Vorgeschichte des politischen Antisemitismus. Paul W. Massing
hervor.
In einer Schrift des Königl. Stadtgerichtsrats C. Wilmanns trat die enge Verbindung von mittelständischer Sozialreform und Antisemitismus offen zutage. In »Die ›goldene‹ Internationale und die Notwendigkeit einer sozialen Reformpartei« befürwortete Wilmanns die Aufhebung der Macht des »Geldkapitals« gegenüber Landwirten, Handwerkern und kleinen Industriellen, und zwar sollte das durch eine neue Finanzpolitik erreicht werden. Er trat besonders für ein neues Landrecht ein. Es sollte das römische Recht ersetzen, das er als ein für eine freie Bauernschaft verderbliches Stadt- und Sklavenrecht bezeichnete. Seine Ansichten von der Notwendigkeit neuer Rechtsinstitutionen, welche »den Bedürfnissen und dem Charakter des Deutschen Volkes entsprechen«49), wurden später von den Rechtsphilosophen des Nationalsozialismus wieder aufgegriffen.
Alle diese Reformvorschläge zielten im wesentlichen darauf, das Vertrauen des Arbeiters in den Staat wiederherzustellen und die Position des kleinen Mittelstandes zu festigen. Der Widerhall, den die Bestrebungen der Reformer hervorriefen, war jedoch bei den beiden ungleich strukturierten gesellschaftlichen Schichten sehr verschieden.
Die Industriearbeiter hatten begonnen, das herrschende System mit steigendem Selbstvertrauen herauszufordern und durch ihre eigenen beruflichen, politischen und kulturellen Organisationen am Leben der Nation teilzunehmen. Sie erwarteten eine Verbesserung ihrer Lage aus eigener Kraft, nicht vom Wohlwollen eines Staates, der sich weigerte, die Herrschaft des Parlamentes anzuerkennen. Die entmutigten, entwurzelten und unorganisierten Mittelstandsgruppen dagegen waren nicht gewöhnt, auf sich selbst zu stehen; sie setzten ihre Hoffnung auf die Führung »starker Männer«.
Bis in die sechziger Jahre hatte sich der kleine Mittelstand den oberen Schichten des Bürgertums, die dem christlich-konservativen Staat noch immer feindlich gegenüberstanden, angeschlossen und die liberalen Bestrebungen unterstützt. Vom Liberalismus enttäuscht, unter starkem wirtschaftlichen Druck, begannen sie jetzt mehr und mehr, beim Staate Schutz und Gönnerschaft zu suchen. Ihrer Sache nahm sich ein Heer von Wortführern an, Geistliche und Professoren, Kurpfuscher und Besessene, verbitterte Journalisten und reaktionäre Romantiker. Ein evangelischer Pfarrer, Adolf Stoecker, war der erste, dem es gelang, die vielfältigen Klagen und Hoffnungen dieser Schichten zu kanalisieren. Er gab ihnen einen Namen, ein Ziel und eine politische Organisation (50).
Stoecker stammte selbst aus einer sehr bescheidenen Mittelstandsfamilie. Sein Vater hatte das Schmiedehandwerk gelernt, war ins Heer eingetreten und erwarb sich nach siebenundzwanzig Jahren Dienstzeit das Amt eines Gefängnisinspektors. Unter großen Entbehrungen brachten die Eltern es fertig, den 1835 geborenen Sohn durch Gymnasium und Universität zu schleusen. Er studierte Theologie, erwarb seinen Lebensunterhalt zuerst als Hauslehrer in ostpreußischen Adelsfamilien und wurde dann, nach den üblichen Anfangsstellungen in kleinen Gemeinden, Militärpfarrer. In Metz, bald nach der Annexion von Elsaß-Lothringen, fiel dem kaiserlichen Hof der patriotische Eifer des Divisionspfarrers auf; 1874 wurde er als Hof- und Domprediger nach Berlin berufen.
Seit seiner frühen Jugend hatte Stoecker eine Schwäche für den alten preußischen Adel, der für ihn die Gesellschaft verkörperte, in welcher sich christliche Tugenden und politische Prinzipien, persönliche und öffentliche Lebensführung ideal verbanden. Bei der Aristokratie glaubte er noch die Werte zu finden, die ihm alles bedeuteten: Liebe zum Vaterland, Ehre, Pflicht, Gehorsam und nicht zuletzt das Bewußtsein, daß der dem Adel zukommende Anspruch auf politische Herrschaft eine Verantwortung dem Volk gegenüber einschloß.
Stoeckers Amt und Persönlichkeit machten ihn zum rechten Mann für die Aufgabe, die er sich gesetzt hatte: die unteren Volksschichten in den christlich-konservativen Staat zurückzuführen. Als Hofprediger schien er auch für seine politische Tätigkeit die Billigung höchster Stellen zu finden. Durch seine engen Beziehungen zur Kreuzzeitung erhielt er Einfluß auf die angesehensten Gesellschaftskreise, und als Leiter der Berliner Stadtmission, der Wohlfahrtspflege der evangelischen Kirche, kam er in unmittelbare Berührung mit der großstädtischen Armut. Er war ein glühender Patriot (51), ein hervorragender Redner und unermüdlicher Arbeiter, von dem sein einstiger Schüler, der spätere Pazifist Hellmut von Gerlach, sagte, daß man ihm gegenüber nicht gleichgültig bleiben konnte: man mußte ihn hassen oder lieben52). Binnen weniger Jahre schmiedete Stoecker aus den Beschwerden des Mittelstandes, aus der Furcht vor der Sozialdemokratie und dem Haß gegen das »jüdische« Kapital eine machtvolle Bewegung.
