Endstation Salzhaff. Ulrich Hammer
der sich hin und wieder gern auf eine Bühne stellte, bekundete sein Interesse, zumal er die Mühle und ihr Team bereits von einer früheren Veranstaltung kannte. Eine jüngere Kollegin und er waren für derartige Auftritte seit Jahren eingespielt. Sie gab die flippige Moderne und er den verstaubten Traditionalisten. So battelten sie sich auf lustige Weise durch die oft dunklen Themen des Faches und das mit Erfolg, zuletzt mit dem Thema »Rechtsmedizin zwischen Klischee und Realität«.
BRB bekam den Zuschlag vom Chef. »Machen Sie das irgendwie und vielleicht können Sie ja eine Vorlesung anpassen, damit das nicht so viel Vorbereitungszeit kostet. Und sehen Sie bitte zu, dass Sie sich thematisch von dem ersten Vortrag absetzen.« Mit diesen Worten drehte sich der Chef schon weg, sodass die Bahn frei war. Seine Kollegin stand kurzfristig leider nicht zur Verfügung. So musste BRB allein zusehen, wie er das gestaltete. ›Da braucht es nicht viel Vorbereitung. Da reicht der Griff in die Schublade.‹ Mit diesen Gedanken machte er sich gleich an die Arbeit und tickerte sich auf seinem Rechner durch das Archiv der Vorlesungen, verschob eine PowerPoint in den Ordner öffentliche Vorträge, benannte sie um und überlegte sich, wie er das Thema für ein öffentliches Publikum strukturieren könnte. Rechtsmedizin im Allgemeinen. Medizinische und juristische Fachbegriffe raus, Fotos raus, die vermutlich nicht für alle Augen und alle Seelen geeignet sind. Im Besonderen müsste er einen Schwerpunkt setzen. Vielleicht »Tod im Wasser«. Die Ostseenähe und die gerade jetzt immer wieder berichteten Badetoten würden vermutlich ohnehin vom Publikum hinterfragt werden. Neben dem klassischen Ertrinken mit seinen Stadien würde er dem plötzlichen natürlichen Tod im Wasser Aufmerksamkeit schenken. Das Ganze natürlich mit einem positiven Blick auf alles Schöne im und am Wasser. In dieser Art würde er in den nächsten Tagen eine Präsentation zusammenstellen.
Es kam der Tag. Alles war perfekt vorbereitet. Kurz vor 20 Uhr parkte BRB sein Auto dicht an der Mühle, ging hinein, begrüßte die Veranstalter und sortierte sich. Der Raum füllte sich allmählich. Die meisten kamen erst fünf bis zehn Minuten vor Beginn und verteilten sich irgendwie an den Tischen, die jeweils von vier Stühlen umstellt waren. Dann war es soweit. Dr. Brandenburg wurde kurz anmoderiert, ging an das Rednerpult, bedankte sich für die Einladung und wurde schnell mit seiner Aufgabe allein gelassen. Nach einigen Minuten war er warmgelaufen. Medizinische Themen einzudeutschen war er von den vielen Gerichtsverhandlungen gewohnt. Er war im Flow, bis sich etwa zehn Minuten vor Schluss an einem der hinteren Tische, dicht am Eingang, eine Hand hob und ein dazugehöriger junger Mann mit rot gelocktem Haar aufstand. Ohne zu fragen und ohne sich vorzustellen rief er Brandenburg in einer beinahe kindlichen Tonlage zu: »Sie haben das Thema verfehlt! Es ging doch vorhin auch um Wasserleichen hier. Warum zeigen Sie die nicht. Dafür bin ich extra von weit hergekommen!«
Ein Raunen ging durch den Raum. Einige schüttelten den Kopf.
»Ich werde keine derartigen Bilder zeigen«, entgegnete Brandenburg. »Das wäre kein schöner Anblick. Ich bemühe mich, das Thema informativ zu gestalten, sodass es für niemanden unangenehm wird. Allen kann ich es offenbar nicht recht machen.«
Während einige Besucher klatschten, stieß sich der junge Mann von seinem Stuhl ab, sodass der umkippte und verließ unter lautem Geschimpfe die Mühle. Der Vortrag kam zum Ende, kurzer Beifall, einige kamen nach vorn und stellten Fragen. Andere schoben sich langsam durch den Ausgang. BRB sammelte seine Unterlagen zusammen und erzählte noch einen Moment mit den Vertretern des Mühlenvereins.
Es war spät geworden. Sein Auto konnte er gerade noch im Schein der Türbeleuchtung erkennen. Es regnete leicht. Schnell lud er alles ein und schwang sich hinter das Steuer. Die Wegbeleuchtung wurde abgeschaltet, für ihn zu schnell. Nun musste er auf seine Scheinwerfer vertrauen und zur Straße hinunterrollen.
