Vorgeschichte des politischen Antisemitismus. Paul W. Massing
hassen, das ist, wie wenn einer seine Mutter haßt. Auch haben Sie dazu keinen Grund. Gewiß ist auch bei uns nicht alles, wie es sein sollte; wir sind eben auf der Erde und nicht im Himmel. Aber dazu hat Ihnen das deutsche Reich das allgemeine Stimmrecht aus freien Stücken gegeben, damit Sie in Frieden mit den andern beraten und beschließen, was zum Besten dient. Nicht dazu dürfen Sie Ihr Recht mißbrauchen, daß Sie auf Zertrümmerung Ihres Vaterlandes sinnen, das ist unvernünftig und undankbar. Aber Sie hassen auch das Christentum, Sie hassen das Evangelium von der Gnade Gottes. Man predigt Ihnen Unglauben, man lehrt Sie den Atheismus und Sie trauen den falschen Propheten …«57)
Ein Sozialdemokrat, der sich auf dieser Versammlung zu der neuen politischen Anschauung bekehrte, schrieb später seine Eindrücke nieder. Die Zuhörer, berichtete er, wurden unruhig während Stoeckers Rede, bewahrten aber Disziplin und ließen ihn ausreden. Dann begann Johann Most unter wildem Beifall eine heftige Ansprache, in der er das Christentum angriff und die Geistlichkeit der Unterwürfigkeit vor den Ausbeutern bezichtigte.
Mit großer Mehrheit nahm die Versammlung einen Beschluß an, der die »christlichsozialen« Vorschläge zurückwies. Er lautete:
»In Erwägung, daß ein fast 1900 Jahre währendes Christentum nicht im Stande gewesen ist, das Elend, die äußerste Not der überwiegenden Mehrheit der Menschheit zu lindern, geschweige denn ihnen ein Ende zu machen; in fernerer Erwägung, daß die heutigen Diener der Kirche keine Miene machen, das seither von ihnen beobachtete Verfahren zu ändern; in schließlicher Erwägung, daß selbst jede wirtschaftliche Errungenschaft, sei sie groß oder klein, völlig ohne den gleichzeitigen unbeschränkten Besitz politischer Freiheit wertlos ist, und selbst bei Erfüllung des christlichsozialen Programms die Sache beim alten bleibt, dekretiert die Versammlung, daß sie lediglich und allein von der sozialdemokratischen Partei eine gründliche Beseitigung aller herrschenden politischen und wirtschaftlichen Unfreiheiten erhofft, und daß es ihre Pflicht ist, mit allen Kräften für die Lehren dieser Partei einzutreten und dafür zu wirken.«58)
Stoecker ließ sich durch den anfänglichen Mißerfolg nicht entmutigen, sondern fuhr fort, eine Reihe wöchentlicher Versammlungen einzuberufen; schließlich wurde »auf dem Boden des christlichen Glaubens und der Liebe zu König und Vaterland« seine Partei organisiert. Sie lehnte die Sozialdemokratie als »unpraktisch, unchristlich und unpatriotisch« ab, befürwortete »eine friedliche Organisation der Arbeiter, um in Gemeinschaft mit den anderen Faktoren des Staatslebens die notwendigen praktischen Reformen anzubahnen«, und sah ihr Ziel in der »Verringerung der Kluft zwischen reich und arm« und in der »Herbeiführung einer größeren ökonomischen Sicherheit« (59).
War das Programm der neuen Partei auch zusammengestückelt, so hatte es doch seine innere Logik. Es mußte radikal genug sein, um Arbeiter von der Sozialdemokratie wegzulocken, durfte sich aber andererseits wichtige Mächte in Staat, Regierung und Wirtschaft nicht zu Gegnern machen. An peinlichem Befremden und offener Warnung vor den Folgen seiner Tätigkeit fehlte es Stoecker nicht; er klagte oft über die mangelnde Einsicht seiner konservativen Freunde. Das sensationelle Ereignis, daß ein Hofprediger am Getümmel politischer Agitation teilnahm, mußte natürlich mancherlei Kritik hervorrufen. Die Würde des Thrones drohte in Mitleidenschaft gezogen zu werden, und die evangelische Kirche fürchtete, man könne sie in kritischen sozialpolitischen Fragen auf eine Stellungnahme festlegen, die nicht mit der Billigung konservativer Kreise rechnen durfte. Außerdem betrachteten die Konservativen die Gründung dieser neuen Partei als Verletzung ihrer traditionellen Interessen.
Um das Mißtrauen seiner konservativen Freunde zu beschwichtigen, mußte Stoecker ihnen vor Augen führen, welch bedrohliche Folgen die Einführung des Systems der allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen im Reich mit sich bringen könne. In Preußen war seit der Gegenrevolution 1849/50 der überwiegende Einfluß der Konservativen immer noch zweifach gesichert, durch die feudale Zusammensetzung der oberen Kammer des Landtages – des Herrenhauses – und durch das indirekte »Drei-Klassen-Wahlrecht« zum Abgeordnetenhaus (60).
