Gesammelte Werke. Sinclair Lewis
diesem Dezember war sie in ihren Mann verliebt.
In ihren romantischen Träumen war sie nicht mehr die große Reformatorin, sie war die Frau des Landarztes. Die Alltäglichkeiten des Doktorhauses färbte sie mit ihrem Stolz bunt.
Spät in der Nacht ein Schritt vor der Tür, den sie schlafverwirrt hörte; die Außentür öffnete sich; ein Tappen an der Innentür, das Anschlagen der elektrischen Klingel. Kennicott brummt: »Gottverdammt noch einmal«, kriecht aber geduldig aus dem Bett, denkt daran, die Decken zurechtzuziehen, damit ihr nicht kalt wird, tastet nach Pantoffeln und Bademantel und stapft hinunter.
Dann hört sie verschlafen den Teil einer Unterredung in dem Pidgin-Deutsch der Farmer, welche die Sprache ihrer Heimat vergessen haben, ohne die neue zu lernen:
»Hallo, Barney, was wollen Sie?«
»Morgen, Doktor, die Frau ist schrecklich krank. Die ganze Nacht hat sie schreckliche Bauchschmerzen gehabt.«
»Wie lang ist das schon so?«
»Ich weiß nicht, vielleicht zwei Tage.«
»Warum sind Sie nicht gestern gekommen, statt mich aus meinem guten Schlaf zu wecken. Jetzt ist es zwei Uhr! Warum so spät, was?«
»Na ja, ich weiß, aber 's ist am Abend soviel schlimmer geworden. Ich hab' gemeint, es wird wieder vergehen, aber es ist viel schlimmer geworden.«
»Fieber?«
»Ja, ich glaub', sie hat Fieber.«
»Auf welcher Seite sitzt der Schmerz?«
»Ha?«
»Auf welcher Seite tut's weh? Hier?«
»Stimmt. Genau da ist es.«
»Ist es steif – hart?«
»Ich weiß nicht. Das hat sie mir nicht gesagt.«
»Was hat sie gegessen?«
»Na, wohl so, was wir immer essen, vielleicht Corned Beef und Kohl und Wurst und so. Doktor, sie weint immer. Die ganze Zeit schreit sie wie der Deibel. Kommen Sie doch.«
»Gut. Schön, aber das nächste Mal holen Sie mich früher. Hören Sie, Barney, Sie sollten sich ein Telephon anschaffen. Euch wird da draußen mal einer sterben, bevor ihr den Doktor kriegen könnt.«
Die Tür fiel zu. Barneys Wagen, die Räder waren im Schnee nicht zu hören, aber der Wagenkasten ratterte. Kennicott tippte auf die Hörergabel, um die Telephonistin, die Nachtdienst hatte, aufzuwecken, wartete, fluchte leise, wartete wieder und brummte schließlich: »Hallo, Gus, hier der Doktor. Hören Sie, äh, schicken Sie mir Pferde her. Der Schnee wird fürs Auto zu hoch sein. Ich muß acht Meilen nach Süden. Was? Einen Dreck werd' ich! Was? Ja, ja, das ist jetzt ganz gut. Schön, Gus. Wiedersehn!«
Sein Schritt auf der Treppe, seine stillen Bewegungen im kalten Zimmer, während er sich anzog; sein zerstreutes Husten. Er glaubte, daß sie schlafe, sie war zu herrlich schummerig, um den Zauber durch Worte zu brechen. Auf ein Stück Papier auf seinem Schreibtisch – sie konnte die Feder kratzen hören – schrieb er auf, wo er hinfahren mußte. Er ging weg, hungrig, fröstelnd, ohne zu klagen; und bevor sie wieder einschlief, liebte sie ihn wegen seiner Tapferkeit und sah die aufgeregte Fahrt durch die Nacht zu der erschrockenen Familie auf der fernen Farm; malte sich Kinder aus, die am Fenster stehen und auf ihn warten. Plötzlich war er in ihren Augen ein Held, wie der Telegraphist auf einem sinkenden Schiff; wie ein Forscher, vom Fieber gepackt, von seinen Trägern verlassen, aber weiter – Dschungel – – marschierend –
Um sechs, als das Licht hereinsickerte wie durch Milchglas und die Stühle allmählich Umrisse bekamen, hörte sie seinen Schritt vor der Tür, hörte ihn bei der Heizung; das Knirschen des geschüttelten Rostes, das langsame Herausnehmen der Asche, die Schaufel, die in die Kohlenkiste gestoßen wurde, das Klappern der Kohlen, die in den Feuerraum flogen, das Einstellen der Züge – die täglichen Geräusche im Leben Gopher Prairies, die ihr jetzt zum erstenmal den Eindruck von etwas Tapferem und Bleibendem, etwas Buntem und Freiem machten. Sie glaubte die Feuerzange zu sehen, die Flammen wurden zitronengelb und metallisch golden, während der Kohlenstaub hindurchflog, kleine züngelnde zitternde Purpurfleckchen, gespenstische Flammen, die kein Licht gaben, zwischen den schwarzen Kohlenreihen emporschlüpften.