Ein Brief, den Stoecker zur Rechtfertigung seiner sozialen und politischen Agitation 1878 an den Kronprinzen Friedrich schrieb (aber erst 1907, zwei Jahre vor seinem Tode, veröffentlichte), gibt uns einen ausgezeichneten Einblick in seine Beweggründe:
»… was mich trieb, war die Verzweiflung um mein armes Volk, das ich in den Abgrund rollen sah, und die Liebe zu den Seelen, die ich retten wollte … Seit beinahe zehn Jahren widme ich der sozialen Frage ein reges und ununterbrochenes Studium. In Berlin ergriff mich das Bewußtsein der Notwendigkeit, daß etwas geschehen müsse, um das Volk vom Abgrund zurückzurufen. Ich fand, daß Leute, die sich zur Kirche hielten, mit denen ich in freundschaftlicher Beziehung stand, dennoch mit den Sozialdemokraten stimmten, weil sie in dieser Partei die Vertretung ihrer Arbeiterinteressen erblickten. Da habe ich dann unter Gebet und Flehen den Entschluß gefaßt, mitten hinein in die Sozialdemokratie zu gehen, den wilden Stier bei den Hörnern zu fassen und mit demselben zu ringen … Seit fünfzehn Jahren ist das sozialistische Element der Köder, mit welchem die Arbeiter um ihren Glauben wie um ihren Patriotismus betrogen worden sind. Will man an ihre Herzen heran, so muß man die sozialen Dinge mitbesprechen.«53)
Stoecker nahm wirklich »den wilden Stier bei den Hörnern« in einer Massenversammlung, die in der Geschichte seiner Berliner Bewegung eine ähnliche Rolle spielt wie die erste Hitlersche Massenversammlung in München in der Geschichte der Nazibewegung (53a). Als Hauptredner war ein gewisser Emil Grüneberg angekündigt. Diesen Grüneberg, einen ehemaligen Schneider, hatte der Geschäftsführer der Berliner Stadtmission als einen augenscheinlich bekehrten Sozialdemokraten zu Stoecker geschickt. Stoecker, der für seinen Feldzug gegen die Sozialdemokratische Partei nach geeigneten Helfern suchte, nahm Grüneberg gern in Dienst, obwohl er über seinen zweifelhaften Charakter und seine Vorstrafen Bescheid wußte. Nach dem Polizeibericht war Grüneberg als sozialistischer Agitator Wohlhabende um Geld angegangen und aus der Sozialdemokratischen Partei ausgeschlossen worden; zweimal saß er im Gefängnis, zuerst wegen Majestätsbeleidigung, dann wegen Bettelei. Aber das hinderte den Hofprediger nicht, sich seiner zu bedienen (54). »Ohne einen Mithelfer aus den Arbeiterkreisen hätte ich die Sache nicht anfangen können«, bemerkte Stoecker nachträglich55).
Die Männer, die in den Eiskellersaal kamen, um Grüneberg zu hören, waren größtenteils Sozialdemokraten. Unter ihnen befand sich der Reichstagsabgeordnete Johann Most, einer der besten Redner der Partei und bekannt für seinen streitbaren Atheismus56). Die Sozialdemokraten bemächtigten sich sogleich der Versammlungsleitung, gewährten aber Redefreiheit. Grünebergs frömmelnde Plattheiten erregten nur Gelächter. Die Versammlung war nahe daran, statt zur Wiege der Christlichsozialen Arbeiterpartei ihr Grab zu werden. Da ergriff Stoecker das Wort. Seine Rede zeigte sofort, daß er auch eine feindselige Zuhörerschaft aufmerksam machen konnte. Er sprach zunächst von seiner eigenen niedrigen Herkunft; obwohl er jetzt den hohen Rang eines Hofpredigers habe, sei er doch selber aus der Welt der Arbeit gekommen und kenne ihr Elend. Dann beschrieb er die unheilvollen Auswirkungen der wirtschaftlichen Depression auf das Leben der Arbeiter und griff den Kapitalismus an, »diese Herrschaft der schrankenlosen Konkurrenz und des krassesten Egoismus«, die »von Krisis zu Krisis« führe. Als Abhilfe verlangte er soziale Reformen: Fürsorge für Arbeitsunfähige, Beschränkung der Frauen- und Verbot von Sonntagsarbeit. Schließlich drängte er die Arbeiter, seiner neuen Organisation beizutreten:
»Ich denke dabei an eine friedliche Organisation der Arbeit und der Arbeiter; ist diese geschaffen, dann kann man gemeinsam beraten und erstreben, was not tut. Aber das ist Ihr Unglück, meine Herren, Sie haben Ihren Sozialstaat im Kopfe. Und wenn man Ihnen die Hand bietet zu Verbesserungen, wenn man Ihnen helfen will, dann weisen Sie das höhnisch zurück und sagen: Wir sind mit nichts zufriedenzustellen, wir wollen den Sozialstaat. Damit verfeinden Sie sich die anderen Klassen, und der Haß verdirbt alles.