Der Bote. Hans-Joachim Rech
Sommer- wie Wintertouristen die Polarnacht und den Sommerdauer -Sonnenschein genießen. Innerhalb von fünf Jahren war von den Restbeständen der grautristen Plattenbau Nostalgie nichts mehr zu sehen, und die Anstrengungen der Bauarbeiter, Techniker, Ingenieure und Architekten verwandelten die Stadtteile von Murmansk geradezu in farbenfrohe lebendige Ensemble, vor denen die Familien Schlange standen, um sich für eine der heiß begehrten Wohnungen einschreiben zu lassen. Auch in der Innenstadt von Murmansk mit ihrem prachtvollen Lenin Prospekt, wurde tüchtig und nach modernsten architektonischen Vorgaben und Maßregeln geplant und gebaut, wobei die traditionelle russische Lebensweise ebenso Bau- und Wohnraum bestimmend war, wie der Anspruch an Modernität, Sicherheit und Hygiene. Immerhin stand Murmansk entgegen der früheren sowjetischen Maxime nicht mehr unter dem Dekret „Sperrgebiet“, sondern war den Touristen und Besuchern aus dem Ausland bis auf den Hafen frei zugänglich. Das verpflichtet zu besonderen Anstrengungen, denn die Stadt, die umliegenden Ortschaften und Kleinstädte - und letztlich der gesamte Oblast wollten sich in bestem Licht und Aussehen präsentieren. Da war es nicht so förderlich, wenn die Besucher auf ihren Stadttouren immer wieder die Aussicht auf den Hafen und die Grauen Wölfe der See „genossen“. Schließlich handelte es sich bei dem Murmansk Hafen um einen der zentralen Standorte und Heimathäfen der russischen Nordmeerflotte, ganz zu schweigen von Rosljakowo, knapp zehn Kilometer vom Zentrum entfernt, einem bedeutenden Standort der Nordflotte. Und dann ist da diese riesige Figur eines Soldaten, ein Monument mit Namen Alyosha, das an die heldenhafte Verteidigung der Stadt während des großen vaterländischen Krieges erinnert. Mehr als dreißig Meter hoch, den Arm und die Hand mit dem Gewehr hoch aufgereckt, ist dieses Symbol des Widerstandes von jedem nach Murmansk einlaufenden Schiff schon von weitem zu sehen. Vom Sockel und der Aussichtsplattform des Monumentes bietet sich Einwohnern wie Besuchern und Touristen ein traumhafter Blick über Murmansk und die Kola-Bucht, um die sich in sichtbarer Nähe oder gemäßem Abstand die sehenswerten und teilweise pittoresken Dörfer und Kleinstädte anlehnen, um durch ihre ureigene Individualität zum einen und der „Nähe“ zur großen Schwester Murmansk zum anderen vom Glanz und der Anziehungskraft der Weltstadt zu partizipieren, was allen urbanen Einrichtungen hervorragend gelang. Apatity, Kandalaksha, Kirovsk, Kola, Lovozero, Monchegorsk, Teriberka, Umba und Varzuga - so die Namen jener Dörfer und Kleinstädte auf der Kola Halbinsel, die sich rund um die Stadt Murmansk, der größten Weltstadt nördlich des Polarkreises, wie eine Schar quirliger Kinder scharten und voller Hoffnung auf die neue Zeit schauten, voller Enthusiasmus in das 21. Jahrhundert aufbrachen. Noch weiter nördlich, im 20 Kilometer entfernten Seweromorsk, befindet sich der wichtigste Stützpunkt der russischen Nordmeerflotte und Atom-U-Boote insgesamt. Hier galt selbst das „Stille Örtchen“ als sensibel und „Out of Area“ wie die US-Amerikaner sagen. Zutritt nur mit Permit. Schon Kilometer vor Erreichen der eigentlichen Stadtgrenze begannen die Straßenkontrollen an speziellen „Präventivsklerosen“, ein medizinischer Begriff, den die staatlichen Berufsobservierer gerne verwendeten. Schließlich handelten die amerikanischen Kollegen in Area 51 ebenso, da standen sich beide Supermächte in nichts nach. Grundsätzlich galt es nach Vorgabe der Gouverneure von Oblast Murmansk für ausländische Besucher und/oder Geschäftsleute folgende Möglichkeiten die Stadt hinter dem Polarkreis zu erreichen - tatsächlich waren es nur zwei - per Flugzeug es sei denn, man hatte mehr Zeit als der liebe Gott und reiste über Sankt Petersburg mit der Bahn an. Fliegen musste man in jedem Fall, entweder mit der Finnair von Helsinki oder einem anderen größeren finnischen oder norwegischen Flughafen aus, oder man steuerte Murmansk über Sankt Petersburg mit der Aeroflot an, in jedem Fall musste man ein sattes Zeitpolster mitbringen, um den Flughafen von Murmansk zu erreichen. Und dann gab es noch eine dritte Möglichkeit nach Murmansk zu kommen, die aber eher hinter vorgehaltener Hand getalkt wurde - die Anreise mit dem Bus - ein wirkliches Abenteuer für Globetrotter erprobte Backpacker, weniger etwas für Virologen, Ozeanforscher, Vulkanologen sowie die Thermalquellenforscher der Tiefsee. Dafür aber um einiges preiswerter als die Fliegerei und Bahnfahrt. Für die Expeditionsteilnehmer war dies von untergeordneter Bedeutung; zwölf Teilnehmerinnen und Teilnehmer reisten von Westen nach Osten, dreizehn Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Osten nach Westen - Treffpunkt Murmansk - Eisbrecherhafen über Murmansk Flughafen. Sie brauchten sich weder um Unterkunft, Verpflegung