Homer und Vergil im Vergleich. Philipp Weiß
δὴ ἑπόμενος Εὐριπίδης).
Vergleicht man diese beiden Beispiele etwa mit dem Übersetzungsvergleich, den Gellius in 2, 23 ebenfalls mit zwei dramatischen Texten – Menander und Caecilius Statius – anstellt, so wird die besondere Aufmerksamkeit kenntlich, die die römischen Philologen den Aspekten der literarischen Abhängigkeit – hier der Übersetzung – gewidmet haben.18 Dabei sind die Unterschiede in der Textgrundlage gar nicht so entscheidend: Wie die Beispiele aus dem Plocium des Caecilius Statius zeigen, war der römische Begriff der „Übersetzung“ ein sehr weiter. Man hätte in ähnlicher Weise wohl auch in den Philoktetdramen Stellen finden können, die sich inhaltlich direkt vergleichen lassen. Dion tut das nicht; er behandelt jedes Drama für sich, ohne einzelne Textstellen unmittelbar gegeneinander zu halten. Das deutet schon darauf hin, dass die in Rom über die Epochen hinweg so wichtigen Konzepte von imitatio und aemulatio in der Technik des Einzelstellenvergleichs auch methodische Auswirkungen hatten. Die Frage nach Grad und Art der Intentionalität stellte sich in Rom offensichtlich drängender als in Griechenland, auch weil sich die römische Literatur in ihrer ersten Phase als Übersetzungsliteratur verstanden hatte. Vergleichende Literaturkritik ist hier in der Regel auch imitatio-Kritik, und das Beispiel des prototypischen Homernachfolgers Vergil – das Provozierende seiner programmatischen Orientierung an Homer war bekanntlich schon den ersten Rezipienten bewusst19 – musste demnach besondere Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
1.3.2 Dionysios von Halikarnassos über die Funktion komparativer Literaturkritik (Pomp. 1)
Neben diesen Beispielen für ihre praktische Anwendung hat es in der Antike aber auch vereinzelt theoretische Reflexion über die Zielbestimmung der literaturkritischen Synkrisis gegeben, und zwar in einem Gebiet, das neben den Dichtervergleichen als der zweite große Gegenstandsbereich komparativer Literaturkritik angesprochen werden kann, nämlich den Vergleichen von Prosaautoren. Hierzu gehört insbesondere die bereits erwähnte, relativ kurze Passage in einem Brief des Geschichtsschreibers und Literaturkritikers Dionysios von Halikarnassos, der in augusteischer Zeit in Rom gewirkt hat und als Hauptvertreter des sog. „römischen Klassizismus“ gilt.1 Es handelt sich um das Einleitungskapitel zum Brief an Gnaeus Pompeius GeminusDionysios Hal.Pomp. 1, wohl ein Spätwerk des Autors.2 Der Text steht zwar nicht repräsentativ für alle literaturvergleichenden Untersuchungen in der Antike, er leistet allerdings wichtige begriffliche Differenzierungen, insbesondere mit seiner Abgrenzung der Kategorien ἔπαινος und διάγνωσις, die auch die bereits bei Quintilian erkennbare Grundproblematik der Homer-Vergil-Vergleiche betrifft.
Dionysios verteidigt im genannten Abschnitt sein methodisches Vorgehen in der Schrift über Demosthenes. Dort hatte er einen Vergleich zwischen dem Redner Demosthenes und dem Philosophen Platon angestellt, der sich hauptsächlich auf stilistische Aspekte konzentrierte. Das abschließende Urteil dieser Synkrisis war zuungunsten Platons ausgefallen. Gnaeus Pompeius Geminus hatte Dionysios nun in einem nicht erhaltenen Brief unterstellt, dass es dessen Absicht gewesen sei, Platon mit diesem Vergleich zu kritisieren, seine stilistische Autorität also polemisch in Frage zu stellen. Dionysios kontert, indem er sich zunächst als einen großen Bewunderer Platons darstellt. Er behauptet außerdem, dass er mit seiner Platonbewunderung ganz auf der Linie einer bestimmten Gruppe von Literaturkritikern liegt, denen es um eine „Verbesserung von βίος und λόγος“ zu tun ist – eine Formel, mit der Dionysios auch an anderer Stelle seine klassizistischen Parteigänger umschreibt, Kritiker also, deren Urteil er für maßgeblich hält.3 Gnaeus Pompeius habe die Tendenz der Demosthenes-Schrift aus der Sicht ihres Autors also falsch interpretiert, und folglich geht es Dionysios im Abschnitt Kap. 3–8 zunächst darum, dieser Fehlinterpretation eine alternative Deutung entgegenzusetzen.
