Sittes Welt. Группа авторов
Künste eröffnet wurde. Cremer sah offensichtlich in dem schon Vierzigjährigen nach den Angriffen auf die Lidice-Bilder immer noch ein Nachwuchstalent, das seinen Weg in die Öffentlichkeit finden sollte. Er zeigte ihn zusammen mit Autodidakten wie Ralf Winkler (alias A. R. Penck, 1939–2017), Peter Graf (* 1937) und Peter Hermann (* 1937) aus Dresden, während Alfred Kurella (1895–1975) dafür gesorgt hatte, dass die jungen Leipziger Künstler nicht teilnehmen durften.
Cremer war als Ständiger Sekretär der Sektion Bildende Kunst der Akademie der Überzeugung, dass die DDR gerade die „sogenannten schwierigeren jungen Künstler“ brauche und „nicht die Musterknaben, die Langweiligen, Wohlgefälligen“.69 Deshalb verschaffte er ihnen gegen massiven Widerstand einen ersten öffentlichen Auftritt. Die Eröffnung löste einen Sturm der Empörung und Kritik mit fingierten Protestbriefen von Werktätigen und einer Pressekampagne aus. Infolge der Ereignisse traten Cremer als Sekretär und im Februar 1962 Otto Nagel als Akademiepräsident zurück.70 Auch die Nichtverlängerung der Professur Mucchis an der Kunsthochschule Weißensee im gleichen Jahr steht im Zusammenhang mit dieser Rollback-Politik nach dem Mauerbau. Im Gegensatz zur ersten Fassung des Themas, Memento Stalingrad von 1961, machte Sitte bei den Überlebenden (1963, S. 363)71 keinen Unterschied mehr zwischen dem General als Kriegsverbrecher und den einfachen Soldaten. Im Tod sind sie alle gleich. Hier wird erstmals seit den späten 1940er Jahren wieder sichtbar, dass die „Sieger der Geschichte“ auch die mitschuldig gewordenen Verlierer waren.
Utopie und Zweifel
Von der Schwarz-Weiß-Zeichnung herkommend, hatte Sitte sich um 1960 bereits einen eigenen sachlich-konstruktiven Stil und eine breite malerische Palette erarbeitet. Seine Bilder zeugen von den „Mühen der Ebenen“, aber mehr noch vom Glauben und der Hoffnung auf das Gelingen des Sozialismus. Seine künstlerische Sprache zeichnet sich aus durch nüchterne Dynamik und verhaltenen Optimismus.72 Seine Akte sind voller Innigkeit, aber auch voller Lebensfreude, der Alltag wird humorvoll und gelassen geschildert mit modischen Accessoires bis zum Petticoat, den liebevoll ausgearbeiteten Rockfalten (z. B. Frauen auf der Straße (Passantinnen), 1961)73 und einem Grammophongerät am Ostseestrand, bedient von kraftvollen, nackten Frauen (Akte mit Plattenspieler, 1962). Solange Sittes Glaube an die Zukunft des Sozialismus seiner Kunst die entsprechende Spannung und Dynamik verlieh, war sie in sich stimmig und begründete im besten Sinne einen neuen Sozialistischen Realismus à la DDR, also eine Kunst, in der die Gesellschaft sich selbst erkennen und sich wiederfinden konnte auf dem Weg zum gar nicht fernen Ziel des Kommunismus, den Nikita Chruschtschow (1894–1971) in seiner Rede auf dem XXII. Parteitag der KPdSU 1961 zum letzten Mal für das Jahr 1980 versprochen hatte. Das Neue Deutschland zitierte am 20. Oktober 1961 diese Parteitagsrede mit konkreter Terminansage auf seiner Titelseite: „Zuerst würde es die Grundnahrungsmittel umsonst geben, dann würde man Miete und Strompreise und schließlich das Geld überhaupt abschaffen. Jeder könnte sich dann im Laden aus der Überfülle des Angebots soviel mitnehmen, wie er brauchte. […] Der Unterschied zwischen körperlicher und geistiger Arbeit würde verschwinden. Die Arbeit sei dann nur noch Lebens- und Glückserfüllung.“74
Die Petrolchemie sollte dafür den Werktätigen als Vorgeschmack schon einmal die entsprechenden Konsumgüter liefern. Für die neue Schönheit des Alltags standen die aus dem schwarzen Öl produzierten Kleider und Nylonstrümpfe, das legendäre bügelfreie Hemd aus Kunstfaserprodukten, die Waren des täglichen Gebrauchs aus „Plaste und Elaste“75, das Plastespielzeug, Badezimmereinrichtungen, sogar Möbel.76 Die Petrolchemie gehörte neben dem Werkzeugmaschinenbau und der Optik zu den Bereichen der DDR-Ökonomie, von denen sich die Verantwortlichen vor allem Devisen aus dem Export in den Westen versprachen. Das sowjetische Erdöl aus der „Freundschaft“-Pipeline sollte mit den aus Erdöl generierten veredelten Produkten bezahlt werden. In der Petrolchemie sah man die neue Leitindustrie, sie stand für Fortschritt und Moderne. Mit der ersten großen petrolchemischen Anlage in der DDR, Leuna II, war der Glaube an die neue Chemieindustrie als zentralen Hebel zur Verwirklichung des Kommunismus verbunden, der in der Bildpropaganda von Willi Sittes Leuna 1969 (1968, S. 411)77 und dem Chemiearbeiter am Schaltpult (1968, S. 413) unmittelbar zum Ausdruck kommen sollte.