und Sicherheit zu sorgen, und schon gar nicht um die Finanzierung der Reisekosten, die pro Teilnehmer bei rund 35.000 Tausend US Dollar lag, einschließlich des gesponserten Hin- und Rückfluges in die jeweiligen Herkunftsländer der Betreffenden. Die Anreise über den Atlantik und Nordeuropa gegen die Zeit war nicht minder ermüdend als der Flug über den Kontinent Asien mit der Zeit und Nordeuropa. Die einen sahen zwölf Stunden Wasser oder Inseln, die anderen zwölf Stunden Land ohne Ende - Berge, Wüsten, Wälder, Flüsse und Seen. Dann endlich - Murmansk - der eisfreie Nordmeerhafen der russischen Marine. Die Stadt selbst wie eine mittlere City des Westens, Wohngebiete, Industrie, Gewerbe, Parks - der nicht enden wollende Baum- und Waldgürtel der Taiga und natürlich der Hafen, ein gigantischer Komplex eigens zu dem Zweck gebaut, die größten und kampfstärksten Über- und Unterwassereinheiten der russischen Marine schnell und möglichst unauffällig auf den Marineeigenen Werften zu planen, zu bauen und im Nordmeerwasser einzufahren, um sie dann entweder in den Atlantik oder in den Pazifik zu entsenden. Die Marine, das ließ sich ohne Abstriche sagen, war der Stolz nicht nur der Roten Armee, sondern der Stolz und die Seele Russlands, seiner Menschen, Hoffnungen, Träume und Sehnsüchte. Doch dieser Stolz der Seele Russlands hat auch eine düstere Kehrseite, die weder Touristen noch Besucher der Region aus der Nähe betrachten können. Es sind die zahlreichen Atom-U-Boote, die zu Dutzenden in der Saida Bucht der Halbinsel Kola vor sich hin rotten oder besser verrotten, teilweise noch mit radioaktivem Material vollgestopft, so den Reaktoren, dem Kühlwasser und anderen hoch gefährlichen Stoffen. Selbst im Hafen von Murmansk lassen sich U-Boote erkennen, von denen teilweise nur noch die Türme aus dem Wasser ragen. Ein riesiges Problem nicht nur für die russische Marine und Russland, denn an der Pazifikküste in Kamtschatka sah es noch düsterer aus. Tausende Tonnen hoch radioaktiven Materials wurden in den vergangenen Jahrzehnten sorglos in den Tiefen des Pazifiks verklappt, ähnliches geschah im Nordatlantik und im Beringmeer. Das ist in der Tat ein Szenario, das sich im Gewand einer nuklearen tickenden Zeitbombe etabliert hat und bis heute in keiner Weise angegangen wurde. Eine Bergung des Mülls einschließlich der über die Jahrzehnte gesunkenen Atom-U-Boote mit nuklearer Bewaffnung ist schlichtweg unmöglich oder einfach nicht vorgesehen. Die Gefahr nuklearer Explosionen wird nach allgemeiner Auffassung internationaler Experten ausgeschlossen, aber die Freisetzung radioaktiven Materials durch anhaltende Korrosion an den Sprengköpfen und Reaktoren, könnte in unkontrollierbaren Mengen in den Ozeanen eine globale ozeanische Katastrophe auslösen, gegen die sich die Pandemien der Vergangenheit wie leichte Erkältungen ausnehmen. So stellt sich die bekannte Situation rund um die Atom-U-Boot Flotte der untergegangenen Sowjetunion und dem Nachfolgerstaat Russland dar. Kein Erbe, auf das weder der Präsident, noch die Marine, noch Russland und das russische Volk stolz sein können. Inzwischen gibt es aber ein Übereinkommen zwischen Deutschland und Russland, den atomaren U-Boot Schrott zumindest aus dem Oblast Murmansk nachhaltig unter größten Sicherheitsvorkehrungen zu entsorgen. Der Anfang ist gemacht, spät und hoffentlich nicht zu spät. In der Tiefsee warten ungleich schwierigere Aufgaben auf die Bergungsunternehmen. Aber diese Überlegungen spielten in der Aufgabenstellung zur Lösung der vorgenannten Atommüllbeseitigung der angereisten Wissenschaftler „nur“ eine sekundäre Rolle, vorrangiges Ziel war die weitere Erforschung der Geothermalfelder im Nordatlantik zwischen Nordeuropa, Island und Grönland sowie die Übergangsregion vom Nordatlantischen in den Arktischen Ozean in der Region Mittelozeanischer Rücken, der zwischen Grönland und Skandinavien auch als Mohn- und Knipowitsch Rücken bezeichnet wird. In dieser Übergangsregion haben die Schwarzen und Weißen Raucher - die Black and White Smoker in „Lokis Castle“ - Lokis Schloss oder Lokis Burg seit ihrer Entdeckung das Interesse der Tiefseeforscher weltweit geweckt. Und als dann noch Lebewesen, Mikroorganismen und Bakterien in kaum vorstellbarer Art und Anzahl gefunden wurden, kannte die Forscher- und Entdeckerfreude kein Halten mehr. Ein Expeditionswettlauf weltweit begann, wo im Sommer fast jeden Jahres Forscherteams mit Dutzenden Wissenschaftlern aus aller Welt in diese Region entsandt wurden, wo die großen tektonischen Platten der Nordhalbkugel des Planeten den Boden der Tiefsee mit unvorstellbaren Kräften und dem glutflüssigen Inneren der Erde in ein kochendes Inferno verwandeln, dass seine explosive Urkraft immer wieder in spektakulären Unterwasservulkanausbrüchen beweist, die nicht selten zur Entstehung neuer Inseln führen. Unweit des zivilen Murmansker