Wollten aber die Konservativen ihren Einfluß außerhalb Preußens ausdehnen und ihre Macht im Reich befestigen, wo das gleiche Wahlrecht für die männliche Bevölkerung herrschte, so gab es dafür nur einen Weg: die Partei des landbesitzenden preußischen Adels, der Hofkreise, der Armee und der protestantischen Hierarchie mußte eine Massenpartei im Reich werden. Das erforderte manche Konzessionen, die den eingefleischten Konservativen mit ihrer tiefverwurzelten Abneigung gegen demokratische »Pöbelherrschaft« höchst widerwärtig waren. Aber selbst wenn sie sich bereit gefunden hätten, ihrer Partei ein demokratischeres Gesicht zu geben, wäre es den Konservativen nicht leicht gefallen, die neue Rolle als Freunde der unteren Stände zu spielen. Die Erinnerung an 1848 und die nachfolgende Reaktionszeit war noch zu lebendig. Stoecker bestand daher auf der Bildung einer eigenen Organisation, die zwar in Freundschaft und Bündnis mit den Konservativen operieren, aber doch unabhängig bleiben sollte in ihrem Bestreben, der Sozialdemokratie eine christliche Arbeiterpartei entgegenzustellen und ein Sammelbecken für die »wertvollen Elemente in der Welt der Arbeit« zu bilden.
Die Beziehungen zwischen Stoecker und den Konservativen waren nicht unähnlich denen, wie sie ein halbes Jahrhundert später in der »Kampfzeit« zwischen Hitler und den Deutschnationalen bestanden. Um politisch zu gedeihen, brauchte die Christlichsoziale Arbeiterpartei ebensosehr Bewegungsfreiheit wie die National-Sozialistische Deutsche Arbeiterpartei. Es mußte ihr erlaubt sein, die privilegierten Schichten zu kritisieren und im Namen der Unterdrückten zu sprechen. Als »Anhängsel der konservativen Fraktion« konnten die Christlichsozialen keinen Erfolg haben. Die Arbeiter verlangten eine unabhängige Organisation zur Verteidigung ihrer Interessen. Wollte Stoecker dieses Versprechen geben, so mußte er die Freiheit haben, soziale Forderungen zu vertreten, auch wenn sie gegen Vorrechte verstießen, welche die Konservativen zu verteidigen entschlossen waren. Konflikte dieser Art sind unvermeidlich, wo ein Agitator zwei divergente politische Richtungen verkoppeln will. In den dauernden Reibungen und dem steten Mißtrauen, zu denen sie führen, drücken sich die objektiven Gegensätze der Kräfte aus, die der Agitator zu einigen unternommen hat.
So paradox es klingen mag, es war das Verlangen nach Demokratisierung des Staates, das bei der in Deutschland vorherrschenden Gesellschaftsschichtung dem politischen Antisemitismus den größten Antrieb gab. Die Feinde der Demokratie mußten sich schon damals demokratischer Methoden bedienen, um die alte Machtstruktur aufrechtzuerhalten. Der von der Aristokratie verachtete und gefürchtete städtische »Pöbel« war ein Machtfaktor geworden, soweit politische Entscheidungen von allgemeinen Wahlen abhingen. Man konnte die Organisierung der Massen nicht länger einfach dem Liberalismus oder Sozialismus überlassen. Stoecker erkannte das deutlich. Am 1. April 1881 sagte er in einer öffentlichen Versammlung in Stuttgart:
»Es gibt konservative Schichten, die sind so vornehm kühl, daß sie meinen, es schicke sich nicht, in Volksversammlungen hineinzutreten und da im Staube des Schlachtfeldes Kämpfe auszufechten … Wir haben den Gegnern die Positionen des Volkslebens überlassen; nun stehen sie auf den Höhen mit dem ganz groben und feinen Geschütz der Presse, der Volksversammlungen ausgerüstet; und wir müssen eine Stellung nach der anderen erst wieder zurückerobern … Was gerade den Konservativen fehlt, das sind große, das ganze Volksleben umfassende, anregende, bewegende Gedanken. Die anderen Parteien haben solche Gedanken gehabt; der Nationalliberalismus hatte die nationale Einheit, er hatte den großen Begriff der persönlichen Freiheit … Die Einheit haben wir, und der Freiheit mehr als zuviel. Auf dem Boden der Freiheit suchen wir heute wieder mehr Ordnung herzustellen, heute werden es andere als jene liberalen Gedanken sein, die unserem Volk eingehaucht werden müssen. Ich glaube, sie bewegen sich um diese beiden Worte ›christlich und sozial‹«.61)
Die Demokratisierung des Staates erhöhte gleichzeitig die Chancen, als Gegenmaßnahme gegen die demokratische Mehrheitsherrschaft eine Massenbewegung von rechts organisieren zu können. Der anonyme, von Rang und Stand unabhängige Stimmzettel erschien nicht nur der Aristokratie als ein Ausdruck sozialer Gleichmacherei. Daß bei den Wahlen die Stimme eines Arbeiters, eine Sozialdemokraten, eines Juden, eines arbeitslosen Taugenichts ebensoviel gelten sollte wie die Stimme achtbarer Leute – die von Beamten, Lehrern, Gewerbetreibenden und Landwirten – war auch standesbewußten Mittelstandsgruppen unerträglich. Sie weigerten sich, die peinliche Tatsache hinzunehmen, daß das industrialisierte