Internationales Strafrecht. Robert Esser
Teils (Art. 41 EMRK)[18] – reine Feststellungsurteile. Sie haben keine kassatorische bzw. unmittelbar gestaltende Wirkung und beseitigen nicht die Rechtskraft der nationalen gerichtlichen Entscheidungen. Auch eine unmittelbare Kontaktaufnahme des Gerichtshofs mit den für den Konventionsverstoß verantwortlichen staatlichen Stellen zur Umsetzung des Urteils ist formell ausgeschlossen.[19]
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Die Feststellung eines Konventionsverstoßes ergeht unabhängig davon, ob es beim Bf. zum Eintritt eines materiellen oder immateriellen Schadens gekommen ist (vgl. Art. 41 EMRK).
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Die endgültigen Urteile des Gerichtshofs (Art. 44 EMRK) besitzen eine völkerrechtliche Bindungswirkung inter partes für die am Verfahren beteiligten Parteien. Der verurteilte Vertragsstaat hat daher das gegen ihn ergangene Urteil zu befolgen und umzusetzen (Art. 46 Abs. 1 EMRK). Diese Befolgungspflicht des verurteilten Staates (abide by the final judgments)[20] kommt mittelbar auch in seiner allgemeinen Verpflichtung zur Achtung und Gewährleistung der in Art. 2-18 EMRK und den Zusatzprotokollen niedergelegten Konventionsgarantien zum Ausdruck (Art. 1 EMRK).
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Innerstaatlicher Adressat dieser – den verurteilten Vertragsstaat im Außenverhältnis als Völkerrechtssubjekt treffenden – Pflicht sind dessen Behörden und Gerichte. Diese innerstaatliche Bindung aller staatlichen Stellen an ein gegen die BR Deutschland ergangenes Verdikt des EGMR folgt unmittelbar aus der im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) verankerten Bindung an Gesetz und Recht.[21]
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Aus einer Zusammenschau von Art. 41 und 46 EMRK ergibt sich der konkrete Inhalt der Pflicht des verurteilten Vertragsstaats. In dem konkreten Strafverfahren, das Anlass zu der Verurteilung durch den EGMR gegeben hat, muss der Vertragsstaat – soweit möglich – mit Hilfe allgemeiner oder individueller in der nationalen Rechtordnung vorgesehener Maßnahmen (general or individual measures) die festgestellte (noch andauernde[22]) Verletzung der Konvention beenden und den Folgen dieses Konventionsverstoßes soweit wie möglich abhelfen (redress so far as possible the effects).[23] Erforderlich ist – wenn möglich – eine vollständige Wiedergutmachung des durch den festgestellten Konventionsverstoß entstandenen Schadens (Naturalrestitution). Zu einer solchen restitutio in integrum[24] sind die staatlichen Stellen auch dann verpflichtet, wenn der Bf. nicht selbst initiativ wird und ein Wiederaufnahmeverfahren nach § 359 Nr. 6 StPO (vgl. Rn. 546 ff.) betreibt.[25]
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Wenn der Staat das Verhalten, das der EGMR als konventionswidrig beanstandet hat, nicht abstellt oder wiederholt, so verletzt er damit erneut die EMRK und verstößt auch gegen Art. 1 EMRK.[26]
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Da die Konvention den Vertragsstaaten die Wahl der Mittel überlässt, mit denen sie den ihnen aus der Verurteilung obliegenden Verpflichtungen im innerstaatlichen Recht nachkommen (Beurteilungsspielraum), darf der EGMR dem verurteilten Vertragsstaat grundsätzlich keine konkrete Maßnahme zur Umsetzung des Urteils vorschreiben, wie z.B. die Aufhebung eines Urteils, die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens oder die Gewährung einer Leistung, sondern muss sich auf die Feststellung des Konventionsverstoßes beschränken.[27] In den letzten Jahren ist allerdings die Tendenz zu erkennen, dass der EGMR andeutet, teilweise sogar unmissverständlich ausspricht, auf welche konkrete Art und Weise eine Behebung des festgestellten Konventionsverstoßes zu erreichen ist, z.B. durch eine Wiederaufnahme des Falles, die Freilassung des Bf. oder durch die Rückgabe einer beschlagnahmten Sache.[28]
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Besonders hervorzuheben ist folgender Leitsatz des Gerichtshofs für Verstöße gegen Art. 6 EMRK:
„… when an applicant has been convicted despite a potential infringement of his rights as guaranteed by Article 6 of the Convention, he should, as far as possible, be put in the position that he would have been in had the requirements of that provision not been disregarded, and that the most appropriate form of redress would, in principle, be trial de novo or the reopening of the proceedings, if requested.“ [29]
2. Bindung über Einzelfall hinaus
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Noch nicht endgültig geklärt ist, ob die Urteile des EGMR eine über den Einzelfall hinaus reichende rechtliche Verbindlichkeit für die Vertragsstaaten besitzen oder ob ihnen bezüglich anderer Personen lediglich eine (faktische) Orientierungswirkung zukommt, in dem Sinne, dass alle Staaten in einer vergleichbaren Konstellation oder Fragestellung ebenfalls mit einer Verurteilung rechnen müssen. Dabei ist zu unterscheiden zwischen Urteilen, die gegen den Vertragsstaat ergehen und thematisch auch andere Personen neben dem Beschwerdeführer betreffen sowie Urteilen, die gegen andere Vertragsstaaten ausgesprochen werden.
