Sittes Welt. Группа авторов
— Ebd.
3 — Versatzstücke aus dem redaktionellen Text über dem Offenen Brief Müllers: Vom nützlichen Streit, in: ebd.
STILLLEBEN MIT BRILLE
1962 · Öl, collagierte Zeitung auf Hartfaser · 45 × 55 cm Kulturstiftung Sachsen-Anhalt, Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale), seit 1964 Dauerleihgabe des Künstlers / des Nachlasses Willi Sitte
Bekenntnis eines Malers
Inna Skliarska
Die abstrakte, sich im Chaos beinah auflösende und dennoch präsente Figur des Malers schaut den Betrachter nachdenklich aus der Tiefe des Gemäldes an. So definierte Willi Sitte seine eigene Stellung als Künstler in der Welt und der Gesellschaft: zurückhaltend und in sich gekehrt, ein Beobachter am Schauplatz der Weltereignisse. Die Welt stürzt in das Atelier des Malers hinein und verwandelt sich in eine greifbare Allegorie. Die Reflexion der eigenen Position als Künstler in der sozialistischen Gesellschaft und gleichsam die Frage nach der Funktion des Kunstschaffenden für die Gemeinschaft beschäftigten Willi Sitte zutiefst.1
Im programmatischen Referenzgemälde Mein Atelier – Courbet gewidmet knüpfte er an das wegweisende Werk von Gustave Courbet (1819–1877) an, einem der bedeutendsten französischen Künstler des Realismus und begeisterten Sozialisten. „An seiner Biografie fesselte mich, daß er sich zum Sozialismus bekannt und aktiv in die Politik eingemischt hatte, dadurch war er mir nahe.“2 Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Idee der alten Künstlerwerkstatt durch ein neues Konzept ersetzt, in dem das Atelier zu einem Ort der individuellen und kollektiven Geisteshaltung wurde.3 In seinem Gemälde Das Atelier des Künstlers
Auch Sitte positioniert sich im Zentrum des Geschehens. Anders als Courbet überlässt er die Hauptrolle jedoch dem allegorischen Geschehen im Vordergrund. Seine Komposition wird von der großen Gestalt einer Afrikanerin dominiert, die sich in einer gekreuzigten Körperhaltung dynamisch nach vorn drängt. Energisch befreit sie sich aus den Fängen der Apartheid, um die Freiheitskrieger in den Kampf gegen die Rassentrennung zu führen. Am linken Rand hockt ein korpulenter Akt auf einem Stapel Bücher, dessen klare Sicht auf die Welt durch die Bild-Zeitung beschränkt ist. Mit dieser ironischen Inszenierung des kleinbürgerlichen Milieus stellt Sitte den aus Sicht der DDR geistigen Verfall der Gesellschaft in der BRD bloß und äußert eine Kapitalismuskritik im Sinne der Partei. Auch bei Sitte findet sich Courbets „nackte Wahrheit“, welche jedoch an den rechten Rand gedrängt wird. Den Unruhen in der Welt setzt der Künstler das kopulierende Paar entgegen, das hier als das neue intim-leibliche Sinnbild der Wahrheit auftritt.6 Der Künstler im Hintergrund wird zu einer Art Spiegelbild des Betrachters, der sich ebenfalls in das Chaos des Weltgeschehens begibt, wobei das Künstleratelier zum Ort der unmittelbaren Rezeption und der distanzierten Reflexion wird.
MEIN ATELIER – COURBET GEWIDMET
1976/77 · Öl auf Hartfaser 170 × 274 cm · mumok – Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, Leihgabe der Österreichischen Ludwig-Stiftung seit 1991
Auf der VIII. Kunstausstellung der DDR 1977 wurde vor allem Sittes politisches Bekenntnis in diesem Gemälde von der ostdeutschen Presse positiv bewertet.7 Im selben Jahr wurde erstmalig die offizielle DDR-Kunst, so auch Sittes Atelierbild, in das Programm der documenta 6 aufgenommen. Die kontroverse Kritik und die Künstlerproteste konnten das enorme Interesse der Besucher und einiger westlicher Künstler, u. a. Joseph Beuys’ (1921–1986), sowie der westlichen Sammler für die ostdeutsche Kunst nicht mindern.8 So erwarb der westdeutsche Unternehmer Peter Ludwig (1925–1996) das Gemälde 1978 für seine Sammlung.9
1 — Schirmer/Sitte 2003, S. 234.
2 — Ebd.
3 — Omar Calabrese: Die Geschichte des Selbstporträts, München 2006, S. 274 f.
4 — Werner Hofmann: Das Atelier. Courbets Jahrhundertbild, München 2010, S. 34 f.
5 — Ebd., S. 14 f., Calabrese 2006 (wie Anm. 3), S. 276 f.
6 — Martin Schieder: Drinnen, Draußen und Ich. Zum Künstleratelier in der DDR, in: Ortrud Westheider, Michael Philipp (Hrsg.): Hinter der Maske. Künstler in der DDR, München 2017, S. 73–89, hier. S. 82.
7 — Ingrid Schulze: Schöpferische Subjektivität in Beziehung zur Wirklichkeit. Gedanken zu Willi Sittes „Mein Atelier“ und Bernhard Heisigs „Die erste Bürgerpflicht“, in: Freiheit, Nr. 250, 22.10.1977.
8 — Lothar Lang: Ein Leben für die Kunst. Erinnerungen, Leipzig 2009, S. 297 f., 305.
9 — Susanne Jaschko: Selbstbildnis und Selbstverständnis in der Malerei der SBZ/DDR von 1945 bis in die achtziger Jahre, Diss. Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen 1989, X. Anlage: Interviews, 3. Interview mit Willi Sitte am 20.06.1995, S. 2; Reiner Speck: Peter Ludwig. Sammler, Frankfurt am Main 1986, S. 153.
SELBSTBILDNIS