieses Bezugs kann bei den Vergleichstexten des ersten Typs in ganz unterschiedlicher Form – etwa als Übersetzung (interpretatio), Nachahmung (imitatio) oder literarischer Wettkampf (aemulatio), um eine der diskutierten Stufungen zu zitieren (s.u.) – realisiert und dann auch durch entsprechende Termini seitens des Kritikers markiert sein.
Die Kategorien interpretatio, imitatio und aemulatio wurden von Arno Reiff (1959) als fixes begriffliches System zur Beschreibung literarischer Abhängigkeit in der römischen Literatur vorgeschlagen. Dagegen hat man zurecht eingewandt, dass den verwendeten Termini keine feste Hierarchie entspricht, ihre Verwendung also gewissen kontextabhängigen Spielräumen folgt; vgl. Fuhrmann (1961), pass. – Die wesentlichen Aspekte der Konzepte von imitatio bzw. aemulatio fasst Bauer (1992), Sp. 144–150 zusammen. Sie wurden zunächst in der Rhetorik theoretisch entwickelt und sind nicht immer scharf voneinander zu trennen: Der Begriff der imitatio impliziert schon beim Auctor ad Herennium (1, 4: imitatio est qua impellimur, cum diligenti ratione, ut aliquorum similes in dicendo valeamus esse) und bei Cicero das Ziel, das jeweilige Modell – in regelgeleiteter Weise (ratione) – zu übertreffen (Überbietungsabsicht). Aemulatio kann dann aber zur Bezeichnung der gelungenen Nachahmung auch als Gegensatzbegriff zu der entsprechend als pedantische Nachbildung verstandenen imitatio verwendet werden. Bei Dionysios