Endstation Salzhaff. Ulrich Hammer
einem Fläschchen Bier der beschriebene Zustand.
Ein Tag im Institut nahm seinen Lauf. Am Nachmittag war ein Ethikkonsil auf der neurologischen Intensivstation im Zentrum für Nervenheilkunde Rostock-Gehlsdorf anberaumt worden. Es ging um eine 83-jährige, korpulente Frau, die mit einem Schlaganfall aufgenommen wurde. Auf Station trafen außerdem ein Internist und ein Chirurg ein, dazu noch der Krankenhausseelsorger und eine Juristin von der Stabsstelle Recht. Die Patientin hatte eine Patientenverfügung unterschrieben, die von den Angehörigen vorgelegt worden war. Es ging darum, ob der in der Verfügung formulierte Zustand eingetreten sei. Die Stationsärztin stellte die Patientin vor. Gegenwärtiger Status, bisherige Therapie und weitere Möglichkeiten sowie die Prognose wurden in der Runde diskutiert. Auf der Rückfahrt von Gehlsdorf zur St.-Georg-Straße meldete sich Kommissarin Semlock, die BRB im Auto über seine Freisprechanlage empfing. Sie durchbrach mit ihrem Anruf die bassigen Drums im Intro von Amy Winehouse’ YOU KNOW I’M NO GOOD.
»Oh, Du bist gerade unterwegs«, tönte es plötzlich im harten Kontrast zu der Musik, von der sich BRB eigentlich zum Institut begleiten lassen wollte.
»Hört man das?«
»Irgendwie schon. Es sei denn, Dein PC hat eben den Blinker gesetzt und vom vierten in den dritten Gang geschaltet.« Beide lachten herzlich.
»Was gibt es denn Frau Kommissär?«
»Kommissär? Das habe ich doch heute schon einmal gehört.« Kerstin Semlock dachte kurz nach. »Ach ja, der Kollberg hat mich so angesprochen und einen Reim draufgesetzt. Ich glaube, der dreht langsam frei. Mannomann…«
»Nun lass mal«, fiel ihr BRB ins Wort. »Ab und an ein bisschen lustig muss doch erlaubt sein und ist nicht gleich psychopathologisch oder psychiatrisch. Da, wo ich gerade herkomme ist das schon anders.«
»Klär mich auf.«
»Ethikkonsil in Gehlsdorf.«
»Ah, ich verstehe. Der Doktor gibt sich mal wieder klinisch. Gut fürs Ego, oder?«
»Was kann ich denn Gutes für dich tun?«, fragte BRB nach.
»Für mich fällt mir da überhaupt nichts ein, aber vielleicht für deinen Freund Tengler.«
»Der kann eigentlich ganz gut für sich allein sorgen.«
»Ja, wenn ich darüber Gewissheit hätte, wäre mir wohler.«
»Was soll das denn nun heißen?«
»Er ist weg.«
»Wie weg?«
»Er ist heute nicht zum Dienst gekommen. Übers Smartphone kann ich ihn nicht erreichen. Seine Frau ist in Berlin, die habe ich angerufen, sie hat ihn am Freitagabend zuletzt gesehen und gehört. Sie will noch seinen Sohn fragen. Ansonsten wusste sie nur, dass er am Wochenende mit seinem Kajak loswollte, wahrscheinlich Sonnabend. Weißt du, was mit ihm sein könnte? Hattet ihr Kontakt?«
»Nein, ich weiß nur, dass das völlig ungewöhnlich ist. Einfach warten würde ich nicht.«
»Ok, sehe ich auch so. Dann schicke ich einen Streifenwagen zu seiner Wohnung.«
»Mach das. Ich bin nachher im Institut. Halte mich bitte auf dem Laufenden.«
Amy Winehouse verschaffte sich wieder Gehör, BRB schaltete sie jedoch weg. Zuviel ging ihm gleich durch den Kopf. Er verließ das Gelände am Osthafen und bog auf die B105, um über die Vorpommernbrücke zu fahren. Danach gleich links über die Warnowstraße und die Steintorkreuzung zum Institut. Er winkelte seinen Wagen auf dem Hof in eine Parklücke, wand sich aus dem Auto und ging hastig ins Haus. Zuerst ins Sekretariat. »Bin wieder da«, rief er in den Raum. »Hier die Parkkarte zurück.« Er protokollierte die Rückgabe und fragte, ob jemand etwas von Kommissar Tengler gehört habe.
»Nein, heute noch nicht«, gab die Sekretärin zurück. »Die suchen ihn und können ihn bisher nicht finden!«
»Ach Du meine Güte. Was soll mit dem denn sein?«
»Werden wir hoffentlich bald erfahren. Falls Frau Semlock hier anruft, bitte gleich zu mir durchstellen, ja?«
»Klar doch«, versicherte sie ihm mit einem Lächeln.
