Sittes Welt. Группа авторов
Sitte: Porträt Margharita Giuliari, 1945, Silberstift auf grundiertem Papier, Maße unbekannt, Privatsammlung. Ab Mitte April 1945 lebte Sitte zunächst bei der Familie von Giuseppe Muraro, dem Präsidenten des örtlichen Comitato Liberazione Nationale, nach Ende des Krieges im Haus von Giovanni Giuliari, dem Bürgermeister von Montecchio-Maggiore.
Nach seinem Aufenthalt in Mailand kümmerte sich Sitte 1946 um die Aussiedlung seiner Eltern aus Kratzau in die Sowjetische Besatzungszone und landete nach einem Zwischenaufenthalt in Heiligenstadt, wo er der SED beitrat, schließlich in Halle (Saale).14 In Dresden hatte ihm der Rektor der Kunstakademie, Hans Grundig (1901–1958), nach Sichtung seiner Zeichnungen erklärt: „Du kannst alles, was soll ich Dir noch beibringen?“15
Nach diesen Kriegsjahren „merkte ich, daß die Mittel, die mir zur Verfügung standen, einfach nicht ausreichten, um auszudrücken, was wir erlebt hatten und worum es mir ging.“16 In schneller Folge ließ er die alten Meister, die Romantiker und Spätromantiker wie Alfred Rethel (1816–1859) hinter sich und wandte sich den Symbolisten der Jahrhundertwende Max Klinger (1857–1920), dann Käthe Kollwitz (1867–1945) zu mit Blättern wie Die Blinden S. 197, Das Lied vom Sturmvogel,17 Kapitalismus S. 211, alle 1948. Die Kollwitz „verhalf mir als hervorragende Zeichnerin, aber auch durch ihr engagiert gelebtes Leben zu einem ersten Schritt in eine neue Richtung.“18 Sein erstes großformatiges Gemälde Zug ins Leben S. 207 stand noch ganz im Bann des Symbolismus von Max Klinger.19
In einer ganzen Serie von Gouachen, Tusche- und Federzeichnungen machte er sich seine dunklen „Nachkriegsgedanken“ über seine Zeitgenossen S. 215–219, 222.20 Sie zeigen Menschen, deren Gesichter hinter Masken verborgen sind. Ihre Maskeraden erinnern an Karl Hofers (1878–1955) düstere Gemälde wie Totentanz (1946) oder Höllenfahrt (1947).
Hofer, seit Juli 1945 Direktor der Hochschule für Bildende Künste in Berlin-Charlottenburg, war, entsprechend der Bündnispolitik der Kommunisten, als Vertreter der bürgerlichen Intelligenz, Vizepräsident des Kulturbunds und mit Oskar Nerlinger (1893–1969) von 1947 bis 1949 Herausgeber der Zeitschrift bildende kunst. Sie war die Vorgängerin der späteren Verbandszeitschrift, die ab 1953 erschien. Im Streit um das Primat von Kunst oder Politik vertrat Hofer gegen Nerlinger entschlossen die Eigengesetzlichkeit der Kunst und wehrte sich gegen ihren Missbrauch als Propaganda. „Wir standen natürlich auf der Seite Hofers, der die künstlerische Bedeutung vor die politische stellte, denn Halle war eine starke Bastion des sogenannten Formalismus.“21 In der Saalestadt zeigte die Galerie Henning im August 1948 und im Mai 1949 Malerei und Grafik von Hofer in Einzelausstellungen mit Katalog. Bereits in der Jahresausstellung 1 Jahr Galerie Henning (Mai/Juni 1948) ist Hofer u. a. mit den Gemälden Mann am Fenster und Masken vertreten. Bei Eduard Henning (1908–1962) waren auch die Expressionisten der Dresdner Brücke zu sehen. Die Galerie Henning wurde zum zentralen Anlaufpunkt für den Austausch der Künstler untereinander und prägte die Kunstszene von Halle (Saale).
Die Begegnung mit dem Expressionismus und vor allem mit Picasso (1881–1973), von dem Henning seit November 1950 bis Oktober 1961 immer wieder Grafik zeigte, „führte zu einem Erdrutsch in meinen Kunstvorstellungen, zu einem großen Bruch. Ich versuchte, alles zu vergessen, was ich mir an akademischem Vokabular angeeignet hatte […].“22
Immer wieder betonte Sitte in Interviews, dass er von der Zeichnung herkomme.23 In Halle (Saale) waren z. B. von Pablo Picasso bei Henning ausschließlich Grafiken zu sehen. Seine Gemälde und die von Georges Braque (1882–1963), Fernand Léger (1881–1955) sowie Max Ernst (1891–1976) kannte Sitte nur von schwarz-weißen Reproduktionen in Katalogen, die er sich in der Buchhandlung Herder in West-Berlin besorgt hatte.24 Daher hatte er „keine Ahnung, wie sie farbig aussahen. So kam die sogenannte graue Periode in meinem frühen Werk zustande. […] Ich nahm an, daß die Bilder von Max Ernst und Picasso ziemlich grau sein müßten.
