Leben mit "kaputtem Akku". Johanna Krapf

Leben mit


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hypotone Kreislaufdysregulation (niedrige Blutdruckwerte) u. a.

      Auf diese Untersuchung und den Verdacht eines CFS folgte eine zwei Jahre dauernde Orthomolekulartherapie4 unter der Leitung von Doktor Kersten, die zumindest anfänglich eine leichte Abschwächung der Symptome bewirkte. Vermutlich hätten mir allerdings Hinweise, wie ich mich als CFS-Betroffene verhalten solle, und Strategien für den Umgang mit der Krankheit weit mehr genützt als die Therapie selbst. Ich hatte zum Beispiel keine Ahnung, wie wichtig das richtige Haushalten mit der verbleibenden Energie ist und dass jede noch so kleine Überanstrengung zu einem Rückschlag führt oder wie ich meine Schlafqualität verbessern könnte.

      Daheim ging der Abklärungsmarathon weiter, denn ich hatte ja weiterhin keine gesicherte Diagnose, die auch in der Schweiz akzeptiert wurde, war und ist doch CFS (lieber wäre mir die Bezeichnung ME oder allenfalls ME/CFS) hier kein Thema. Zwar wusste ich nun, dass Epstein-Barr-Viren in meinem Blut nachgewiesen werden konnten, doch das ist bei 90 Prozent der Bevölkerung der Fall, und ich hatte einen niedrigen Blutdruck, der aber meine massiven Symptome ebenfalls nicht erklärte. Es folgten also weitere gynäkologische, neurologische, genetische und psychiatrische Untersuchungen und so weiter und so fort.

      Die Fäden im Verlauf all dieser Abklärungen – der Suche nach einer Diagnose und deren Ursachen, nach geeigneten Ärzten und Ärztinnen, nach möglichen Behandlungsansätzen –, diese Fäden sind von Anfang an in den Händen meines Vaters zusammengelaufen. Er hat es sich sozusagen zu seiner Lebensaufgabe gemacht, mir jetzt, da er pensioniert ist, beizustehen auf meinem Weg zu einer Besserung oder gar Genesung. Dafür bin ich ihm außerordentlich dankbar.

      Fast geht vergessen, dass ich neben diesem Untersuchungsmarathon auch noch ein Privatleben führte. Als ich mich nach der akuten Phase endlich aufgerappelt hatte, schien meinem Freund und mir der richtige Zeitpunkt gekommen zu sein zu heiraten. Das war im Spätsommer 2013. Und ich begann auch wieder zu arbeiten, und zwar als Hilfskraft in der familieneigenen Bäckerei, wo ich mir mein 50-Prozent-Pensum nach Bedarf einteilen durfte. Und Anfang 2015 wurden mir sogar wieder sechs Lektionen Musikgrundschule an einer benachbarten Primarschule anvertraut, sodass ich die Arbeitszeit in der Bäckerei entsprechend reduzieren konnte. Natürlich hatte ich auch mein geliebtes Hobby, das Tanzen, wieder aufgenommen. Mein Mann und ich besuchten zusammen Privatlektionen, um uns auf unser erklärtes Fernziel vorzubereiten, nämlich bei der Schweizer Meisterschaft zuoberst auf dem Podest zu stehen. Und das hätten wir ganz bestimmt auch erreicht, wenn uns nicht eine Beziehungskrise – und mein Gesundheitszustand – einen Strich durch die Rechnung gemacht hätte. Unsere Ehe war nämlich in eine Sackgasse geschlittert, und nach gut zwei Jahren zog mein Mann aus. Die Trennung machte mir natürlich außerordentlich zu schaffen, obwohl wir sie im gegenseitigen Einverständnis vollzogen hatten: Meine Träume waren geplatzt, nicht nur diejenigen für uns als Paar, sondern leider auch diejenigen für uns als Tanzpartner und Schweizer Meister im Discofox! Zwar trafen wir uns im folgenden Jahr noch hin und wieder zum Tanzen, aber da sich mein Gesundheitszustand erneut zusehends verschlechterte und ich infolge unserer Trennung auch psychisch mit mir zu kämpfen hatte, war ich den Anforderungen meines Ex-Mannes bald nicht mehr gewachsen, sodass er sich nach einer neuen Tanzpartnerin umschaute und die Tanzkarriere mit ihr weiterführte. Das schmerzt bis heute.

      Ich fühlte mich von allen im Stich gelassen. Auch der lokale Sozialdienst, wo ich mich nach einer Sozialberatung erkundigte, versagte. Und unglücklicherweise hatte ich kurz vorher die langjährige Psychotherapie abgeschlossen, da mir die Therapeutin mitgeteilt hatte, sie könne mich nicht länger unterstützen; was ich brauche, sei eine Körpertherapie.

      Psychisch tauche ich völlig ab.

      Suizidgedanken verfolgen mich.

      Ich stehe in der Dusche und sehe den Duschschlauch,

      wie er sich um meinen Hals legt.

      Ich weiß mir nicht mehr zu helfen.

