Internationales Strafrecht. Robert Esser
dieses Rahmens kann der EGMR die Beschwerde on ist own motion auch vor dem Hintergrund einer vom Bf. nicht als einschlägig eingestuften Konventionsbestimmung untersuchen[5] und dabei über alle Tatsachen- und Rechtsfragen entscheiden, die im Verfahren auftreten. Außer Betracht bleiben allerdings Äußerungen der Parteien im Rahmen einer streng vertraulichen Verhandlung über eine gütliche Einigung sowie die Gründe, aus denen eine solche Einigung nicht zustande gekommen ist (Art. 39 Abs. 2 EMRK; Rule 62 Abs. 2; vgl. Rn. 369).[6]
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Macht der Bf. eine Verletzung mehrerer Artikel der Konvention durch dasselbe staatliche Handeln oder die Verletzung eines geschützten Rechtes durch unterschiedliche Handlungsmodalitäten staatlicher Organe geltend, so nimmt der EGMR eine gesonderte Prüfung jedes einzelnen Beschwerdepunktes nur dann vor, wenn diese jeweils neue Fragestellungen aufwerfen. Zunehmend geht er dazu über, detaillierte Ausführungen lediglich zu der im Schwerpunkt gerügten Konventionsverletzung zu machen und die Beurteilung der übrigen Aspekte der Beschwerde dahinstehen zu lassen.[7]
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Die Prüfung der Menschenrechte der EMRK vollzieht sich zumeist dreistufig, ähnlich wie die Grundrechtsprüfung vor dem BVerfG: Schutzbereich – Beeinträchtigung/Eingriff – Rechtfertigung des Eingriffs (= mangelnde Rechtswidrigkeit). Dabei ist zwischen allgemeinen (Art. 15-17 EMRK) und speziellen Schrankenvorbehalten (Art. 2 Abs. 2 EMRK; Art. 8 Abs. 2 EMRK) zu unterscheiden. Die Behandlungsverbote des Art. 3 EMRK sind schrankenlos gewährleistet. Geht es um die Einhaltung einer staatlichen Schutzpflicht[8], erfolgt in der Regel eine Abwägung der durch ein staatliches Handeln bzw. Unterlassen betroffenen Rechtsgüter.
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Der EGMR hat nicht die Aufgabe eines Rechtsmittel- oder Instanzgerichtes. Er überprüft daher nicht die Auslegung und Anwendung der materiellen und prozessualen Vorschriften des nationalen Rechts sondern wacht lediglich über die Einhaltung der EMRK und prüft dabei, ob die nationale Rechtsordnung und Rechtspraxis den Anforderungen der Konvention entspricht.[9]
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Die Nichteinhaltung innerstaatlicher Rechtsnormen kann vor dem Gerichtshof nur über eine spezielle Anknüpfung in der EMRK gerügt werden, etwa im Rahmen von Schrankenvorbehalten, in denen die Konvention ausdrücklich auf das nationale Recht verweist (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 EMRK: „auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise“; Art. 8 Abs. 2 EMRK: „gesetzlich vorgesehen“). Aber selbst in diesen Fällen variiert die Kontrolldichte des EGMR von Fall zu Fall. Zum Teil beschränkt sich der Gerichtshof auf eine Evidenz- oder Willkürkontrolle[10], teilweise kann die Prüfung aber auch recht detailliert und tief ins nationale Recht hineinreichen.[11]
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Keiner Überprüfung durch den Gerichtshof zugänglich sind die Schuldfrage im engeren Sinne und die Tatsachenfeststellungen als solche.[12] Lediglich eingeschränkt überprüfbar – über den Grundsatz der Verfahrensfairness – sind die Glaubwürdigkeit von Zeugen[13] und die Relevanz erhobener bzw. nicht erhobener Beweise. Die eigentliche Beweiswürdigung und die Einstufung von Beweisen als entscheidungserheblich ist grundsätzlich Aufgabe der nationalen Gerichte.[14]
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Die Bestimmungen der EMRK legt der Gerichtshof autonom aus, ohne an Auslegungsgrundsätze und Beweisregeln des nationalen Rechts gebunden zu sein.
Teil 1 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte › D. Urteil des EGMR › III. Inhalt des Urteils
III. Inhalt des Urteils
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Die Urteile des Gerichtshofs sind zu begründen (Art. 45 Abs. 1 EMRK)[15] und folgen einem bestimmten Aufbau und Darstellungsmuster.[16] Ihre Struktur und ihr Mindestinhalt ergeben sich aus Rule 74:
• | die Namen des Präsidenten und der anderen Richter, aus denen sich die Kammer zusammensetzt, sowie den Namen des Kanzlers oder des Stellvertretenden Kanzlers, |
• | der Tag, an dem das Urteil gefällt wurde, und der Tag seiner Verkündung, |
• | die Bezeichnung der Parteien, |
• | die Namen der Prozessbevollmächtigten, Rechtsbeistände und Berater der Parteien, |
• | die Darstellung des Prozessverlaufs, |
• | der Sachverhalt, |
• | eine Zusammenfassung des Vorbringens der Parteien, |
• | die Entscheidungsgründe, |
• | der Urteilstenor, |
• | ggf. die Kostenentscheidung, |
• | die Zahl der Richter, die die Mehrheit gebildet haben, |
• | ggf. die Angabe, welche Sprachfassung maßgebend ist. |
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Jeder an der Verhandlung und Entscheidung über eine Rechtssache teilnehmende Richter ist berechtigt, dem Urteil eine Darlegung seiner zustimmenden oder abweichenden persönlichen Meinung oder die bloße Feststellung seines abweichenden Votums beizufügen (Art. 45 Abs. 2 EMRK; Rule 74 Abs. 2). Solche concurring opinions oder dissenting opinions, von denen die Richter zunehmend Gebrauch machen, liefern häufig interessante Ansätze und Argumente für eine Fortentwicklung der Judikatur des EGMR jenseits der getroffenen Mehrheitsentscheidung.
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Der Gerichtshof erlässt seine Urteile in englischer oder französischer Sprache, nur ausnahmsweise in beiden Amtssprachen (Rule 76 Abs. 1). Sämtliche endgültigen Urteile des EGMR sind in geeigneter Form zu veröffentlichen (Art. 44 Abs. 3 EMRK). Hierfür ist der Kanzler des Gerichtshofs verantwortlich (Rule 78 Satz 1). In die amtliche Sammlung (Series A-1996/Reports-1999/seither ECHR) werden nur solche Urteile und Entscheidungen – sowie sonstige Schriftstücke – aufgenommen, deren Veröffentlichung der Präsident des Gerichtshofs für zweckmäßig hält (Rule 78 Satz 2). Die Veröffentlichung erfolgt dort in beiden Amtssprachen (Rule 76 Abs. 2).
Teil 1 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte › D. Urteil des EGMR › IV. Bindungswirkung des Urteils
1. Inter-partes-Wirkung
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Der EGMR ist kein Rechtsmittelgericht bzw. kein Gericht höherer Instanz im Verhältnis zu den nationalen Gerichten der Vertragsstaaten.