Das geschieht insbesondere in Kapitel 3: Dionysios kommt es an dieser Stelle darauf an, dass er keine Lobschrift (ἔπαινος) über den Redner hatte schreiben wollen, sondern dass es ihm um eine differenzierende Analyse – das Stichwort lautet διαγνῶναι – von Vorzügen und Schwächen des Demosthenes ging:
Ἐγὼ οὖν νομίζω δεῖν, ὅταν μὲν ἔπαινον προέληται γράφειν τις πράγματος εἴτε σώματος ὁποίου γέ τινος, τὰς ἀρετὰς αὐτοῦ καὶ οὐ τἀτυχήματα, εἴ τινα πρόσεστι, [τῷ πράγματι ἢ τῷ σώματι δεῖν] προφέρειν· ὅταν δὲ βουληθῇ διαγνῶναι, τί τὸ κράτιστον ἐν ὅτῳ δή ποτε βίῳ καὶ τί τὸ βέλτιστον τῶν ὑπὸ ταὐτὸ γένος ἔργων, τὴν ἀκριβεστάτην ἐξέτασιν προσφέρειν καὶ μηδὲν παραλείπειν τῶν προσόντων αὐτοῖς εἴτε κακῶν εἴτε ἀγαθῶν· ἡ γὰρ ἀλήθεια οὕτως εὑρίσκεται μάλιστα, ἧς οὐδὲν χρῆμα τιμιώτερον. (Dion. Hal. Pomp. 1, 3 = VI 222, 1–10 Usener-Radermacher)
(„Ich halte es also für notwendig, wenn man eine Lobrede auf eine Handlung oder eine Person – wie immer sie auch beschaffen sein mag – zu schreiben unternimmt, dass man die Vorzüge und nicht das Misslungene, wenn es denn welches gibt, vorbringt. Wenn man aber unterscheidend erkennen möchte, was das Vortrefflichste in irgendeinem Leben und was die beste unter Taten gleicher Art ist, <so muss man> die genaueste Untersuchung anstellen und darf nichts übergehen von dem Schlechten und dem Guten, was sich mit ihnen verknüpft. Auf diese Weise aber gelangt man am ehesten zur Wahrheit, die doch den höchsten Wert besitzt.“)
Als Maßstab einer derartigen „unterscheidenden Erkenntnis“ beruft sich Dionysios also auf das Kriterium der Wahrheit (ἀλήθεια), womit er offenkundig eine nicht tendenziöse, rein sachbezogene inhaltliche und stilistische Analyse meint. Dieses Kriterium hat für den ἔπαινος weniger Relevanz als für die διάγνωσις und wird hier geradezu als das differenzierende Merkmal zwischen Lob und Analyse eingeführt.
Die Unterscheidung dieser beiden Gattungen und die besondere Wahl, die Dionysios trifft, wird in den Kapiteln 4–8 näher ausgeführt. Zentral ist das Argument in Kapitel 5: Zur Erkenntnis der Stileigentümlichkeiten einzelner Reden bzw. einzelner Redner sei es hilfreich, zunächst eine Auswahl der Besten – an anderer Stelle ist allgemeiner von „Gleichartigen bzw. -rangigen“ die Rede – zu treffen und diese dann miteinander zu vergleichen. Damit lasse sich schließlich zwar ebenfalls eine Entscheidung darüber treffen, wer von dieser Bestenauswahl wiederum den ersten Platz erhält, die Qualität der unterlegenen Autoren werde damit aber nicht in Frage gestellt.
εἰ δὲ χαρακτῆρας λόγου προελόμενος σκοπεῖν καὶ τοὺς πρωτεύοντας ἐν αὐτοῖς φιλοσόφους τε καὶ ῥήτορας ἐξετάζειν τρεῖς μὲν ἐξ ἁπάντων ἐξελεξάμην τοὺς δοκοῦντας εἶναι λαμπροτάτους, Ἰσοκράτην τε καὶ Πλάτωνα καὶ Δημοσθένη, ἐκ δὲ τούτων αὐτῶν πάλιν προέκρινα Δημοσθένη, οὐδὲν ᾤμην οὔτε Πλάτωνα οὔτε Ἰσοκράτην ἀδικεῖν. (Dion. Hal. Pomp. 1, 5 = VI 222, 17–223, 2 Usener-Radermacher)
(„Wenn ich aber in dem Entschluss, die Stilarten der Rede genau zu betrachten und die in diesen jeweils ranghöchsten Philosophen und Redner herauszustellen, aus der Gesamtheit drei ausgewählt habe, die mir die glänzendsten zu sein scheinen, Isokrates, Platon und Demosthenes, aus diesen aber wiederum Demosthenes den Vorzug gegeben habe, so glaubte ich weder Platon noch Isokrates Unrecht zu tun.“)