      Schließlich entschied ich mich, zurück in den Kanton Bern zu ziehen. Nichts hielt mich mehr in dieser Wohnung, in dieser Umgebung zurück. Ich hatte meine Beziehung, meine Stelle, meinen Halt und meine Gesundheit verloren. Was ich brauchte, war ein Neuanfang. In der Abgeschiedenheit eines Berner Dörfchens am Eingang des Emmentals, in Linden, wollte ich ihn wagen. Dort hatte ich eine schöne Wohnung gefunden, und dort kämpfte ich mich nach meinem Umzug im Februar 2016 Schritt für Schritt zurück in den Alltag. Natürlich hätte mich meine Mutter, hätten mich meine Eltern sehr gern bei sich aufgenommen, aber ich spürte, wie wichtig es für mich war, meine Selbstständigkeit zu behalten. Für eine psychologische Unterstützung wandte ich mich an den Notfalldienst der psychiatrischen Klinik Münsingen, wo ich erst einmal ganz gut aufgefangen wurde.

      Nun musste ich aber auch finanziell wieder auf die Beine kommen. Deshalb begann ich Teilzeit als Pferdepflegerin zu arbeiten, doch damit hatte ich meine körperliche Leistungsfähigkeit völlig überschätzt. Schon nach zwei Wochen gab ich die Stelle wieder auf und begann mich nach einem kleinen Pensum Musikstunden an einer Primarschule umzuschauen. In Burgdorf wurde ich endlich fündig, und dort blieb ich auch, solange es mir möglich war, einer Arbeit nachzugehen. Doch da ich mit diesem 34-Prozent-Pensum meinen Lebensunterhalt nicht oder nur ganz knapp bestreiten konnte, beantragte ich zum zweiten Mal eine Invalidenrente, obwohl mir vor dem Termin beim Gutachter graute. Schließlich wurde ich nach Basel aufgeboten, was natürlich mit einem großen Kraftaufwand verbunden war. Dort aber – „oje, tut uns leid“ – hatte man meinen Termin falsch eingetragen und schickte mich unverrichteter Dinge wieder nach Hause! Zweiter Termin: wieder in Basel, wieder mit letzter Kraft, wieder voller Angst, ich könnte mit meiner finanziellen Not alleingelassen werden, wieder in einer miserablen psychischen Verfassung, sodass ich immer wieder zu heulen begann. Ob dies den Ausschlag gab, dass mir die Psychiaterin eine Viertelsrente zusprach – ich weiß es nicht (das Gutachten mochte ich nicht lesen, da ich die Lektüre des ersten noch immer nicht verdaut hatte). Jedenfalls kam ich nun mit meinem kleinen Lohn und den zusätzlichen 450 Franken Rente schlecht und recht über die Runden. Jetzt brauchte ich, damit ich mich auch psychisch wieder erholen konnte, nur noch eines: ein Pferd.

      Eine Beziehung zu einem Pferd pflegen zu können ist für mich von fundamentaler Bedeutung, und Sämis Rolle, der damals in mein Leben getreten ist, kann nicht überschätzt werden. Er hat mich aus der tiefen emotionalen Krise herausgeholt und meinem Leben wieder einen Sinn gegeben, denn da es ihm körperlich wie psychisch genauso schlecht ging wie mir, verpflichtete ich mich mit der Reitbeteiligung, Verantwortung für ihn zu übernehmen. Sämi brauchte mich, und deshalb überwand ich mich Tag für Tag und schleppte mich in den Stall, um nach ihm zu schauen und ihn auszureiten – dazu war ich nämlich gerade noch in der Lage. Dem Umgang mit seinen sehr komplizierten Besitzern hingegen war ich auf die Dauer nicht gewachsen, sodass ich die Reitbeteiligung eines Tages schweren Herzens wieder aufgeben musste. Aber ich versprach Sämi, als ich mich von ihm verabschiedete, ich würde ihn, sobald es mir finanziell möglich wäre, aus seiner misslichen Lage befreien. Und dieses Versprechen habe ich ja tatsächlich später eingelöst und ihn mithilfe meiner Eltern losgekauft. Sämi und ich gehören nun zueinander.

      Natürlich war ich immer auch auf menschliche Unterstützung angewiesen, das heißt, ich ging, nachdem ich mich dank der Klinik Münsingen wieder gefangen hatte, zuerst zu einer Psycho- und später zu einer sogenannten Energietherapeutin, die mir von meiner Hausärztin empfohlen worden war. Die Energietherapeutin ist zu einer Schlüsselperson in meiner ganzen Geschichte geworden: Sie führte mich in die Meditation ein. Und, ganz wichtig, sie wusch mir den Kopf, indem sie mich mit der Tatsache konfrontierte, dass ich es mir in einer Art Opferrolle bequem gemacht hatte. Deshalb stellte sie mich vor die Wahl: für ein Leben als hilflose Leidende oder für die bewusste Annahme eines Lebens mit meiner Krankheit. Dank ihr habe ich mich auf den anspruchsvollen Weg gemacht zu lernen, meine Situation und meinen angeschlagenen Körper zu akzeptieren und gleichzeitig zu unterscheiden zwischen mir als intakter Person und den körperlichen Einschränkungen und Schmerzen, die mir meine Krankheit aufzwingt. Körper und Seele gehören zusammen, aber ich darf mich und mein innerstes Wesen nicht über den Körper – und schon gar nicht über die Schmerzen – definieren. In diesem Lernprozess stecke ich noch immer, und wohin er mich führen wird, weiß ich nicht. Auch diese Ungewissheit muss ich zu akzeptieren versuchen.


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