Leben mit "kaputtem Akku". Johanna Krapf

Leben mit


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so lange, bis meine Eltern einwilligten. Und mit diesen beiden Hobbys glich ich aus, was mir an Aufmerksamkeit fehlte: Bei den Pferden holte ich mir Nähe und Wärme, indem ich eine Bindung zu ihnen aufbaute, und das Klavierspiel diente mir als Oase, in die ich mich flüchten konnte, wenn ich Abstand vom Alltag brauchte. Täglich übte ich bis zu zwei Stunden, freiwillig wohlverstanden, und vergaß alles um mich herum. So traten auch Probleme, zum Beispiel schulische, ganz automatisch in den Hintergrund und fühlten sich nach dem Üben nicht mehr so quälend an.

      Ich spürte aber nicht nur sehr genau, was mir selbst guttat, sondern ich nahm auch die Bedürfnisse der anderen wahr, in erster Linie die meiner Mutter. Ich hatte immer irgendwie das Gefühl, ich müsse dafür sorgen, dass es ihr gut gehe, ich müsse sie schützen. Denn ich sah, mit wie viel Liebe sie sich um alles kümmerte, wie sie ihr Bestes gab, dass sie manchmal überfordert war, obwohl sie sich ganz uns Kindern und dem Haushalt widmen konnte. Sie ging nämlich erst wieder auswärts arbeiten, und das nur tageweise, als ich in die Pubertät kam. Mein Vater hingegen, der einen Vollzeitjob hatte, war viel weniger präsent.

      Es mag jetzt den Anschein machen, als wäre meine Kindheit schwierig gewesen. Das will ich damit jedoch nicht sagen. Sie waren schön, meine Jahre hier in Mühlethurnen: Ich durfte ganz Kind sein, durfte nach Herzenslust spielen, drinnen und draußen, frei und unbeschwert, und es störte meine Mutter überhaupt nicht, wenn ich jeden Abend vor Dreck starrte. Sie freute sich über die kreativen Ideen der Kinder und mischte sich nicht in unser Spiel ein, aber sie war da, wenn sie gebraucht wurde. Doch ich beanspruchte ihre Zeit und Aufmerksamkeit selten, da ich ein braves Kind war.

      In der Schule hielt ich mich ebenfalls im Hintergrund. Ich war im Klassenverband integriert, stand aber nie im Mittelpunkt des Geschehens. Auch wird mir, wenn ich mein bisheriges Leben überblicke, klar: Ich habe meistens nur eine Freundin gehabt und in der Regel nicht sehr lange dieselbe, denn ich bin wiederholt im Stich gelassen worden. Aber allein bin ich selten gewesen. Jedenfalls wenn ich von der Gegenwart absehe …!

      Zurück zur Schule: Da ich, schüchtern wie ich war, weder dort noch zu Hause je um Unterstützung bat, erfüllten meine Leistungen, als es um einen allfälligen Übertritt in die Sekundarschule3 ging, die Anforderungen nicht. Vermutlich war ich aber auch einfach noch nicht reif genug. Also blieb ich in der Volksschule bis zum Ende der obligatorischen neunjährigen Schulzeit, was den Vorteil hatte, dass ich nie unter Druck geriet und im Großen und Ganzen gern zur Schule ging. Meine Eltern ließen mich gewähren und vertrauten darauf, dass ich meinen eigenen Weg finden würde. Und damit hatten sie recht, denn im Anschluss an die Volksschule durfte ich ein zehntes Schuljahr in Bern besuchen und holte dort den verpassten Sekundarschulabschluss nach.

      Heute weiß ich, dass ich viel besser lernen kann, wenn ich den Lehrstoff mit Musik verbinde, wenn ich zum Beispiel ein Gedicht, das ich auswendig lernen muss, mit einer Melodie unterlege. Musik beziehungsweise Rhythmik war denn auch der Schlüssel zu meiner Zukunft. Nicht dass mir das nach dem Ende der Schulzeit bewusst gewesen wäre, sondern der Zufall oder das Schicksal wollte es, dass mir in der Berufsberatung beim Durchblättern eines Ordners mit allen möglichen Berufsbildern der Titel „Rhythmiklehrperson“ ins Auge stach. Das war es, was ich werden wollte: Der Beruf hatte mit Kindern zu tun, das war die Hauptsache, und Rhythmik tönte gut. Was genau er beinhaltete, fragte ich mich nicht. Ich absolvierte also das vorgeschriebene einjährige Praktikum – als Kleinkindererzieherin in einer Kinderkrippe – und nahm anschließend die vier Jahre dauernde Ausbildung an der Fachhochschule für Musik und Theater in Biel in Angriff. Dort kamen endlich meine Stärken zum Zuge: Bewegung und natürlich die Musik respektive das Klavierspiel. Die Bewegung war für mich seit der Pubertät immer wichtiger geworden, sodass ich fast jeden Abend in den Thuner Discos tanzen gegangen war und mich nächtelang auf Technopartys ausgetobt hatte, während sich meine Eltern zu Hause Sorgen machten. Und die Musik war seit meinen ersten Klavierstunden eine Konstante in meinem Leben gewesen.