Kapitel 6
Gesucht
Kommissar Tenglers Büro verströmte den Muff alter Dienstzimmer, den sie im Laufe der Zeit bekommen und behalten. Die Ausstattung war spärlich. Der Rechner am Arbeitsplatz wurde über verstaubte Kabel versorgt, die irgendwo hinter dem Tisch allein gelassen und lange nicht mehr gesehen worden waren. Neben dem Telefon ein Bild von ihm und seinem Sohn, der seinen pubertär getriggerten Unwillen gegenüber solcher Fotoposen deutlich machte. An der Wand gegenüber ein altes Schwarz-Weiß-Foto vom Brandenburger Dom, aufgenommen offenbar von einem Boot auf einem Arm der Havel, die sich durch die Stadt verzweigt.
Das Klingeln von Kommissar Tenglers Telefon an diesem Montag morgen blieb ungehört.
»Wo ist Tengler?«, rief Kommissarin Semlock über den Flur, hoffend, dass er selbst oder irgendjemand anders reagiert. »Er soll zu mir«, setzte sie nach. Doch es blieb stumm. Das bemerkte sie erst nach einigen Minuten, hob erstaunt ihren Kopf aus der frühmorgendlichen Geschäftigkeit und ging zu ihren Kollegen. »Hat ihn jemand gesehen?«
»Wen?«
»Na, Tengler! Ich brauche ihn!«
Vieldeutige Blicke, aber keine zweckdienlichen Hinweise.
»Habe ihn heute auch noch nicht gesehen«, entgegnete jemand.
»Ich auch nicht«, kam es aus einer anderen Ecke.
›Vielleicht ist er krank‹, dachte Kommissarin Semlock und rief im Sekretariat an. »Moin, Semlock, hat sich Kommissar Tengler krankgemeldet?«
»Wer?«
»Mein Gott!«, rief sie ungeduldig, »nuschel ich etwa? Der eine fragt WEN, der andere WER. Ich meine Herrn Oberkommissar Torsten Tengler, nicht erst seit gestern hier! Seine Freunde nennen ihn wohl Torte! Hat ihn jemand mit einem Käffchen zu sich genommen? Vielleicht noch mit Schlagsahne? Ich sehe und höre ihn nicht und kann ihn nicht finden, obwohl ich ihn suche!«
»Tut mir leid, Frau Semlock«, entgegnete die Sekretärin betont ruhig, weil sie die Ungeduld der Kommissarin spürte. »Wir können da ausnahmsweise nicht helfen. Lassen Sie doch mal den Tag erwachsen werden und dann wird er sich schon unter Angabe einer plausiblen Erklärung einfinden.«
Kerstin Semlock sackte zusammen und legte auf. ›Erstmal nichts zu machen‹, dachte sie. Diese Situation passte so gar nicht in ihren gewohnte Geradeauskurs, der am frühen Vormittag bereits festlag. Als erste Sachbearbeiterin gab es für sie nur wenige Schritte zur Seite. Sie war auf ihre Ziele orientiert und ließ sich dabei nicht gern aus dem Takt bringen. Das machte sie noch attraktiver, obwohl da nach allgemeiner Männermeinung nicht viel nachzuholen war. Sie war gut vernetzt mit Schlüsselpositionen in der Staatsanwaltschaft, der Rechtsmedizin und des Landeskriminalamtes. Ein auch bei Computerpannen funktionierendes Netzwerk, das sie sich über die Jahre erarbeitet hatte und auf das sie sich verlassen konnte. Ihre Gedanken sammelten sich langsam wieder und begaben sich nur noch einmal vorsichtig auf den Weg zu ihrer Tochter. ›Oje, oje, ich hatte versprochen, sie heute früh anzurufen.‹ Katharina Semlock hatte in Rostock Medizin studiert. Der berufliche Kontakt ihrer Mutter mit Dr. Brandenburg brachte genug Suggestion mit sich, um während des 4. Studienjahres in der Rechtsmedizin das Wahlfach »Ärztliche Leichenschau« und im Praktischen Jahr dort das Wahltertial zu absolvieren.
»Hi, Mom«, sagte Katharina.
»Entschuldige, ich wollte dich gleich früh anrufen, aber mich hat hier heute einiges aus der Bahn geworfen.«
»Alles gut«, beruhigte Katharina ihre Mutter. »Ich liege eh zu Hause rum. Mir war nicht so an der Mütz.«
»Was ist mit dir? Bist du krank?«
»Nix Schlimmes. Ich hab Hals. Geht schon.«
»Ich rufe dich an, weil du das wolltest, jedenfalls gestern noch.«
»Ja, es ist irgendwie alles doof. Ich muss immer an Papa denken, so kurz vor seinem Geburtstag. Es ist so unfair, so ungerecht. Andere fressen sich fett und saufen sich die Leber dick und trällern sich durchs Leben und er, der immer alles in Maßen hielt, hier nicht zu viel und da nicht zu doll, der kriegt seinen Herzkasper und bleibt liegen.«
»Katharina, es ist nun vier Jahre her …«
»Willst du mich damit beruhigen?«, weinte sie