Walter Ulbricht (1893–1973) förderte jetzt statt Apparatschiks Technokraten und installierte im Januar 1963 Erich Apel (1917–1965)78 als Architekten der neuen dezentralisierten Wirtschaftsstruktur, in der die Betriebe auch Gewinne erzielen durften, und als Leiter der Staatlichen Plankommission. Apel konnte sich dank seiner sechsjährigen Tätigkeit als Raketenbauer in der Sowjetunion auf die unumgängliche Unterstützung Chruschtschows und der sowjetischen Führung stützen. Das im Juni 1963 vom Präsidium des Ministerrates eingeführte Neue Ökonomische System der Planung und Leitung (NÖSPL) sollte für größere Selbstständigkeit und Wettbewerbsfähigkeit sorgen nach dem Motto, so viel Plan wie möglich, so viel Markt, d. h. Gewinn wie notwendig. Mit der wieder geschaffenen Aussicht auf einen „Gewinn“ sollten die Betriebe zu Rationalisierungen, die Arbeiter zu höheren Leistungen motiviert werden. Die Verkürzung der Arbeitszeit, die Erhöhung des Grundurlaubs und die Einführung der Fünf-Tage-Woche mit dem langen Wochenende eröffneten neue Perspektiven für das durch den FDGB und die FDJ organisierte und gelenkte Freizeitverhalten der Werktätigen, wie es auf Sittes Polyptychon Unsere Jugend (1962, S. 401) zur Anschauung kommt.79 Um die Jugend für die wissenschaftlich-technische Revolution zu gewinnen, sollte zunächst einmal die Jugendarbeit aktiviert werden. An seinem Stellvertreter und Verantwortlichen für Jugendfragen, Erich Honecker (1912–1994), vorbei bildete Ulbricht daher eine nur ihm persönlich verantwortliche Jugendkommission beim Politbüro. Am 17. September 1963 verabschiedete das Politbüro das Kommuniqué Der Jugend Vertrauen und Verantwortung. „Die Zeitungen wurden lesbarer […] der Ton der Reden jugendfrisch, wie ein in dieser Zeit entstandenes Wort lautete, mancher alte Politiker zog sich wieder das Blauhemd an. Ulbricht posierte beim Volleyball am Netz: Jeder Mann an jedem Ort, einmal in der Woche Sport! […] Die FDJ stellte sich vor die Lyrik- und Singebewegung, […] die Poetenseminare folgten […]. Neue Fragen wurden gestellt […] auch mit Hilfe des neugeschaffenen Jugendsenders DT 64 […].“80
Auf dieser jugendbewegten Welle durchdringen sich Formen und Inhalte von Sittes Kunst dieser Zeit harmonisch, vergleichbar mit den Romanen von Christa Wolf (Der geteilte Himmel, 1963), Brigitte Reimann (Ankunft im Alltag, 1961, Franziska Linkerhand, 1974) und Erik Neutsch (Spur der Steine, 1964). Sitte gelang in den 1960er Jahren eine moderne sozialistische Kunst, die den akademischen Naturalismus sowjetischer Tradition der 1930er Jahre weit hinter sich gelassen hatte. Wie kein zweiter Künstler der DDR kam er dem nahe, was sich aufgeklärte Intellektuelle des Landes in der Nachfolge von Bertolt Brecht (1898–1956) erhofften, einer Kunst, die den Aufbau des Sozialismus ungeschönt und sachlich begleitete. Sein Stil erinnert nicht zufällig an den modernen Urbanismus der sowjetischen Künstlergruppe OST, der sogenannten Staffeleimaler (Stankovisten), allen voran Alexander Deineka (1899–1969)81 und Juri Pimenow (1903–1977), die während der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) in den 1920er Jahren, vergleichbar mit der Neuen Sachlichkeit in der Weimarer Republik, den Alltag und das Erscheinungsbild einer modernen Industriegesellschaft begleiteten.
Sitte gestaltet den sozialistischen Alltag auf dem Weg zum „Reich der Freiheit“ haptisch, sinnlich und sehr irdisch. Sein Paradies kennt keine Dogmatik und Esoterik, es ist ganz von dieser Welt. Seine Menschen bersten vor Lebenslust und Tatendrang. Sie bauen auf und sie lieben sich heftig und deftig. Sie genießen die Sauna nach der Arbeit. Sittes Panoramen menschlicher Leidenschaft frönen einem ungebremsten Vitalismus. Aber dieses Paradies ist ständig bedroht. Die Vertreibung aus dem Paradies, die Gefährdung der Utopie ist eine stets gegenwärtige Realität. Auf die Strandszene mit Sonnenfinsternis (1974/75, S. 467) fällt von oben