Um so verblüffter war ich – und teilweise enttäuscht – als ich sie dann im Original sah.“25 Die Grau-Malerei war Anfang der 1950er Jahre ein Kennzeichen der Halleschen Schule, so wie Ende der 1950er Jahre die Berliner Schule Schwarz zu ihrer Lieblingsfarbe erkor. Sicher spielte dabei auch der Widerstand gegen den staatlich verordneten Optimismus eine Rolle. „Da ich von dem Umgang mit Farbe keine Ahnung hatte, kam mir die Grau-in-Grau-Malerei, die damals in Halle fast Mode war, sehr entgegen. Mich interessierte vor allem die Lösung formaler Probleme, und so habe ich nur grau-in-grau gemalt, mal mit Ocker und mal ein bißchen Braun, mal wärmer oder kälter, aber doch alles in Grauwerten, wie es die Formalisten in Halle alle machten.“26
Umso überraschender entstand, inmitten der grauen Bilder, eine Reihe von kleinformatigen Bildern in leuchtenden Farben mit tiefschwarzen Konturen, wie Ziegelputzmaschine, Mädchen mit Liegestuhl27 oder die beiden Bilder Gruß zum Weltjugendtreffen S. 237, nach Sittes Begegnung mit den Originalen von Léger-Gemälden in West-Berlin 1950.28 Sie gehörten zu den ersten Ölbildern, die Sitte „mit den neu erworbenen Mitteln malte.”29 Allerdings wirken die wattigen Arme und Beine wie angenähte Fremdkörper im Vergleich zu Légers konstruktiver Präzision und Modellierung der Figuren.
Bei Picasso imponierte Sitte vor allem, dass er auch die akademische Zeichenkunst beherrschte. „Das war für mich eigentlich der Einstieg. Das kann ich doch auch. So habe ich auf dieser Strecke das für mich, mit meinen eigenen Erlebnissen und Erfahrungen, ähnlich nachvollzogen wie Picasso es gemacht hat. Deswegen gibt es eine geistige Verwandtschaft für mich. Ich bin mit ihm eine Strecke gegangen und bin ihm sehr dankbar gewesen.“30 Dazu kam, „daß Picasso 1948 an dem ‚Weltkongreß der Intellektuellen für den Frieden‘ in Breslau teilgenommen hatte und sich als Künstler mit seinem neuartigen Vokabular in die Politik einmischte“ und dass er, zusammen mit Léger, Mitglied der kommunistischen Partei Frankreichs war.31
Lernen von den Malerkollegen und Freunden in Halle (Saale)
Entscheidend für Sitte war aber in diesen frühen Jahren der Einfluss der älteren und jüngeren Maler in Halle (Saale). Auf die Frage, wo er das Malen gelernt habe, antwortete er ohne zu zögern: „Vor allen Dingen von meinen Kollegen Zeitgenossen in Halle und um Halle herum.“32 An anderer Stelle wird er konkreter: „Meine Lehrmeister und Freunde damals, die mich das Malen lehrten, waren Hermann Bachmann, Fritz Rübbert und Kurt Bunge.“33 Tatsächlich griff er ziemlich unvermittelt ab 1949 die Bildsprachen seiner jungen und älteren Malerkollegen in Halle (Saale) auf. Neben dem fast gleichaltrigen Hermann Bachmann (1922–1995), der ein vertrauter Freund wurde, den er später auf seinen Westreisen immer wieder besuchte, spielten Kurt Bunge (1911–1998) und Fritz Rübbert (1915–1975)34 sowie Ulrich Knispel (1911–1978), Jochen Seidel (1924–1971) und der sieben Jahre jüngere Herbert Kitzel (1928–1978) eine wichtige Rolle. Dazu kamen die in der NS-Zeit entlassenen und wieder eingestellten Lehrer Erwin Hahs (1887–1970) und Charles Crodel (1894–1973).35 „Wie viele Nächte habe ich mit den Freunden Bachmann, Rübbert und Seidel durchgemalt! Von ihnen lernte ich eine Menge. Während ich der bessere Zeichner war, hatten sie mir auf dem Gebiet der Malerei viel voraus. Ich begriff, daß Malerei ein eigenständiges Medium ist mit eigener Qualität […].“36 Selbstkritisch räumt er ein: „Meinen eigenen Stil habe ich natürlich erst nach und nach gefunden.“37
In den Katalogen Verfemte Formalisten. Kunst aus Halle (Saale)38 und Im Spannungsfeld der Moderne. Zehn Maler aus Halle39 werden die verblüffenden Parallelen zwischen den Themen und der Bildsprache der genannten Maler zu Sittes Bildern in diesem Zeitraum deutlich, 2021 parallel zur Sitte-Retrospektive im Kunstmuseum