Vorgeschichte des politischen Antisemitismus. Paul W. Massing
des Judentums in Presse und Parlament gerichtet hätte, würde Bleichröder keine Veranlassung gehabt haben, die Hilfe Seiner Majestät gegen seine Agitation anzurufen, und man hätte ihn gewähren lassen können: das Gefährliche ist aber die kommunistisch-sozialistische Tendenz der Stoeckerschen Aufreizung.«86)
Beide Bismarcks waren dafür, Stoeckers Partei unter Berufung auf das Sozialistengesetz für ungesetzlich zu erklären.
Soweit aber wollte wiederum der Kaiser nicht gehen. Er beendigte die Angelegenheit durch eine Mitteilung an den Hofprediger, worin er ihn tadelte, daß er in seinen an sich wohlmeinenden Bestrebungen Exzesse nicht vermieden habe. Der Kaiser sprach sein Bedauern darüber aus, daß Stoecker Begehrlichkeiten, zu deren Befriedigung auch er kein Mittel kenne, mehr erregt als beruhigt habe. Er habe die Aufmerksamkeit der Masse auf die Reichtümer Einzelner gelenkt und soziale Reformen vorgeschlagen, die über das Regierungsprogramm hinausgingen. Im ganzen aber blieb die kaiserliche Ermahnung schonend und entmutigte den Hofprediger nicht.
Während die Regierung noch die Bleichröder-Affaire beriet, hatte eine neue antisemitische Kampagne begonnen. Im Herbst 1880 machten sich Bernhard Förster, Max Liebermann von Sonnenberg, Ernst Henrici und andere antisemitische Führer der Berliner Bewegung daran, Unterschriften für eine Petition an den Reichskanzler zu sammeln. Ziel dieser sogenannten »Antisemitenpetition« war »die Emanzipation des deutschen Volkes von einer Art Fremdherrschaft, welche es auf die Dauer nicht zu ertragen vermag«87). Die Unterzeichner verlangten Verbot oder wenigstens Einschränkung der Immigration ausländischer Juden; Ausschluß der Juden von allen Regierungsstellen; beschränkte Zulassung von Juden bei den Gerichten, besonders als Richter; Ausschluß der Juden von Lehrerstellungen in Volksschulen; Verringerung jüdischer Lehrkräfte an höheren Schulen und Universitäten; Wiedereinführung des separaten Zensus für die jüdische Bevölkerung. Im April 1881 wurde die Petition mit etwa einer Viertelmillion Unterschriften Bismarck überreicht.
Im November 1880–die Unterschriftensammlung war noch im Gange – hatte die Fortschrittspartei im Preußischen Landtag eine Interpellation eingebracht; die Regierung wurde ersucht, eine Erklärung darüber abzugeben, welche Haltung sie gegenüber den Bestrebungen einnähme, jüdische Staatsangehörige ihrer bürgerlichen Rechte zu entkleiden. Es kam zu einer Debatte, die sich über mehrere Sitzungen hinzog. Der Vizepräsident des preußischen Ministerrats gab die kurze Erklärung ab, die Verfassung garantiere die Gleichheit aller Konfessionen, und die Regierung beabsichtige nicht, eine Änderung der gesetzlichen Stellung der Juden zuzulassen. Die Antisemiten schlossen daraus, die Regierung sei über die Interpellation ungehalten, und fühlten sich ermutigt, ihre Unterschriftensammlung nun erst recht fortzuführen.
Gegen Ende des Jahres 1880 schien die antisemitische Agitation im öffentlichen Leben Berlins zu dominieren. Eduard Bernstein beschreibt in seiner »Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung« die damalige Lage:
»Es war wie eine Sturzwelle judenfeindlicher Reaktion. Eine ganze Presse, die ihr Ausdruck gab, schoß ins Leben. Antisemitische Flugschriften und Schimpfblätter wider alles, was jüdisch oder jüdischer Sympathien verdächtig war, wurden in Massen verbreitet; sie predigten gesellschaftliche Ächtung der Juden, und diese Ächtung wurde auch verschiedentlich in verletzender Form in die Tat umgesetzt … Mit Rüpelszenen, wie sie Berlin zuvor nicht gekannt, wurde, nachdem am 30. Dezember 1880 eine große Antisemitenversammlung in der Bockbrauerei durch Reden der B. Förster, E. Henrici, Ruppel, Liebermann von Sonnenberg und anderer Führer der Bewegung bearbeitet worden war, in der Silvesternacht 1880/1881 das neue Jahr eingeläutet. Organisierte Banden zogen in der Friedrichstadt vor die besuchteren Cafés, brüllten, nachdem allerhand Schimpfreden gehalten worden, taktmäßig immer wieder »Juden raus!‹, verwehrten Juden oder jüdisch aussehenden Leuten den Eintritt und provozierten auf diese Weise Prügelszenen, Zertrümmerung von Fensterscheiben und ähnliche Wüstheiten mehr. Alles natürlich unter der Phrase der Verteidigung des deutschen Idealismus gegen jüdischen Materialismus und des Schutzes der ehrlichen deutschen Arbeit gegen jüdische Ausbeutung.«88)
