Vorgeschichte des politischen Antisemitismus. Paul W. Massing
sei unvereinbar mit christlicher Nächstenliebe, stellte das Blatt fest und fragte sich, ob die Germania nicht der Kreuzzeitung in die Falle gegangen sei; der Verfasser der Germania-Artikel könne sehr wohl Hermann Wagener sein, ein Vertrauter Bismarcks, und die Anregung sei möglicherweise direkt vom Kanzler gekommen, der auf diese Weise eine Änderung seiner Politik vorbereiten wolle. Ob die Schlesische Zeitung mit dieser Vermutung recht hatte, läßt sich kaum feststellen. Wawrzinek44) nimmt an, daß die Germania-Artikel von Joseph Cremer stammten, der später einer der Führer und Bismarcks Agent in Adolf Stoeckers antisemitischer Berliner Bewegung wurde. Ob jedoch von oben inspiriert oder nicht, die Artikel taten ihr Werk: zwei ehemalige politische Opponenten stießen auf einen gemeinsamen Feind. In der antijüdisch-antiliberalen Kampagne fanden sich katholische Gegner des Preußentums und protestantisch-konservative Antikatholiken zusammen.
Von der liberalen Geschichtsschreibung ist das heftige Aufflammen von politischem Antisemitismus in den katholischen Kreisen der siehziger Jahre oft als eine bedauerliche Episode in einer sonst harmonischen Beziehung zwischen zwei Minderheitsgruppen betrachtet worden, als ein faux pas der gereizten Kirche, den sie schnell wieder korrigiert habe. Eine solche Erklärung dürfte kaum genügen. Die Zentrumspartei war dabei, eine exponierte strategische Stellung im Reichstag zu beziehen, die sie von 1879 bis zum Ende der Weimarer Republik nicht wieder verlieren sollte. Als eine konfessionelle Partei, deren Mitglieder sich aus allen sozialen Klassen rekrutierten, war sie in der Lage, politische Bündnisse mit der Rechten und der Linken einzugehen, ohne befürchten zu müssen, ihre Anhänger könnten ihr davonlaufen. Als Bismarck Ende der siebziger Jahre den Kulturkampf abbrach, gewährten ihm die Katholiken als Gegenleistung bedingte parlamentarische Unterstützung. Die nationalliberale Ära war vorbei; mit ihr erlosch der stärkste Anlaß für Antisemitismus in den katholischen Reihen (45).
Die Strategie der Katholiken den Juden gegenüber hatte also wohl ebensowenig etwas mit christlichen Prinzipien zu tun wie die der protestantischen Konservativen. In erster Linie waren es politische Erwägungen, von denen sich der Katholizismus leiten ließ. Daß seine Beziehung zu den Juden im weiteren Verlauf der deutschen Geschichte nicht unfreundlich war, beruhte auf anderen Faktoren als auf dem christlichen Glauben an die Brüderlichkeit der Menschen (46).
In seinem Vorhaben, Deutschland zu einigen und zu einer modernen Großmacht zu entwickeln, war Bismarck gezwungen gewesen, sich auf den Liberalismus zu stützen, nicht aus innerer Neigung, sondern weil die immer noch halbfeudale preußische Aristokratie seinen Plänen lauwarm gegenüberstand. Schon in den siebziger Jahren jedoch wurde es immer klarer, daß es auf die Dauer kaum möglich sein werde, das Reich mit einer liberalen Mehrheit zu regieren, ohne dafür drastische Änderungen in der Machtstruktur des Staates in Kauf nehmen zu müssen. Schon seit der Reichsgründung standen die nivellierenden Tendenzen von Handel und Industrie in scharfem Konflikt mit den ständischen Interessen der preußischen Aristokratie und Monarchie. Das Staatsgefüge konnte diese Spannungen nicht eliminieren, sie lagen in ihm selbst begründet (47).
Während seiner ganzen Kanzlerschaft war es Bismarcks Bestreben, zu verhindern, daß die konstitutionelle Regierungsform unter liberalem und sozialistischem Druck von der parlamentarischen abgelöst werde. Das allgemeine und gleiche Wahlrecht, eine notwendige Konzession an den Liberalismus, beschwor ständig diese Gefahr, und des Kanzlers Abhängigkeit von den Nationalliberalen verstärkte sie noch. Die Liberalen gewährten ihre Unterstützung nicht ohne Gegenleistung. Sie drängten auf Liberalisierung des Staatsapparates und auf Demokratisierung der Verwaltungslaufbahn, die immer noch weitgehend ein Monopol des Land- und Dienstadels war. Sie betrieben eine Wirtschaftspolitik, die wachsende Opposition hervorrief und die Führung der Regierungsgeschäfte komplizierte. Es tat der Stellung des Kanzlers als eines »ehrlichen Maklers« zwischen Vertretern gegensätzlicher Interessen nicht gut, daß er in Abhängigkeit zu einer einzelnen Partei geraten war. Angesichts seiner Position und der politischen Aufgaben, die er sich gesetzt hatte, mußte ihm daran liegen, daß sich im Parlament keine ständigen Mehrheiten gruppierten.
