Vorgeschichte des politischen Antisemitismus. Paul W. Massing
gegen bedingungslose Treue zu Kaiser und Reich, zu opponieren. Die konservativ-monarchischen Kräfte konnten ihre Ernte einbringen.
Kaum hatte Bismarck die Sozialdemokratie aus dem Wege geräumt, als er sich anschickte, den Liberalismus vollends niederzuringen. Die Regierung begann eine systematische Konsolidierung der Staatsverwaltung und eine Reorganisierung des Beamtentums, aus dem alle »unzuverlässigen«, das heißt alle liberalen Elemente entfernt wurden; besonders das Heer sollte vor Ansteckung durch den Liberalismus geschützt werden78). Die Konservativen aller Richtungen und das Zentrum–Bismarcks neue Reichstagsmehrheit – nahmen die Vorlage für eine neue Wirtschaftsund Sozialgesetzgebung an. Ideologisch und wirtschaftlich einigte diese Politik die Kräfte, die unter der Autorität von Thron und Altar einen »christlich-nationalen Staat« wünschten. Der Liberalismus, in die Enge getrieben durch die manipulierte Angst vor der sozialistischen Revolution, hatte ausgespielt. Sein rechter Flügel, die Nationalliberalen, war seitdem stets bereit, sich auf die Seite der herrschenden Macht zu schlagen, falls diese ihn überhaupt als Partner akzeptieren wollte. Die zusammengeschrumpfte Fortschrittspartei – »Vorfrucht der Sozialdemokratie« hatte Bismarck sie genannt79) – kam als Teilnehmer an einer parlamentarischen Mehrheit sowieso nicht in Frage.
KAPITEL III
Konservativer Staat und soziale Demagogie
Der Antisemitismus hatte gute Dienste geleistet, als es galt, politischen Katholizismus und preußischen Konservatismus zusammenzukoppeln, schwankende Liberale einzuschüchtern und nationalistische Instinkte zu entfesseln. Seine Wortführer konnten sich jetzt auf gute Beziehungen zur Staatsautorität berufen; wenn diese auch lässige Vorbehalte machte, kam ihr die Judenhetze doch recht gelegen. Der politische Antisemitismus wurde respektabel, weil es sich immer deutlicher zeigte, daß die Regierung ihm den Rücken stärkte. Eugen Richter, der Führer der Fortschrittspartei, sagte am 12. Januar 1881 im Reichstag:
»Die Bewegung fängt an, sich an die Rockschöße des Fürsten Bismarck zu hängen, und wenn er sie gleich ablehnt und in seiner Presse die Überschreitungen mitunter tadeln läßt, so fährt sie doch fort, sich an ihn anzuschmiegen und sich auf ihn zu berufen, gleichsam wie lärmende Kinder ihren Vater umdrängen.«80)
In Wilhelm I. fand Stoecker einen wohlwollenden Monarchen; er wußte die Anstrengungen seines Hofpredigers für Thron, Altar und nationalen Staat zu würdigen, wenn ihn auch Stoeckers öffentliche Agitation unangenehm berührte. Fürst Hohenlohe, damals deutscher Botschafter in Paris, bemerkte nach einem Besuch beim Kaiser am 29. November 1880:
»Der Kaiser billigt nicht das Treiben des Hofpredigers Stoecker, aber er meint, daß die Sache sich im Sande verlaufen werde, und hält den Spektakel für nützlich, um die Juden etwas bescheidener zu machen.«81)
Des Kaisers Besorgnis galt wohl weniger den Gefahren, die Stoeckers Agitation für die Juden barg, als vielmehr denen, die sie womöglich durch eine Aufwiegelung der Massen heraufbeschwören könnte. In seiner Unterhaltung mit dem Botschafter gab er jener Furcht Ausdruck, die einen Konservativen immer befällt, wenn er sich sozialer Agitation gegenübersieht, sei sie nun revolutionärer oder demagogischer Art. Andererseits war er von Stoeckers Verehrung angetan und hörte viel Gutes über den Hofprediger von dessen Freunden unter den hohen evangelischen Würdenträgern und der preußischen Aristokratie. Der Kaiser schwankte und spürte die Gefahren nur dunkel; Bismarck dagegen war sich ihrer völlig bewußt. Das zeigte sich eindeutig in den Folgen von Stoeckers Angriff auf Bleichröder.
Um die sozialdemokratischen Angriffe gegen Kirche und Staat abzuwehren, hatte Stoecker auf einer Massenversammlung am 11. Juni 1880 Bleichröders Namen in die Debatte geworfen. Sozialdemokraten unter den Zuhörern, so berichtete Stoecker später, »schmähten die christliche Kirche und Geistlichkeit, daß diese nichts für die Arbeiterwelt getan habe. Die jüdische Tendenz war unverkennbar. Daraufhin rief ich ihnen zu, sie möchten nicht bloß von uns, sondern auch von den Juden Hilfe fordern, z. B. von Herrn Bleichröder, der habe mehr Geld als alle Pastoren zusammen.«82) Eine Woche darauf beschwerte sich Bleichröder in einem Brief an den Kaiser über den Zwischenfall und die christlichsoziale Agitation im allgemeinen. Der im Archiv des Kaiserlichen Geheimen Zivilkabinetts von Frank gefundene Brief ist ein interessantes Zeitdokument, nicht zuletzt deswegen, weil er zeigt, wie sehr der jüdische Bankier sich mit Staat und Thron identifizierte. Bleichröder wies auf die revolutionären Gefahren hin, die Stoeckers politische Tätigkeit in sich trage. Von sozialdemokratischer Agitation unterschiede sie sich einzig dadurch, daß sie »gefährlicher, weil praktischer« sei. Die ganze Sache könne nur auf eine Revolution hinauslaufen.
