Sittes Welt. Группа авторов
ein. Aus demselben Jahr stammt eines der beiden bekannten druckgrafischen Selbstporträts
Ein Blatt sei an dieser Stelle neu in die Reihe der Selbstbildnisse Willi Sittes eingeführt S. 62. Es handelt sich um eine undatierte mittelformatige Darstellung auf bräunlichem Papier. In jedem Fall stammt sie aus den 1940er Jahren, vermutlich aus der Zeit 1947/48.3 Vergleicht man den porträtierten jungen Mann mit den zuvor erwähnten Selbstbildnissen Sittes wie auch mit seinen späteren Selbstdarstellungen fallen die Ähnlichkeit der Gesichtszüge, vor allem des Ohres, der Augen und der Kinnpartie, und der markante skeptisch-misstrauische Blick auf, der dieses Blatt den bekannten Selbstporträts an die Seite stellt. Eine wohl nachträglich verwischte Bezeichnung auf der Vorderseite des Blatts unten links lässt sich leider kaum mehr entschlüsseln. Umso aufschlussreicher ist eine Beschriftung in Versform auf der Rückseite des Papiers, die von Sittes Hand mit Rötelkreide in Sütterlin aufgetragen und auf den 7. Oktober 1948 datiert wurde. Sie lautet: „Meinem teuersten All! / Alles Lebende ist vergänglich – / nur sie, die Kunst, sie dauert / ewig – ihr zu dienen, ist nichts / zu viel – ihr zu opfern, nichts / zu heilig. Durch sie, und wie der Mensch / sich zu ihr verhält, dokumentiert / sich der Mensch in seiner Qualität. / Wie Medizin dem Körper, so ist / sie der heilsamste Balsam für / krankende und gesunde Seelen. / – Und und und wieder Kopf hoch!!“
Die rückseitigen Zeilen, die einem künstlerischen Bekenntnis gleichkommen, vermitteln denselben melancholischschwermütigen Eindruck wie andere Arbeiten Willi Sittes aus den Jahren 1945 bis 1948, so zum Beispiel seine Parodia sulla malinconia aperta S. 177, das Blatt Existenzialismus S.194 4 oder sein Gemälde Zug ins Leben S. 207.5 Während in den ersten beiden Werken die gefährdete Existenz des Individuums noch ohne zuversichtliche Perspektive in die Zukunft dargestellt ist, wendet sich der prüfend-fragende Blick des Selbstporträts 1948 in Verbindung mit den Zeilen auf der Rückseite verhalten optimistisch an den Betrachter. Es ist der „heilsamste Balsam“ der Kunst, der Linderung und Überwindung verheißt und Sittes Leben bis zum Schluss vorantrieb.
Die nächsten Selbstbildnisse entstehen erst etwa 20 Jahre später, Mitte der 1960er Jahre. In den 1950er und frühen 1960er Jahren, in denen Sitte sich als Künstler durch die Partei immer wieder infrage gestellt sah, entstehen überraschenderweise keine Selbstdarstellungen, zumindest sind keine überliefert. Das verwundert insofern sehr, als sich Sittes Lebenssituation um 1960 derart zuspitzte, dass er 1961 zwei Selbstmordversuche unternahm. Nichts davon reflektiert er in seinem Schaffen mithilfe seines ihm zur Verfügung stehenden künstlerischen Talents.
Erst 1963 – nach Überwindung der massivsten Gefährdungen – fertigte er wieder eine erste zeichnerische Selbstdarstellung S. 127 – in einer Zeit, die für ihn privat einen glückvollen Neuanfang mit seiner zweiten Ehefrau Ingrid S. 127 bedeutete. Selbstbewusst schaut er auf den Betrachter herab, die Zigarre im Mund. Die beiden Katzenköpfe vor und hinter seiner Rechten vermitteln etwas Humorvolles, Behagliches. Fünf Jahre später malt er sein zweites Selbstbildnis in Öl S. 74, allerdings nicht aus eigenem Antrieb heraus, sondern im Auftrag. Der Kardiologe Rudolf Zuckermann (1910–1995) war nicht nur eine Koryphäe seines Fachgebiets, sondern zudem ein hochgebildeter Intellektueller, der über eine umfangreiche Sammlung außereuropäischer Kunst verfügte, die er während seines Exils in Mexiko zusammengestellt hatte.6 Diese erweiterte er in seiner Zeit in Halle (Saale) gezielt u. a. durch bei lokalen Künstlern in Auftrag gegebene Selbstporträts.7 Sitte schuf für ihn ein sehr eindrucksvolles Bildnis seiner selbst, in dessen Gestaltung er in moderner Manier auch den Zierrahmen einbezog. Das Gemälde ist ein Beispiel für seine Rezeption der zeitgenössischen Malerei in Westeuropa und den USA.8 Wieder stellt sich der Künstler en face dar, allerdings verwehrt er dem Betrachter den Blickkontakt, da die Gläser seiner Brille aufgrund starker Reflexion einer gleißenden Lichtquelle weißlich blind sind,9 was jedoch die besondere Wirkung des Bildes eher steigert als beeinträchtigt. Das gesamte Gemälde ist ganz aus der Farbe heraus entwickelt und weist einen sehr freien Malstil auf, der Spontanes, Unmittelbares zulässt und integriert. Es ist alles andere als ein dem Sozialistischen Realismus verbundenes Werk. Vielmehr zeigt sich hier die fruchtbare Beschäftigung Sittes mit malerischen Entwicklungen der Pop-Art oder der expressiven, figurativen westdeutschen Kunst.
Zwischen 1975 und 1986 entsteht etwa ein Dutzend gemalter Selbstbildnisse des Künstlers, wobei auffällt, dass er sich in diesen Jahren selten in seiner Rolle als Maler darstellt, sondern in der Hauptsache privatim als Mann. Charakteristisch ist der direkte Blickkontakt mit dem Betrachter, wie er ihn seit seinem ersten Selbstbildnis entwickelt hat – entweder en face oder mit mehr oder weniger ausgeprägtem Schulterblick. Es fällt auf, dass Sitte sich oft in einem bedrohlich wirkenden Ambiente darstellt – wie im Bild von 1979 S. 75 – oder mit skeptisch fragendem Blick, als misstraue er seinem Gegenüber