Vorgeschichte des politischen Antisemitismus. Paul W. Massing

Vorgeschichte des politischen Antisemitismus - Paul W. Massing


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Person Bismarck, seinem Patron, und den regierenden Klassen Deutschlands ihren Haß und ihre Verachtung in möglichst unzweideutiger Weise kundzugeben, auf die Mundtotmachung unserer Genossen in Deutschland zu antworten.«104)

      Nicht weniger peinlich gestaltete sich ein Beleidigungsprozeß, den Stoecker 1884 gegen eine Berliner Zeitung anstrengte; sie hatte während der Wahlkampagne unter dem Titel »Hofprediger, Reichstagskandidat und Lügner« einen Artikel erscheinen lassen, in dem Stoecker unter anderem des Meineids bezichtigt wurde. Auf Monate hielt der Prozeß Berlin und ganz Deutschland in Spannung; er gestaltete sich zu einer politischen Niederlage für Stoecker, obwohl der angeklagte Redakteur schließlich wegen Formalbeleidigung zu einer Gefängnisstrafe von sechs Monaten, herabgesetzt auf drei Wochen, verurteilt wurde. Da er als Jude einer Konfession angehöre, die der Nebenkläger Stoecker dauernd angegriffen hatte, wurden ihm mildernde Umstände zugebilligt. Das Gericht erklärte ausdrücklich:

      »Derjenige müßte seinen Glauben und den seiner Väter nicht lieb haben, der schließlich nicht tief gereizt und innerlich empört würde, wenn er Angriffe sieht und wieder sieht auf seinen Glauben und die Gleichberechtigung seines Glaubens, zumal wenn diese Angriffe von einem Geistlichen kommen.«105)

      Zwei hervorragende Rechtsanwälte, einer von ihnen selbst ein Jude, vertraten den Angeklagten; für die Atmosphäre der Verhandlung war es bezeichnend, daß der vorsitzende Richter sich wiederholt versprach und den Nebenkläger – Stoecker – als Angeklagten bezeichnete. Bald darauf wurde Stoecker wirklich zum Angeklagten, als ihn ein liberaler Gegner in seinem Wahlbezirk wegen Verleumdung vor Gericht brachte. Er kam mit einer Geldstrafe davon.

      An Propagandamaterial gegen Stoecker fehlte es also nicht. Seine politischen Gegner ließen sich die Gelegenheit nicht entgehen, die Prozesse nach Kräften auszuwerten. Der Vorsitzende der Fortschrittspartei begrüßte nach dem gegen den Redakteur angestrengten Prozeß dessen Anwälte in einer öffentlichen Erklärung, in der es hieß:

      »Die antisemitische Bewegung konnte durch nichts besser charakterisiert werden als durch die gerichtliche Feststellung der sittlichen Qualitäten ihres Hauptführers.«106)

      Die liberale Presse begrüßte die Gerichtsentscheidung mit der größten Genugtuung; sogar die Konservative Korrespondenz, das halboffizielle Organ der Konservativen Partei, brachte einen unfreundlichen Artikel über Stoecker, und selbst der kaiserliche Hof, der sich von öffentlichen Auseinandersetzungen solcher Art fernzuhalten pflegte, sah sich schließlich gezwungen, Stellung zu nehmen. »Seine Majestät waren darauf hingewiesen worden«, daß Volksaufwiegelung unvereinbar sei mit dem Amte eines Hofpredigers, dessen »politisches Treiben geeignet sei, auf Allerhöchstdieselbe zu reflektieren«, wie aus den Akten des Kaiserlichen Zivilkabinetts hervorgeht107). In der Tat trug sich der alte Wilhelm I. ernstlich mit dem Gedanken, Stoeckers Rücktritt von seinem Amt zu verlangen, als dieser durch einen hochgestellten Bewunderer gerettet wurde, Prinz Wilhelm, den späteren Kaiser Wilhelm II. In einem handschriftlichen vierseitigen Brief an den Kaiser vom 5. August 1885, den Stoeckers Biograph Frank im Preußischen Hausarchiv später einsehen und inhaltlich wiedergeben, aber nicht textgetreu veröffentlichen durfte108), meldete der Prinz seinem Großvater, die Juden hätten den Prozeß absichtlich herbeigeführt, um Stoecker eine Falle zu stellen; als Beweismaterial für die Heimtücke der jüdischen Presse fügte er Zeitungsausschnitte bei. Er wußte auch zu berichten, das deutsche Volk sei über dieses jüdische Manöver sehr erbost, und man habe ihn selbst gebeten, seinen Großvater über den Hintergrund der Intrige aufzuklären. Gestützt und getrieben von Sozialdemokraten und Fortschrittlern – schreibt der Prinz – hätten die Juden es unternommen, Stoecker zu vernichten; es sei bedauerlich, daß das Judentum durch seine Presse im deutschen Reich genügend Macht errungen habe, um sich auf einen solchen Anschlag einlassen zu können. Er habe sich entschlossen, dem Kaiser zu schreiben, nachdem er erfahren habe, daß die Juden sogar am kaiserlichen Hof Einfluß besäßen.