      Ich genoss das Studium in vollen Zügen. Die rhythmisch-musikalische Erziehung ist eine ganzheitliche Pädagogik und richtet sich in erster Linie, aber nicht nur, an Kinder. Durch den spielerischen Einsatz von Musik, Sprache und Bewegung – durch das ganzheitliche Erleben und fantasievolle Gestalten von Versen, Reimen, Liedern, Bewegungsspielen und Tänzen – wird das Kind in seiner natürlichen Musikalität, in seinem Bewegungsvermögen, in seiner Sprach- und Persönlichkeitsentwicklung gefördert, und seine Sinne, vor allem Auge, Ohr und Tastsinn, sowie die Körper-, Zeitund Raumwahrnehmung werden verfeinert. (Der therapeutische Aspekt der Rhythmik wurde in meiner Ausbildung nur am Rande tangiert.)

      Doch nach dem Abschluss der Ausbildung im Jahr 2003 fand ich keine Stelle, denn im Kanton Bern wurde damals das Fach Musikgrundschule/Rhythmik an den Schulen noch kaum angeboten. Also arbeitete ich erst einmal als Springerin in einem Kinderhaus, was mir zwar nicht schlecht gefiel, aber eigentlich nicht meinem Berufsziel entsprach. Nach zwei Jahren schließlich war ich bereit, um dessentwillen „auszuwandern“, und übernahm in Zürich eine sechsmonatige Stellvertretung als Rhythmiklehrerin. Sie sollte sich als Sprungbrett für meine berufliche Zukunft erweisen, denn danach erhielt ich meine ersten festen Stunden, allerdings nicht alle an einer einzigen Schule, da die wenigsten Gemeinden eine Vollzeit arbeitende Lehrperson in Rhythmik brauchen. Das heißt, ich arbeitete mit größeren und kleineren Pensen in verschiedenen Gemeinden, in verschiedenen Kantonen gar, und war somit ständig auf dem Sprung von Schulhaus zu Schulhaus. In keinem Team war ich richtig integriert, ich musste mit vielen Klassenlehrpersonen zusammenarbeiten und unterrichtete unzählige Kinder. Das war, wen wundert’s, eine Herausforderung. Doch ich liebte meine Aufgabe: Sie gab mir die Möglichkeit, mich ganz auf die Kinder einzulassen und meine Kreativität auszuleben. Ja, ich hatte meine Berufung gefunden!

      Sechs Jahre arbeitete ich als Rhythmiklehrerin, bevor mich die Gesundheit im Stich ließ, sechs zwar recht strenge, doch sehr gute Jahre. Deshalb möchte ich betonen, dass die späteren gesundheitlichen Probleme nichts mit dem Arbeitsdruck zu tun hatten. Es ging mir prima in dieser Zeit – ich wohnte in Gunzgen im Kanton Solothurn –, und auch mein Hobby, das Tanzen, kam trotz der beruflichen Herausforderung nicht zu kurz. Dank einer Kollegin, die mich zu einer Tanzshow mitgenommen hatte, entdeckte ich die Faszination des Paartanzes und besuchte nun Kurse, um die verschiedenen Tänze kennen- und beherrschen zu lernen. Ich stand also mit beiden Beinen im Leben, hatte einen tollen Job und ein neues Hobby, den Paartanz, als ganz plötzlich alles anders kam: Ich wurde telefonisch zu der Besprechung eines Papillomavirus-Tests (er dient der Prävention von Gebärmutterhalskrebs) aufgeboten, dem ich mich routinemäßig unterzogen hatte und der positiv ausgefallen war. Resultat der Besprechung: Ich musste eine Biopsie machen lassen.

       Die Biopsie, wegen einer Zellveränderung durch Papillomaviren: höllisch, ohne Betäubung, höllisch, am Gebärmutterhals, höllische, traumatisierende Schmerzen!

      Bei dieser Biopsie schnitt der Arzt Zellgewebe heraus – drei einfränklergroße Hautstücke waren es! –, ohne eine lokale Betäubung vorgenommen zu haben, sodass mein Geist zeitweise meinen Körper verließ, damit ich die höllischen Schmerzen nicht mehr wahrnehmen musste. Danach war ich nicht mehr dieselbe Person wie vorher. Ich verließ die Praxis und torkelte wie in Trance zum Bahnhof, fuhr zu meinen Eltern nach Mühlethurnen, setzte mich dort ins Auto und kehrte in meine Wohnung zurück. Es grenzt an ein Wunder, dass ich keinen Unfall baute. Ich kann mich jedenfalls an nichts mehr erinnern. Am folgenden Tag ging ich arbeiten, als wäre nichts gewesen. Oberstes Ziel: das Erlebnis ausblenden, die Erinnerung aus meinem Kopf kriegen, nur ja nicht darüber nachdenken. Auch die nachfolgende kleine Operation, bei der die entarteten Zellen weggelasert wurden, ließ ich anstandslos über mich ergehen, und zwar unter Vollnarkose, da ich auf keinen Fall irgendetwas davon mitbekommen wollte. Alles war mir egal, solange nur die Bilder der Höllenqual nicht in mir aufstiegen. Diese Entscheidung für eine Vollnarkose war allerdings vermutlich ein verheerender, folgenschwerer Fehler, denn die Narkose könnte einer der Auslöser meiner ME/CFS-Erkrankung gewesen sein.

      Nach der Operation erholte ich mich nie mehr vollständig. Am Anfang dachte ich, das müsse wohl damit zusammenhängen, dass ich zu früh zur Arbeit zurückgekehrt war, weil meine Vorgesetzte mich unter Druck gesetzt hatte. Sie hatte behauptet, es sei an mir, eine Stellvertretung für die 14 Tage Krankenurlaub zu organisieren (was natürlich nicht stimmte). Als ich auf die Schnelle niemanden fand,


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