Vorgeschichte des politischen Antisemitismus. Paul W. Massing

Vorgeschichte des politischen Antisemitismus - Paul W. Massing


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durften. Über die Minderung ihres gesellschaftlichen Ansehens konnten sie sich mit defensiven Ideologien trösten; der Verlust der wirtschaftlichen Sicherheit jedoch ließ sich nur durch politischen Druck kompensieren. Voraussetzung dafür war politische Organisierung. Die Konservativen, die sich nach Massenunterstützung umsahen, trafen auf Mittelstandsgruppen, die ihrerseits darauf drängten, »in die Politik zu gehen«.

      In der ersten Phase seiner politischen Laufbahn hatte Stoecker offen den Kampf gegen die Sozialdemokratie als die Hauptaufgabe seiner Partei bezeichnet. In dem oben erwähnten Brief an den Kronprinzen Friedrich von 1878 schrieb er:

      »Wir stehen eben vor der Wahl. Ich denke nicht daran, einen Sitz im Reichstag zu erhalten, aber ich denke, wir werden in den drei Wahlkreisen, in denen die Sozialdemokraten mächtig sind, soviel Arbeiterstimmen absplittern, daß die Sozialdemokratie nicht siegt. Sollten wir diesen Erfolg haben, so würde jeder die Richtigkeit unserer Aktion anerkennen müssen.«62)

      Stoeckers Hoffnungen sanken, als die Wahlen mit einer völligen Niederlage der Christlichsozialen Arbeiterpartei endeten. In ganz Berlin erhielten Stoeckers Kandidaten weniger als 1500 Stimmen, die der Sozialdemokraten dagegen 56000. Der Versuch, die revolutionäre Organisation der Arbeiter durch eine konservativ-klerikale zu ersetzen und das Berliner Proletariat wieder mit Kirche und Staat zu versöhnen, war gescheitert.

      Damit trat Stoeckers Bewegung in eine neue Phase. Ihr Programm enthielt zwar weiterhin die Forderung nach arbeiterfreundlichen Sozialreformen, aber die Partei nahm nach 1878 sehr schnell einen anderen Charakter an: »christlichsozial« wurde gleichbedeutend mit »antijüdisch«. Mit dem Angriffsziel der Partei wandelte sich auch ihre politische Anziehungskraft. 1881 verschwand das Wort »Arbeiter« aus ihrem Namen; sie nannte sich jetzt einfach Christlichsoziale Partei und gestand damit, daß der Angriff auf die Sozialdemokratie mißlungen war. Stoeckers Partei setzte sich fast nur noch aus Angehörigen des kleinen Mittelstandes zusammen.

      Stoecker hatte die Versöhnung von Staat und Proletariat vor Augen gehabt; durch systematische Staatsintervention sollte das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit menschlicher gestaltet werden; dafür hätten die Arbeiter die Autorität des christlichen Staates anzuerkennen. Weltanschaulich richtete sich dieses Programm gegen den Wirtschaftsliberalismus. Einige seiner Forderungen, wie Börsensteuer oder Wiedereinführung von Gesetzen gegen Wucherei, ließen erkennen, daß es den Liberalismus mit jenen wirtschaftlichen Übeln identifizierte, die man jüdischen Geschäftsmethoden zuzuschreiben pflegte. Solange Stoecker sich jedoch hauptsächlich an die industrielle Bevölkerung wandte, stand der Antisemitismus nicht im Vordergrund seiner Agitation. In der Parteiliteratur fanden sich in der Anfangsphase der Bewegung nur gelegentlich Äußerungen prinzipiell antisemitischen Charakters. So hieß es in einem Flugblatt, das Stoecker während des Wahlkampfes 1878 verteilte:

      »Wir achten die Juden als unsere Mitbürger und ehren das Judentum als die untere Stufe der göttlichen Offenbarung. Aber wir glauben fest, daß ein Jude weder in religiöser noch in wirtschaftlicher Hinsicht ein Führer deutscher Arbeiter sein kann. Die Christlich-soziale Arbeiterpartei schreibt das Christentum auf ihre Fahne …«63)

      Wer um die Arbeiter warb, durfte sich nicht auf eine offen antisemitische Agitation einlassen. Seit die Sozialdemokratie ihren Anhängern einhämmerte, daß es gleichgültig sei, ob ihre Ausbeuter jüdische oder christliche Kapitalisten seien und daß eine Judenhetze nur antirevolutionäre Zwecke verfolge, waren den Arbeitern antisemitische Demagogen verdächtig. Tatsächlich hatte der ungehemmte Antisemitismus seiner eigenen Parteigänger Stoecker häufig in Verlegenheit gesetzt, und er mußte ihre Ausbrüche auf seinen Parteiversammlungen mehr als einmal eindämmen. Erst am 19. September 1879, als die Aussichtslosigkeit des Versuchs, die Sozialdemokratie zu schwächen, offenbar geworden war, startete er seinen ersten unverbrämten antisemitischen Angriff mit einer Rede über »Unsere Forderungen an das moderne Judentum« (64).