      Dann geht der Brief dazu über, Stoeckers Verdienste um die Sache der Monarchie zu preisen. Der Prediger habe gewiß manche Fehler, aber er sei der beste Förderer der Hohenzollernmonarchie und ihr mutigster und angriffslustigster Vorkämpfer unter dem Volke; in Berlin allein habe er den Sozialdemokraten und der Fortschrittspartei 60 000 Arbeiter abspenstig gemacht. Schließlich hob der Brief noch Stoeckers Anstrengungen für die Wohltätigkeits- und Sozialbestrebungen hervor, wodurch er die Sympathien Augusta Viktorias, der Gattin des Prinzen, gewonnen habe. Die Prinzessin machte sich den Appell ihres Gemahls zu eigen; sie flehte den Kaiser an, sie nicht eines ihrer besten Mitarbeiter auf dem Gebiete praktischen Christentums zu berauben. Der Prinz hatte Erfolg: der Kaiser erneuerte nur seine Warnung, Stoecker solle in Zukunft seine soziale und politische Tätigkeit mehr mit den Erfordernissen seiner hohen Stellung in Übereinstimmung bringen.

      Aber Stoeckers Stern war im Sinken. Die ihm von oben gezeigte Gunst verebbte, als sich der Kurs der Regierungspolitik wieder einmal änderte. Zur selben Zeit ging die Führung des politischen Antisemitismus in die Hände von Männern über, die nicht von Traditionen eingeengt waren, auf die der Hofprediger Rücksicht nehmen mußte. Ein neuer Typ von Antisemitismus begann sich auszubreiten, frei von christlicher oder konservativer Färbung und oft im Gegensatz zu den Interessen der Kirche und der Junker. Das Zentrum der neuen Bewegung lag nicht mehr in Berlin, sondern in den Provinzen, besonders in Sachsen, Westfalen und Hessen.

      KAPITEL IV

      Stoeckers Niedergang (1886-1890)

      Um die Mitte der achtziger Jahre war die Politik der kaiserlichen Regierung auf zwei Hauptziele gerichtet: auf die Erwerbung von Kolonien und die Verstärkung der Armee. Die Zentrumspartei, die seit einigen Jahren der Regierungskoalition angehörte, zögerte, sich das Regierungsprogramm zu eigen zu machen. Bismarck brauchte zur Rückendeckung eine neue parlamentarische Mehrheit. Die Nationalliberale Partei hatte sich, nach ihren großen Verlusten und der Abspaltung ihres linken Flügels (1880), unter der Führung von Johannes Miquel reorganisiert und war nun darauf bedacht, sich mit dem Kanzler wieder gut zu stellen. In ihrer »Heidelberger Erklärung« vom 23. März 1884 proklamierte sie ihre Zustimmung zu Bismarcks Wirtschafts-, Militär- und Außenpolitik. Sie werde, hieß es in der Erklärung, »unablässig für die Erhaltung einer starken deutschen Heeresmacht eintreten und kein notwendiges Opfer scheuen, um die Unabhängigkeit des Vaterlandes allen Wechselfällen gegenüber sicherzustellen«109). Die Partei befürwortete auch nachdrücklich die Fortsetzung des Kampfes gegen die Sozialdemokratie. Die Unterzeichner der Heidelberger Erklärung »werden bereitwillig der Reichsregierung die zur Abwehr staatsgefährlicher Umtriebe erforderlichen Machtmittel gewähren und erachten deshalb die Verlängerung des Sozialistengesetzes für dringend geboten«.

      Reumütig und mit reorganisiertem Parteiapparat wurden die Nationalliberalen genau zu dem Zeitpunkt wieder regierungstreu, als Bismarck ihre Unterstützung am dringendsten brauchte. Sie gingen ein enges Bündnis mit den beiden konservativen Parteien ein, den Deutsch- und den Frei-Konservativen, und bildeten das sogenannte »Kartell«. Es wurde das parlamentarische Rückgrat der Regierung für das nächste Jahr und bewies seine Stärke in der »Kartell-Wahl« von 1887. Diesmal war der Reichstag aufgelöst worden, weil er dem Verlangen der Regierung, das Militärbudget wieder auf sieben Jahre im voraus zu bewilligen, nicht nachgegeben hatte110). Die Freisinnigen – so nannten sich die Fortschrittler seit ihrer Verschmelzung mit dem ehemaligen linken Flügel der Nationalliberalen – und das Zentrum waren bereit, den Heeresetat zu erhöhen, aber nur auf drei Jahre. Es war der Versuch, die parlamentarische Kontrolle über das Militär wenigstens in Spuren zu bewahren, ein schwaches Echo jenes Kampfes zwischen den Liberalen und Bismarck im Verfassungskonflikt von 1862–66. Auch diesmal setzte Bismarck seine Forderung durch. Zwanzig Jahre zuvor war ein siegreicher Krieg nötig gewesen, um die liberalen Kräfte zu spalten. Diesmal reichte schon die Kriegsdrohung. General Boulanger war französischer Kriegsminister geworden, und eine antideutsche kriegsfreundliche Gruppe gewann größeren Einfluß auf die Politik Frankreichs. Deutschlands Beziehungen zu Rußland waren zweifelhaft. Die verstärkte Propaganda für deutsche Kolonialforderungen hatte die deutsche öffentliche Meinung stark gegen England aufgebracht. »Das Vaterland ist in Gefahr!« wurde die Wahllosung der Kartellparteien. Die Einberufung der Reservisten für Wintermanöver gab


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