Vorgeschichte des politischen Antisemitismus. Paul W. Massing

Vorgeschichte des politischen Antisemitismus - Paul W. Massing


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Zwei Berichte – einer aus christlicher, der andere aus jüdischer Feder – mögen das politische Klima der Reichshauptstadt veranschaulichen. 1885 schrieb ein Berliner Mitarbeiter der Christlichen Monatsschrift in Barmen:

      »Welche Wendung in Berlin vor sich gegangen ist, kann nur derjenige würdigen, der die Stadt zehn Jahre nicht gesehen und plötzlich wieder hineinversetzt wird. Er würde schon staunen, wenn er in ein kleines bescheidenes Restaurant eintritt und hier den ›Reichsboten‹ nicht bloß ausgelegt, sondern auch von dem kleinen Handwerker und Arbeiter begierig gelesen findet. Er müßte, bei den Erinnerungen an ehemals, wo man in diesen Kreisen das reaktionäre Blatt samt seinem Leser zur Tür hinausgeworfen hätte, sich geradezu an die Stirn fassen, ob er nicht träumt. Er würde dasselbe tun müssen, wenn er die Zeitungsfrau in das Hintergebäude drei oder vier Treppen hoch das ›Deutsche Blatt‹ tragen sieht. Ist denn da oben unter dem Dach nicht mehr die exklusive Domäne der ›Volkszeitung‹? Woher der Eindringling? Nun, er kommt von Stoecker und keinem anderen. Er hat die Umwandlung bewirkt. Der Fremde, der zehn Jahre lang Berlin nicht gesehen hat, sieht plötzlich gegen Abend das Gedränge in den Straßen eines Stadtviertels immer dichter werden. Er läßt sich vom Strom mit fortreißen und kommt in eine konservative Wahlversammlung. Tausende sind versammelt, Tausende müssen aus Mangel an Platz draußen zurückgehalten werden. Alle Stände sind vertreten, vom Arbeiter hinauf bis zum Offizier in Zivil und bis zu dem auf einer Tribüne hinter einer Säule sich nur schlecht verbergenden Minister. Es geht ein lebhaftes Geflüster durch die des Redners harrende Versammlung. Mit einemmal wird es still, dann atemlos still und dann wieder stürmisch laut. Hofprediger Stoecker ist in den Saal getreten, und ein donnerndes Hoch aus den Tausenden von Kehlen, ein Hoch, das nicht enden will, empfängt den populärsten Mann Berlins, einen Hofprediger! Der Fremde denkt nach, er verweilt mit seinen Gedanken bei jener konservativen Versammlung, die er vor zehn Jahren besucht hatte. Er hat davon noch die Empfindung einer Krankenstube. Vornehmer war die damalige Versammlung, aber klein und gichtbrüchig. Wer hat dieses Wunder vollbracht?«69)

      Der andere Bericht stammt von dem nationalliberalen Reichstagsabgeordneten Bamberger; als er 1883 von einer mehrmonatigen Auslandsreise nach Berlin zurückkehrte, schrieb er angeekelt in sein Tagebuch:

      »Gleich in den ersten Tagen hörte ich im Vorübergehen zweimal gemeine Äußerungen über Juden, ohne daß damit eine Absicht auf mich im Spiele war, sondern nur weil mein Ohr sie erhaschte. Einmal waren es sogar Arbeiter. Jetzt, nach längerem Aufenthalt, ist man wieder aguerri. Ich sage, man muß nicht hinaus, damit der Gestank nicht weicht, wenn man einmal die Nase voll hat. Lüftet man sich, so muß man das Experiment von neuem durchmachen.«70)

      Warum fand Stoeckers Agitation gerade um diese Zeit so großen Widerhall? Gründe für die Dynamik des Antisemitismus können nur in der Dynamik der Gesellschaft gefunden werden. 1870 war ganz Deutschland freihändlerisch71). In erster Linie war Preußen damals bestrebt, Beschränkungen des Binnenhandels aus dem Wege zu räumen und die dafür notwendige Einheitlichkeit der Gesetzgebung zu erreichen. Jeder Schritt zur wirtschaftlichen Einheit Deutschlands bedeutete einen preußischen Sieg im Kampf um die »kleindeutsche« Lösung.

      Als Großproduzenten von Exportgetreide traten die preußischen Konservativen natürlich für Freihandel ein. »Der Schutzzoll ist der Schutz gegen die Freiheit der Inländer, da zu kaufen, wo es ihnen am wohlfeilsten und bequemsten scheint, also ein Schutz des Inlandes gegen das Inland.« Diese typisch manchester-liberale Gesinnung vertrat im Oktober 1849 ein Junker vor dem preußischen Abgeordnetenhaus – es war Bismarck72). Wie überall führte auch in Deutschland die Industrialisierung zu erhöhtem Verbrauch von Konsumgütern, also zu steigenden Getreide- und Bodenpreisen. Die Preissteigerung Anfang der siebziger Jahre veranlaßte Agrarier, mehr Land unter den Pflug zu nehmen und Verarbeitungsbetriebe anzugliedern. Die dafür nötigen Investitionen verschafften sie sich durch Aufnahme von Krediten. Dann brach der Markt zusammen. In anderen europäischen Ländern und in Übersee war es nicht anders; auch in den Vereinigten Staaten wurden die Landwirte von ihren Gläubigern – den Bankiers der Ostküste – bedrängt und mußten den Staat um Intervention bitten, aber ihre Beschwerden gegen »Wall Street« hatten nicht den antijüdischen Unterton, der die Beschuldigungen der deutschen Landwirte gegen die »Börsenmächte« charakterisierte.