      Die Rede verschlug dem politischen Leben Berlins den Atem. Stoeckers Agitation bekam neuen Auftrieb, seine schwache Partei erwies sich plötzlich als eine Kraft, mit der man rechnen mußte. Von 1879 bis in die Mitte der achtziger Jahre hielt die sogenannte Berliner Bewegung, mit Stoecker als ihrem hervorragendsten Führer, die Hauptstadt in Aufruhr. Ihr Gedankengut war ein Gemisch aus christlichsozialen, konservativen, orthodox-protestantischen, antisemitischen, sozialreformerischen und staatssozialistischen Elementen. Das Konservative Zentralkomitee wurde ihr Hauptquartier; Handwerker, Büroangestellte, Studenten, untere Beamte, kleine Geschäftsleute und andere Mittelständler stellten den größten Teil ihrer Anhängerschaft.

      Das Ziel, das Stoecker sich gesetzt hatte, trieb ihn dazu, den Antisemitismus zum Mittelpunkt seiner Agitation zu machen. Zwar war es ihm mißlungen, die Sozialdemokratische Partei zu verdrängen oder ihre Wählerschaft zu spalten, aber die Regierung hatte sich dieser Bedrohung auf ihre eigene Weise entledigt. 1878 war die Sozialdemokratie für gesetzwidrig erklärt worden; sie konnte nur noch unterirdisch weiterarbeiten. Der politische Liberalismus war jetzt der Hauptgegner, und im Kampf gegen »jüdischen Liberalismus« gab es keine bessere Waffe als Antisemitismus. Hinzu mag gekommen sein, daß Stoecker aus Furcht, von anderen Agitatoren überflügelt zu werden, den antisemitischen Kurs einschlug. Sein Freund und Biograph Oertzen stellt fest: »Die Notwendigkeit des Kampfes [gegen die Juden] ergab sich aus dem überschäumenden Interesse, das er erweckte. Tausende von Zeitungsartikeln, hunderte von Broschüren, ungezählte starke Bücher wurden verfaßt, um die [jüdische] Frage zu erörtern und klare Ziele herauszuarbeiten.«65)

      Stoecker selber betrachtete sich nie als Antisemiten; sein erklärtes Ziel war, die Flamme des Christentums in den Herzen seiner Anhänger zu schüren und seine Bewegung auf den Felsen des christlichen Glaubens zu gründen, nicht auf den Haß gegen die Juden. Am 23. September 1880 schrieb er dem Kaiser:

      »Im übrigen habe ich in allen meinen Reden gegen das Judentum offen erklärt, daß ich nicht die Juden angreife, sondern nur dies frivole, gottlose, wucherische, betrügerische Judentum, das in der Tat das Unglück unseres Volkes ist.«66)

      Offenbar aber lockten seine antijüdischen Attacken und seine mittelständlerischen Forderungen mehr Zuhörer an als der christliche Inhalt seiner Reden (66a). Stoeckers Biograph Frank ermittelte aus Polizeiakten, wie stark der Besuch verschiedener seiner Veranstaltungen war67):

DATUM THEMA BESUCHERZAHL
5. März1880 König Hiskia und der Fortschritt 1000
9. April1880 Die Judenfrage 2 000
30. April1880 Ist die Bibel Wahrheit? 500
24. September 1880 Die Judenfrage 2 000
19. November1880 Das Dasein Gottes 1000
17. Dezember1880 Das Alte und Neue Testament 700
21. Januar1881 Das Handwerk einst und jetzt 2 500
28. Januar1881 Die Sünden der schlechten Presse 3 000
4. Februar1881 Die Judenfrage 3 000
11. Februar1881 Obligatorische Unfallversicherung 3 000

      Wie tief die öffentliche Meinung aufgerührt war von dem Kampf gegen die Juden, geht aus der zeitgenössischen Literatur hervor. Wawrzinek stellt in seiner Studie »Die Entstehung der deutschen Antisemitenparteien (1873–1890)«68) eine Bibliographie von über fünfhundert Büchern, Broschüren und Artikeln aus jener Zeit zusammen,


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