Vorgeschichte des politischen Antisemitismus. Paul W. Massing

Vorgeschichte des politischen Antisemitismus - Paul W. Massing


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Kartells, mit 220 von 397 Reichstagssitzen eine ausreichende Mehrheit zu gewinnen. Die Freisinnigen verloren mehr als die Hälfte ihrer Mandate von 1884: von 67 blieben ihnen nur 32. Auch die Sozialdemokratie wurde durch die nationalistische Stimmung geschwächt: ihre Sitze verringerten sich von 24 auf 11. Dagegen konnten die Nationalliberalen ihre Sitze fast verdoppeln (51:99). Beim Zentrum allein änderte sich nichts: von den 99 Mandaten, die es 1884 errungen hatte, verlor es nur eins. Aber das Zentrum vermied einen ernstlichen Kampf gegen die Militärvorlage schon deswegen, weil der Papst Bismarcks Aussöhnung mit dem Katholizismus nicht gefährden wollte. Die Zentrumsabgeordneten enthielten sich der Stimme. Noch im Jahre 1887 konnte so Papst Leo XIII. den Kardinälen mitteilen, der Kulturkampf sei vorüber, und ein Jahr später, als der junge Kaiser Wilhelm II. zu einer aktiven Kolonialpolitik aufrief – »für die Abschaffung der Sklaverei« und um der christlichen Kultur willen – schwenkte das Zentrum zur Kolonialpolitik des Kartells um.

      Stoecker geriet durch die Kartellbildung in eine schwierige Lage. Es war wichtig für die neue Koalition, Reibungen unter den Teilnehmern zu vermeiden. Die Nationalliberalen jedoch, die vor nicht so langer Zeit noch als die »Partei der Juden« bekannt waren, wußten, daß sie von Freisinnigen und Sozialdemokraten wegen ihres Bündnisses mit einer Partei, die Stoecker deckte, angegriffen werden konnten. »Wir müssen uns davon frei machen«, schrieb der nationalliberale Führer Rudolf von Bennigsen an Miquel, »daß eine Unterstützung des Stoeckerschen antisemitischen Demagogentums uns durch die Gegner noch weiter angehängt wird.«111) Vorsicht und Mäßigung in antisemitischer Agitation waren jetzt unumgänglich, um Konservative und Nationalliberale beieinander zu halten. Stoeckers Bewegung lag als Hindernis auf dem Wege der neuen Verbindung.

      Die Norddeutsche Allgemeine Zeitung, Bismarcks Sprachrohr, forderte am 23. September 1885 Stoecker mit scharfen Worten auf, die Tätigkeit der christlichsozialen Bewegung auf das Gebiet der kirchlichen Wohlfahrtspflege zu beschränken. Die Konservativen wurden merkbar vorsichtiger in der Auswahl von Wahlkandidaten und unterließen es, notorische Antisemiten für Berlin aufzustellen.

      Stoeckers enge Verbindung mit den Konservativen wurde jetzt auch für die Christlichsoziale Partei eine schwere Belastung. Er war im preußischen Landtag und im Reichstag zu einem Wortführer der Konservativen geworden. So war die Christlichsoziale Partei durch ihren Vorsitzenden in all die politischen Gefahren verstrickt worden, die sich aus der Art und Weise ergaben, wie Bismarck mit Parteien und Parteigruppierungen umsprang. Einerseits profitierte sie von den Vorteilen, die sich aus der Unterstützung der Regierung durch die Konservativen ergaben, andererseits aber mußte sie, wenn die Konservativen gegen Bismarck auftraten, alle Nachteile einer Oppositionspartei in Kauf nehmen. Das konnte angehen, solange die Konservativen das Bündnis mit den Antisemiten nicht als Hindernis für eine vorteilhaftere politische Verbindung empfanden. Das gerade taten sie jetzt. Die konservativ-nationalliberale Allianz bedeutete den Untergang für die Berliner Bewegung als einer Koalition antiliberaler und antisemitischer Gruppen. Nur der unentwegte Kreuzzeitungsflügel polemisierte gegen das Kartell und trat für eine Zusammenarbeit der Konservativen mit dem Zentrum ein. Gestützt auf diese rechte Opposition konnte Stoecker weiterhin Bismarcks »Politik der Mitte« angreifen. Die Christlichsoziale Partei aber fand sich in einer ausweglosen Situation: solange die Regierung sich auf die Nationalliberalen stützte, eine der beliebtesten Zielscheiben für Stoeckers antisemitische Attacken, und solange das Kartell zusammenhielt, blieb der Partei nichts anderes übrig, als die Regierung selber zu bekämpfen. Aber »eine Oppositionspartei unter Führung eines Hofpredigers war … in Preußen ein unmöglicher Gedanke«112).