Kapitel 8
Vermisst
»Zu Hause ist er nicht, Kajak und Auto sind auch weg. Smartphoneortung negativ, muss abgeschaltet sein!« Diese kurz vorgebrachte Bilanz brach aus Kommissarin Semlock heraus, als sie BRB kurz vor Feierabend dieses ersten Tages der Woche anrief.
»Die Sonnabend-Zeitung steckt im Kasten! Sein Sohn weiß nichts, sagt seine Frau. Die ist noch in Berlin, wird langsam unruhig und kommt heute Abend nach Hause. Der Sohn hat ihn vor vier Wochen zuletzt gesprochen. Im Polizeibericht vom Wochenende nichts, was mit Tengler zu tun haben könnte. Auch die Wasserpolizei ohne Hinweise. Die Notaufnahmen blocken mal wieder. Da brauchen wir mindestens ein schriftliches Auskunftsersuchen der Staatsanwaltschaft oder einen Gerichtsbeschluss, bevor die uns etwas sagen.«
BRB reagierte nicht.
»Nun sag was, Doc! Was sollen wir machen? Mir bleibt nichts, als ihn und seinen Pkw in die Fahndung zu geben!?«
»Ja, äh, Du triffst mich so, dass ich auch nicht weiß, was ich sagen soll.«
»Du bist doch sonst um keinen Spruch verlegen«, konterte sie.
»Hör auf, das scheint hier ein Vorgang zu werden, wie ihr immer sagt. Da ist Schluss mit lustig. Torte Tengler ist mein Freund. Ich will gern alles Mögliche beitragen, um die Sache zu klären. Soweit ich weiß, ist er nicht so krank, dass er irgendwo liegen bleiben würde. Ich meine einen Zuckerschock oder andere Stoffwechselentgleisungen. Mit Herz und Lunge hatte er noch nie Probleme. Andererseits steht es nicht jedem auf die Stirn geschrieben. Betrunken haben dürfte er sich auch nicht. Passt nicht zu ihm, die Gelegenheit, in der seine Frau auf Tour ist, dafür zu nutzen. Er ist eigentlich fit. Wenn Kajak und Auto weg sind, läuten bei mir die Alarmglocken, Kerstin. Durchsucht unbedingt die Wohnung. Vielleicht gibt es Hinweise auf die Route, die er paddeln wollte. Dann fragt die potenziellen Einsatzstellen für Kajak-Touristen ab. Flussbad am Rostocker Mühlendamm, Zingst, Prerow, Bodstedt, Barhöft, Boiensdorf, Rerik usw. Das wären ja nur die nahe gelegenen Paddelreviere. Er kann natürlich sonst wohin gefahren sein. Trebel, Peene, Warnow, Mildenitz. Geht alles!«
»Wie gut, dass wir jetzt wissen, wie Polizeiarbeit funktioniert!«
»Was willst du? Du fragst mich und ich sage dir schnell und unüberlegt, was mir spontan einfällt!«
»Schon gut, Doc, weiß ich ja zu schätzen. Wir rufen uns beide an, wenn es etwas Neues gibt.« Beide legten auf und sanken zurück, beinahe synchron, als hätten sie sich abgestimmt.
BRB rief zu Hause an: »Stell dir vor, Torsten Tengler wird vermisst. Er kam heute nicht zum Dienst. Die Polizei hat bereits alle Register gezogen. Auch seine Frau findet keine Erklärung. Er ist weg und dazu sein Auto und sein Kajak.«
»Oh, Torsten, Auto und Kajak zusammen. Das hört sich nicht gut an. Wann kommst du nach Hause?«
»Pünktlich. Ich kann da ohnehin nicht helfen. Wir müssen abwarten und hoffen, dass das ein gutes Ende nimmt. Bis nachher.«
Die Fahndung lief auf Hochtouren. Torsten Tengler meldete sich nicht. In seinem Dienstzimmer ließ eine Pflanze die Blätter hängen, als wäre sie schon in Trauer. Die Reinigungskraft nahm sich ein Herz, versorgte sie mit frischem Nass und ruckelte den Topf etwas zurecht. ›Dein Herrchen wird schon bald wiederkommen‹.
Der Tag verging jedoch, ohne dass sich diese Prophezeiung erfüllte.
Es wurde Dienstag. »Meine Herren und meine Dame, das Team bitte zu mir«, rief Kerstin Semlock mal wieder über den Flur. Jeder wusste, worum es gehen würde und war schnell zur Stelle.
»Jetzt haben wir drei dabei«, beeilte sich Kollberg zu sagen.
»Kollberg,