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Der Vertragsstaat hat jedenfalls sicherzustellen, dass sich der festgestellte Konventionsverstoß in zukünftigen, ähnlich gelagerten Fällen nicht wiederholt.[30] Dies gilt jedenfalls für die Person des konkreten Bf. Ob dieser Anspruch sich darüber hinaus auf alle der Hoheitsgewalt des Vertragsstaates unterstehenden Personen bezieht, ist dagegen ungeklärt. Dem Wesen eines Individualrechtsstreits immanent ist, dass Streitgegenstand und damit auch Umfang der sachlichen Rechtskraft eines Straßburger Urteils eng zu interpretieren sind und sich nur auf den entschiedenen Sachverhalt, den konkreten Bf. sowie den betroffenen Vertragsstaat beziehen.[31] Damit ist freilich nicht ausgeschlossen, auf Seiten des Vertragsstaats von einer über den entschiedenen Streitgegenstand hinausgehenden völkerrechtlichen Befolgungspflicht aus Art. 46 EMRK auszugehen, deren innerstaatlicher Adressat sämtliche staatlichen Organe sind.[32]
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Wer beim Wiederholungsverbot im Interesse eines wirksamen Menschenrechtsschutzes eine Erstreckung auf gleichgelagerte nationale Fälle propagiert, die andere Personen betreffen, kann auf Dauer nicht erklären, warum das nicht auch für die Behebung bereits eingetretener Konventionsverstöße bei anderen Personen gelten soll, zumal man in der Aufrechterhaltung der Folgen eines bereits eingetretenen Konventionsverstoßes durchaus auch dessen aufrechterhaltende „Wiederholung“ sehen kann.[33] Darüber hinaus kann die Verbindlichkeit eines Urteils des EGMR für „Parallelfälle“ in dem betreffenden Vertragsstaat aus Art. 1 EMRK abgeleitet werden.[34] Auch wenn das Urteil den betroffenen Staat über Art. 46 EMRK nur für den entschiedenen Fall unmittelbar bindet, folgt eine darüber hinausreichende rechtliche Bindung des Staates daraus, dass dieser nach Art. 1 EMRK (und seine Organe nach Art. 59 Abs. 2 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) zur Beachtung der Konvention verpflichtet sind, deren Inhalt durch die Urteile des EGMR konkretisiert wird.
3. Im Übrigen: Normative Leitfunktion
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Weder aus Art. 46 Abs. 1 EMRK noch aus Art. 1 EMRK lässt sich für die BR Deutschland als Vertragsstaat – geschweige denn für die deutschen Behörden und Gerichte als ihre Organe – eine unmittelbar völkerrechtlich verbindliche Bindung an die gegen andere Vertragsstaaten ergehenden Urteile (als solche) begründen. Art. 1 EMRK verpflichtet die Vertragsstaaten der EMRK aber dazu, den Konventionsrechten gegenüber seinen Bürgern Geltung zu verschaffen. Weil aber Art. 32 EMRK dem EGMR eine (nicht ausschließliche) Kompetenz für alle die Auslegung und Anwendung der Konvention nebst ihrer Zusatzprotokolle betreffenden Angelegenheiten zuweist und nicht nur diese Vorschrift sondern vor allem die einzelnen Garantien der EMRK über das Zustimmungsgesetz (Art. 59 Abs. 2 GG) Teil der deutschen