      Noch mehr kompromittierte sich Stoecker, als er in eine Intrige gegen Bismarck verwickelt wurde; sie stand unter Graf Alfred von Waldersees Führung, der damals stellvertretender Chef des Generalstabes und Generalquartiermeister der Armee war. Bismarck hatte Waldersee im Verdacht, auf die Kanzlerstellung zu aspirieren und sich bei Prinz Wilhelm, dem Thronfolger, einzuschmeicheln. Auf Anregung des Prinzen lud Waldersee im November 1887 eine Anzahl Würdenträger ein, die darüber beraten sollten, wie Gelder für die Berliner Stadtmission aufgebracht werden könnten. Prinz und Prinzessin Wilhelm, Stoecker, der preußische Innenminister von Puttkamer und andere Minister, Hofleute und führende Konservative waren anwesend. Waldersee sprach über die Dringlichkeit, »anarchistische« Tendenzen mit geistigen und materiellen Mitteln zu bekämpfen; die Mission müsse ein Sammelbecken werden für alle diejenigen, die treu zum König hielten und patriotischen Idealen huldigten. Er regte an, aus allen Teilen des Reiches ein Komitee zur Förderung der Mission zusammenzurufen und unter das Patronat des Prinzen zu stellen. Mit Wärme ging der Prinz auf diesen Vorschlag ein, denn er sei besorgt über die geistige Verkommenheit der Berliner Massen und über die Kräfte sozialer Zerstörung, die nur durch christliche und soziale Gesinnung überwunden werden könnten.

      Die liberale und regierungsfreundliche Presse zog sofort die politischen Folgerungen aus der Zusammenkunft und griff den Kreis um Waldersee als einen ehrgeizigen klerikal-konservativen Klüngel an, der versuche, den künftigen Kaiser für seine eigenen Zwecke einzuspannen.

      »An demselben Abend brach in Berlin und Wien der Sturm los«, schrieb Stoecker später darüber. »Was die Berliner Juden aus Furcht vor Strafe nicht den Mut hatten, zu sagen, das sagten die Wiener; es war ein schlimmes Treiben … aber … gefährlich war es nicht. Was ging diese Fremdlinge, die Feinde unseres Glaubens, ein christliches Hilfswerk an? Man konnte ihre boshaften Äußerungen verachten und tat es auch. Da mit einem Male hörte man ein Pfeifen wie das eines herannahenden Föhns im hohen Gebirge. Die ‚Norddeutsche Allgemeine Zeitung' warf sich mit einem wilden Artikel auf die Christlich-Sozialen … Jetzt schrieb das offiziöse Blatt: die christlich-soziale Partei sei einseitig konfessionell und überhaupt keine politische Partei; sie sei das tote Gewicht der Berliner Bewegung, mit dem sich die Kartellparteien nicht amalgamieren sollten; nicht sie sei der Sauerteig der Berliner Bewegung, sondern der Antisemitismus allein. – Dieser Artikel war das Signal zum allgemeinen Angriff. Von wem er ausging, konnte nicht zweifelhaft sein …«113)

      Bismarck erklärte später, weder er noch sein Sohn sei der Verfasser dieses und der darauf folgenden Artikel in der Norddeutschen Allgemeinen gewesen114). Aber wie ernst er die intime Zusammenkunft des Prinzen mit Waldersee und Stoecker nahm, zeigen seine Memoiren. Im dritten Band seiner »Gedanken und Erinnerungen«, in dem er seine Beziehungen zu Prinz Wilhelm beschreibt, befaßt sich das erste Kapitel fast nur mit der Waldersee-Angelegenheit und dem daraus entstandenen Briefwechsel mit dem Prinzen über Stoecker. Er riet dem Prinzen dringend ab, die Schirmherrschaft über die Mission zu übernehmen, und »sich vor der Thronbesteigung schon die Fessel irgendwelcher politischen oder kirchlichen Vereinsbeziehungen aufzuerlegen«115). Diese Auseinandersetzung legte den Keim für die Entfremdung zwischen dem Kanzler und dem künftigen Herrscher.

      Hinter jener dringenden Warnung Bismarcks lag mehr als persönliche Rivalität mit Waldersee. Zwar sollte der Hieb auf Stoecker gewiß Waldersee als möglichen Kanzler des Prinzen Wilhelm ausschalten; es ist bekannt, wie eifersüchtig und mißtrauisch Bismarck gegen Persönlichkeiten war, in denen er potentielle Nachfolger argwöhnte, wie schonungslos er sie aus dem Wege räumte. Aber hier ging es um ernstere Fragen. Der alternde Staatsmann beobachtete mit steigender Besorgnis und Gereiztheit jede neue Entwicklung, von der die noch ungefestigte Struktur des Reiches bedroht werden könnte. Würde sie dem wachsenden Druck innerer Konflikte standhalten? Würde sein Regierungssystem, das zwar nicht parlamentarisch, aber auch nicht gegen solche Konflikte geschützt war, allen Gefahren widerstehen? Bismarcks Vertrauen in seine eigene Fähigkeit, die Zukunft des Reiches zu sichern, mag unbegrenzt gewesen sein, aber seine Macht war es nicht.

      Die Stellung des Reichskanzlers war entscheidend geschwächt durch ihre strikte Abhängigkeit vom Kaiser. Da Bismarck die Parteien von oben herab zu behandeln pflegte, konnte er sich auf keine von ihnen unbedingt verlassen. Er war auch nicht der anerkannte Wortführer irgendeiner bestimmten sozialen Gruppe. Die besonders im Ausland verbreitete Annahme, er sei vor allem der Vertreter seiner eigenen Kaste, der Junker, gewesen, ist völlig abwegig. Selbst die preußische Armee blieb nur so lange ein williges Werkzeug in seiner Hand, als er das uneingeschränkte Vertrauen des Königs besaß. Wilhelm I. war allerdings völlig auf seinen Kanzler angewiesen. Solange der Kaiser lebte, durfte Bismarck hoffen, durch geschicktes Manövrieren oder, falls nötig, durch Verfassungsbruch die undemokratische


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