»Majestät«, schrieb er, »ich zittere nicht vor diesem letzten notwendigen Ereignis, wenn der Agitation nicht rechtzeitig Einhalt geboten wird. Ich versuche mich darauf vorzubereiten, so schweren Herzens ich das Vaterland auch meiden würde … Ich weiß, daß die hohe Staatsgewalt in der letzten und höchsten Katastrophe zu meinem Schutze kommen wird. Aber ich glaube annehmen zu dürfen, daß der Versuch einer Gewalt gegen mich, der in den Reden des Herrn Hofpredigers Stoecker und Genossen gegen mich heraufbeschworen wird, nicht vereinzelt stehen bleiben könnte, daß er vielmehr nur der Anfang des Unglücks einer furchtbaren sozialen Revolution sein müßte.«83)
Der Kaiser sandte den Brief an Bismarck; der gab ihn an den zuständigen preußischen Minister, Robert von Puttkamer84), weiter mit dem Aufträge, die Sache zu untersuchen und geeignete Schritte gegen Stoecker vorzuschlagen. Als naher Freund Stoeckers nahm Puttkamer sich mehrere Monate Zeit, bevor er dem Kanzler einen Entwurf unterbreitete, den dieser am 16. Oktober 1880 ablehnte. Wie Frank einer Kopie im Archiv des Evangelischen Oberkirchenrats entnahm, begründete der Kanzler seine Ablehnung mit folgenden Worten:
»Ich kann der Gesamtauffassung Ew. Exzellenz nicht unbedingt beitreten. Die Tätigkeit des Hofpredigers Stoecker bleibt meines Erachtens auch dann eine bedenkliche, wenn die von ihm veranstalteten Versammlungen ihren tumultuarischen Charakter verlieren sollten. Die Tendenzen, welche er verfolgt, decken sich in mehreren Punkten mit denjenigen der anderen Sozialdemokraten. Ew. Exzellenz erlaube ich mir in dieser Beziehung auf die Rede aufmerksam zu machen, welche Herr Stoecker vorgestern in der Generalversammlung des Zentralvereins für Sozialreform gehalten hat. Er bezeichnete hier die Intentionen der Regierung als ungenügend und als das zu erstrebende Ziel die ökonomische Sicherstellung der Arbeiter in Fällen der Arbeitslosigkeit; er fordert die Normalarbeitszeit und die progressive Einkommensteuer. Daß letztere nur eine verhältnismäßig sehr geringe Erhöhung der jetzigen Einkommensteuer bedeuten würde, sollte er wohl wissen; seine Zuhörer aber wissen es nicht. Wenn er die Normalarbeitszeit verlangt, so arbeitet er auf den Ruin unserer Industrie zugunsten ihrer Konkurrenten in England, Belgien, Frankreich usw. hin, und wenn er die ökonomische Sicherstellung des Arbeiters in Fällen der Arbeitslosigkeit fordert, so muß er sich klar sein, daß dieses Ziel ein faktisch unerreichbares ist. Er regt unerfüllbare Begehrlichkeiten auf.
Was speziell die Judenfrage betrifft, ist es ein Irrtum, wenn angenommen wird, daß die reichen Juden bei uns einen großen Einfluß auf die Presse ausüben. In Paris mag dies anders sein. Nicht das Geldjudentum, sondern das politische Reformjudentum macht sich bei uns in der Presse und in den parlamentarischen Körperschaften geltend. Die Interessen des Geldjudentums sind eben mit der Erhaltung unserer Staatseinrichtungen verknüpft und können der letzteren nicht entbehren. Das besitzlose Judentum in Presse und Parlament, welches wenig zu verlieren und viel zu gewinnen hat und sich jeder politischen Opposition anschließt, kann unter Umständen auch zu einem Bündnis mit der Sozialdemokratie, einschließlich Stoecker, gelangen. Gegen dieses richtet sich auch die Agitation des Herrn Stoecker nicht vorzugsweise; seine Reden sind auf den Neid und die Begehrlichkeit der Besitzlosen gegenüber den Besitzenden gerichtet.«85)
Bismarcks Sohn Herbert schrieb am 21. November 1880 dem Geheimrat Tiedemann, einem hohen Regierungsbeamten, sein Vater nehme viel mehr Anstoß an den sozialistischen als an den antisemitischen Tendenzen der Stoeckerschen Agitation.
»Auch gegen Bleichröder hetzt Stoecker nicht etwa, weil er Jude, sondern weil er reich ist. Für meine Beurteilung des Stoeckerschen Treibens sind namentlich die Versammlungsreden maßgebend, in welchen er den Arbeitern auf Kosten