Es war herrlich im Bett, und das Haus würde warm für sie sein, wenn sie aufstand. Was war sie doch für ein nutzloses Ding! Was waren ihre Bestrebungen neben seiner Tüchtigkeit?
Als er ins Bett stieg, erwachte sie wieder.
»Es kommt mir vor, als wären erst ein paar Minuten vergangen, seitdem du weg bist!«
»Ich war vier Stunden weg. Ich hab' in einer Küche an einer Frau eine Blinddarmoperation gemacht. Beinah wär' sie mir unterm Messer gestorben, aber ich hab' sie noch durchgebracht. Grade noch dran vorbeigerutscht. Barney sagt, am letzten Sonntag hat er zehn Kaninchen geschossen.«
Er schlief sofort ein – eine Stunde der Ruhe, bevor er aufstehen und für die Farmer bereit sein mußte, die früh kamen. Sie wunderte sich darüber, daß er in einem Zeitraum, der für sie nur ein verschwommener Augenblick der Nacht war, weit draußen gewesen sein, sich um ein fremdes Haus gekümmert, eine Frau aufgeschnitten, ein Leben gerettet haben sollte.
Kein Wunder, daß er den trägen Westlake und McGanum verachtete! Wie konnte der bequeme Guy Pollock diese Geschicklichkeit und diese Ausdauer verstehen?
Dann knurrte Kennicott: »Viertel acht! Willst du denn überhaupt nicht zum Frühstück aufstehen?« Das war kein Held der Wissenschaft mehr, sondern ein ziemlich nervöser und gewöhnlicher Mann, der sich rasieren mußte. Sie tranken Kaffee, aßen Pfannkuchen und Wurst und sprachen über Frau McGanums scheußlichen Krokodilledergürtel. Der zauberhafte Spuk der Nacht und die Ernüchterung des Morgens wurden beide unter den Wirklichkeiten und dem Alltag vergessen.
2
Ein gewohnter Anblick für die Frau des Arztes war der Mann mit dem verletzten Bein, der am Sonntagnachmittag vom Land hereingefahren und ins Haus gebracht wurde. Er saß auf einem Schaukelstuhl in einem schweren Wagen, das Gesicht bleich von den Schmerzen, die das Rütteln verursachte. Sein Bein war ausgestreckt, ruhte auf einer Kiste und war mit einer Pferdedecke zugedeckt. Seine brave Frau kutschierte und half Kennicott, ihn zu stützen, als er über die Stufen ins Haus hinaufhumpelte.
»Einer, der sich mit der Axt ins Bein gehauen hat, ziemlich schlimme Wunde, Halvor Nelson, neun Meilen draußen«, erklärte Kennicott.
Carola zog sich zitternd ans andere Ende des Zimmers zurück, war kindisch aufgeregt, wenn sie um Handtücher und ein Waschbecken mit Wasser geschickt wurde. Kennicott hob den Farmer in einen Sessel und lachte: »Na also, Halvor. In einem Monat werden Sie wieder arbeiten und Aquavit trinken können.« Die Farmersfrau saß auf dem Sofa, ausdruckslos, plump in einem Männermantel aus Hundefell.
Kennicott zog die dicke »deutsche Socke«, die vielen anderen Socken aus grauer und weißer Wolle herunter, dann die Bandage. Das Bein hatte ein krankhaft totes Weiß, die schwarzen Haare waren schwach und dünn und plattgedrückt, der Schnitt war ein zerfetzter purpurroter Strich.
Kennicott untersuchte die Wunde, lächelte Halvor und seiner Frau zu, rief fröhlich: »Schön, wahrhaftig! Könnte gar nicht besser sein!«
Die Nelsons sahen aus, als ob sie etwas auf dem Herzen hätten. Der Farmer nickte seiner Frau zu, und diese fragte traurig:
»Ja, also, Doktor, wieviel sind wir Ihnen schuldig?«
»Na, das werden – wollen mal sehen: eine Fahrt hinaus und zwei Besuche. Es werden im ganzen so elf Dollar sein, Lena.«
»Ich weiß nicht, Doktor, ob wir Ihnen jetzt schon zahlen können.«
Kennicott ging auf sie zu, klopfte ihr auf die Schulter und brüllte: »Aber, weiß Gott, Schwester, ich werd' nicht klagen, und wenn ich's nie krieg'. Sie zahlen mir im nächsten Herbst, wenn