      Teilweise war das Fallen der Getreidepreise durch die Industriekrise in Deutschland verursacht, teilweise aber auch durch die Überflutung des ungeschützten deutschen Marktes mit amerikanischem und russischem Weizen. In Deutschland wie überhaupt in Mittel- und Westeuropa herrschte in der Landwirtschaft die intensive Bodenbearbeitung. Um die Mitte des Jahrhunderts hatten wissenschaftliche und technische Fortschritte diesem Verfahren weiteren Aufschwung gegeben. Die hohen Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse führten zu neuen Investitionen, um den Bodenertrag zu steigern. Seit den siebziger Jahren mußte die intensive Bebauungsweise mit der extensiven Methode in Konkurrenz treten, die sich auf den grenzenlos erscheinenden Flächen freien Landes in Übersee entwickelt hatte. Eisenbahn und Dampfer ermöglichten es jetzt, die amerikanische Ernte zu konkurrenzfähigen Preisen nach Europa zu werfen. Deutschland begann, Getreide einzuführen. Hatten die konservativen Grundbesitzer anfangs nur zögernd nach Schutzzollpolitik gerufen, so taten sie das seit der Mitte der siebziger Jahre mit steigendem Nachdruck.

      In der Industrie fand eine ähnliche Entwicklung statt. Durch die Einverleibung von Elsaß-Lothringen war Deutschland in den Besitz von profitablen, technisch fortgeschrittenen Industrien gelangt. Die dortige Textilindustrie zum Beispiel verfügte über mehr als einhalbmal so viele Baumwollspindeln und über fast die gleiche Zahl mechanischer Webstühle wie das ganze Reich73). Deutschland hatte auch Eisenerzvorkommen in Lothringen und Kalilager im Elsaß erworben, beide von größtem Wert für die Entwicklung der deutschen Schwerindustrie. Damals glaubte man so fest an die Vorteile des Freihandels, daß die Meistbegünstigungsklausel in den Friedensvertrag mit Frankreich aufgenommen wurde. Um seinen internationalen Handelsverpflichtungen nachkommen zu können, hob Deutschland 1873 den Einfuhrzoll für Roheisen, Schrott und Schiffbaumaterial auf. Der Zoll, der auf Halbfabrikaten und Maschinen lag, wurde ermäßigt, nach vier Jahren sollte er ganz wegfallen. Diese Freihandelspolitik fand die Unterstützung der Konservativen. Einer von ihnen erklärte 1873 im Reichstag: »Nächst dem Brot und Fleisch ist nichts wichtiger als freies Eisen.« Im selben Jahre nahmen mehrere hundert landwirtschaftliche Vereinigungen an einer Riesendemonstration teil, die gegen die Beibehaltung des Zolles auf Roheisen protestierte74).

      Kaum erst war die deutsche Schwerindustrie fähig geworden, mit der von Großbritannien, ihrem überlegenen Rivalen in Europa, zu konkurrieren (75), als die Engländer sich durch die internationalen Stagnationstendenzen veranlaßt sahen, in den ungeschützten deutschen Markt einzudringen. Die erhöhte Konkurrenz überzeugte daraufhin manchen eingefleischten Manchesterliberalen, daß eine »nationale« Handelspolitik an die Stelle des international orientierten Freihandels treten müsse. Der Ruf nach neuen Zöllen auf Eisen- und Stahlprodukte gesellte sich den Stimmen der bedrängten Landwirte zu.

      Ohne gegenseitige Unterstützung konnten weder die Getreide produzierenden Junker noch die Schwerindustrie hoffen, die Schutzzollgesetzgebung durchzusetzen. Zwar wünschten die Industriellen niedrige Preise für Nahrungsmittel und die Agrarier niedrige Preise für Industrieprodukte, aber schließlich mußten beide Gruppen sich überzeugen, daß ein Kompromiß unumgänglich war. Um ihrer eigenen Interessen willen unterstützten die Agrarier die Schutzzollforderungen der Schwerindustrie, und die Schwerindustrie ihrerseits förderte der Landwirtschaft genehme Zolltarife. 1878 war mit der Annahme eines neuen Zolltarifs die kurze Ära des Freihandels beendigt und zugleich der Grundstein gelegt für das politische Bündnis zwischen Schwerindustrie und Großagrariern, das fortan Deutschlands wirtschaftliche und soziale Entwicklung lenken und seine auswärtige Politik entscheidend beeinflussen sollte.

      Schutzzöllnerische Wirtschaftspolitik gab es nicht nur in Deutschland, aber in keinem anderen Industrieland zeitigte sie so drastische politische Folgen. Der Zusammenbruch der Freihandelsidee untergrub das Prestige des politischen Liberalismus, der ja mit den Freihandelsparteien eng verbunden war. Konservative Tendenzen konnten ihren Einfluß in dem Maße vergrößern, in dem der Obrigkeitsstaat seine Macht erweiterte. Der politische Druck, den die Anhänger des Schutzzolls auf die Regierung ausübten, störte den Reichskanzler wenig, obwohl


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