Im Juni 1881 wurde der Reichstag aufgelöst, nachdem die liberale und sozialistische Opposition die Regierungsvorlage für eine obligatorische Unfallversicherung zu Fall gebracht hatte. Im darauffolgenden Wahlkampf erreichte der organisierte Antisemitismus einen Höhepunkt. Stoecker schreibt über die Stimmung der Wahlkampagne:
»Mit Naturgewalt brach sich die Überzeugung Bahn, daß die Hauptstadt des Deutschen Reiches nach den großen kriegerischen Siegen nicht in demokratischen jüdischen undeutschen Händen bleiben dürfe. Ein freudiges Arbeiten und Agitieren begann bei reich und arm, bei vornehm und gering … Zu dem in Hunderten von Volksversammlungen gesprochenen Wort kam das gedruckte hinzu. Der ›Reichsbote‹89) hatte schon das erste Aufflammen der christlich-sozialen Sache mit Freuden begrüßt, seitdem den Kampf mit seiner Teilnahme begleitet. Die ›Kreuz-Zeitung‹ verhielt sich einen Augenblick kritisch, stellte sich aber bald in die Reihen der Freunde. So war im Grunde alles, was sich in Berlin konservativ oder antifortschrittlich nannte, vereinigt und wirkte begeistert zusammen. Das Konservative Zentralkomitee, das viel geschmähte, viel gefürchtete C. C. C. kommandierte im Kampfe: Mit Gott für Kaiser und Reich.«90)
Am Vorabend der Wahl ließ Stoecker ein Flugblatt verbreiten, worin es hieß:
»Seit vier Jahren stehe ich in dem öffentlichen Leben von Berlin und bekämpfe offen und frei die Übermacht des Kapitals, unredliche Spekulation, schnöde Ausbeutung der Arbeit, großen und kleinen Wucher. Ich betrachte die Ansammlung des mobilen Kapitals in wenigen, meist jüdischen Händen als eine drohende Gefahr und als eine der Hauptursachen des sozialdemokratischen Umsturzes. Aber nicht bloß der Herrschaft des Mammons, auch den Revolutionsgelüsten der Sozialdemokratie, den unpraktischen und unerfüllbaren Versprechungen eines sozialistischen Volksstaates habe ich mich entgegengestellt und betont, daß die soziale Revolution überwunden werden müsse durch die gesunde soziale Reform auf christlicher Grundlage. Diese Reform steht gegenwärtig, von der starken Hand der Regierung angefaßt, als die größte Aufgabe der Gegenwart vor uns. Die Mitarbeit daran ist heute der wahre Fortschritt. Aber der Berliner Fortschritt, der sie mit allen erlaubten und unerlaubten Mitteln verhindern will, ist der Rückschritt … Will Berlin an der Spitze der sozialen und nationalen Bewegung bleiben, so muß es dem Fortschritt den Abschied geben … Herr Professor Virchow hat das Judentum verteidigt und für russische Wucherjuden (91) einen Aufruf unterschrieben … Ein fortschrittlicher Aufruf nennt ihn den Vertreter der Kultur und den Kandidaten der gebildeten Welt. Ich will keine Kultur ohne Deutschtum und Christentum; deshalb bekämpfe ich die jüdische Übermacht.«92)
Stoecker war es inzwischen gelungen, nicht nur Ladenbesitzer und Handwerker um sich zu scharen, sondern auch Offiziere und Beamte, Lehrer und Akademiker in freien Berufen – jene gebildeten Mittelstandsschichten, die sich immer stärker entfalteten, bisher aber wenig Interesse für die Konservative Partei bekundet hatten. Jetzt entstanden konservative Bürgervereine, und der 1881 gegründete Verein Deutscher Studenten gewann schnell an Einfluß. Die akademische Jugend, die bis 1848 liberalen und demokratischen Idealen gehuldigt hatte, dann aber in politische Gleichgültigkeit verfallen war, erwärmte sich langsam für die Idee des »nationalen« Staates. Die christlichsozialen Hilfstruppen der Konservativen waren eine Kraft geworden, auf die man im Kampf gegen die Liberalen nicht mehr verzichten konnte. Es gab sogar Anzeichen dafür, daß Bismarck die Christlichsoziale Partei anders einzuschätzen begann. Für Stoecker persönlich hatte er zwar noch immer nichts übrig und vermied es, mit ihm zu sprechen. Aus politischen Gründen schien es jedoch ratsam, Stoeckers Bewegung gegenüber eine weniger feindselige Haltung einzunehmen; offizielle wie auch private Äußerungen Bismarcks während dieser Periode zeigen, daß er sein Verhalten entsprechend geändert hatte.
In einer Kabinettssitzung am 14. November 1881 erklärte der Kanzler, er sei »nur gegen die fortschrittlichen, nicht gegen die konservativen Juden und ihre Presse«93). Am 26. November sagte er seinem Landwirtschaftsminister, »die Judenhetze sei unopportun gewesen, er habe sich dagegen erklärt, aber weiter nichts dagegen getan wegen ihres mutigen Eintretens gegen die Fortschrittler«94). Noch am 2. April desselben Jahres hatte er im Reichstag versichert, er habe nichts mit der antisemitischen Bewegung zu tun95); am 14. Oktober aber ließ er seinen Sohn Wilhelm wissen,