Die von der Wirtschaftskrise hervorgerufenen sozialen und politischen Spannungen ließen bald eine neue Gefahr am politischen Horizont auftauchen, die es Bismarck noch schwerer machte, seinen Kurs einzuhalten. Im Mai 1875 vereinigten sich in Gotha die beiden Hauptorganisationen der sozialistischen Arbeiterschaft – der von Lassalle 1863 in Leipzig gegründete Allgemeine Deutsche Arbeiterverein und die von den Anhängern von Karl Marx, insbesondere Wilhelm Liebknecht und August Bebel, 1869 in Eisenach gegründete Sozialdemokratische Arbeiterpartei – zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (48). In den Wahlen von 1874 hatten die beiden Richtungen zwar erst neun Reichstagssitze erhalten, und ihrer Ideologie nach war die neue Partei scharf gegen die Grundsätze des bürgerlichen Liberalismus gerichtet, in der parlamentarischen Praxis aber spielte sie doch die Rolle eines Verbündeten der linken Liberalen; beide erstrebten eine parlamentarische Regierungsform. Bismarcks vordringlichste Aufgabe wurde es jetzt, seinen Obrigkeitsstaat gegen den Einbruch einer gefährlichen Koalition zu verteidigen; seine politische Strategie zielte darauf ab, die Liberalen zu schwächen und die Sozialisten zu unterdrücken.
Sozialgesetzgebung und Schutzzollpolitik, so hoffte der Kanzler, würden es der Regierung ermöglichen, sich die von der Krise verursachte allgemeine Unzufriedenheit zunutze zu machen. Staatseingriffe sollten die liberalen Vorkämpfer des Freihandels in Verlegenheit setzen und schwächen, dagegen Macht und Ansehen des christlichen Staates stärken und den Sozialdemokraten den Wind aus den Segeln nehmen. Zur Durchführung seiner Absicht aber brauchte Bismarck die Unterstützung einer ihm wohlgesinnten Reichstagsmehrheit, die er in diesem Falle nur von den Konservativen und Katholiken erhoffen konnte. Die Grundlagen für eine Koalition der beiden Parteien waren im Laufe der antisemitisch-antiliberalen Kampagne gelegt worden. Daß Bismarck persönlich dabei aufs heftigste angegriffen worden war, trübte nicht seinen Blick für die Möglichkeiten, die sich aus der Neugruppierung ergaben.
* Sämtliche Anmerkungen befinden sich am Schluß des Buches, S. 229 ff. Die hochgestellten Ziffern, z. B. 2), beziehen sich auf reine Quellenangaben, die in Klammern gesetzten, z. B. (4), auf sachliche Anmerkungen, die dem besseren Verständnis des Textes dienen. (Anm. d. Bearbeiters.)
KAPITEL II
Der christlich-konservative Gegenangriff (1879-1886)
In den Jahren stockender Wirtschaftsentwicklung und gesellschaftlicher Malaise zwischen 1874 und 1878 setzte sich im neuen Reich eine verwickelte soziale und politische Umorientierung durch. Das Elend der großstädtischen Massen und ihre zunehmende Entfremdung von Kirche und Staat erregte allgemeine Besorgnis; die »soziale Frage« wurde zum Thema der Zeit, zu einem Gegenstand endloser Diskussionen in Presse und Predigt. Überall war der Schrei nach »Reformen« zu hören, Reformvereine aller Art schossen aus dem Boden. Der Zentral-Verein für Sozialreform, angefeuert von dem evangelischen Pfarrer Rudolf Todt, lenkte die Aufmerksamkeit auf das Elend von vernachlässigten städtischen und ländlichen Gruppen und verlangte Abhilfe durch die Regierung. Die Gewerbetreibenden riefen nach »Steuer- und Gesetzreformen«, die Industriellen verlangten »Schutz der nationalen Arbeit«. Der 1873 gegründete Verein für Sozialpolitik war die Organisation der Reformer an den Universitäten, denen ein nationalliberaler Journalist, H. B. Oppenheim, den Spitznamen »Kathedersozialisten« anhängte. Nicht der Sozialismus hatte sie zusammengeführt – sie gehörten den verschiedensten politischen Richtungen an – sondern die ihnen gemeinsame Ablehnung des »Manchestertums« der Nationalliberalen und die Besorgnis über die sozialen Folgen des entfesselten Kapitalismus. Im Verein für Sozialpolitik fanden sich solch hervorragende akademische Lehrer wie Gneist, Roscher, Schmoller, Brentano, Knapp, Conrad und Adolph Wagner zusammen.
Die Programme dieser neuen Reformbewegungen und -organisationen zeigten oft deutliche Spuren von Antisemitismus; sogar bei den Kathedersozialisten konnte man sie finden. Wagner, einer ihrer bekanntesten Führer, war ein persönlicher Freund von Adolf Stoecker und übernahm für einige Jahre das Amt eines Ehrenvorsitzenden von Stoeckers Christlichsozialer Partei und die Präsidentschaft des Stoeckerschen Evangelisch-Sozialen Kongresses. Es war wohl nicht reiner Zufall, daß der Verein für Sozialpolitik in einer