Endstation Salzhaff. Ulrich Hammer

Endstation Salzhaff - Ulrich Hammer


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besucht hast und wir so schön gemütlich erzählt haben? Das wünsche ich mir öfter.«

      »Ja, natürlich erinnere ich mich. Das war, als ihr diesen Fall mit dem toten Geocacher hattet. Ich war gerade im Wahltertial in der Rechtsmedizin.«

      »Genau, aber Gedanken an dich, mein liebes Töchterchen, bringen mir eher Gedanken an das Leben. Wie läuft es denn so mit deinem Torben? Warum ist er jetzt nicht bei dir und hilft dir wegzuschieben, was dich bedrückt?«

      »Der muss arbeiten.« Kleine Pause.

      »Dieser Zustandsbericht fällt ja recht kurz aus. Muss ich mir Sorgen machen?«

      »Um den?«

      »Nun komm schon, Katharina, dein Torben wäre ein Tor, wenn er dich nicht halten würde und ein Tor ist er nicht, auch wenn er so ähnlich heißt. Aber ich glaube, ich lasse das Thema. Kathi, ruf mich bitte, wenn du mich brauchst und überhaupt auch sonst, wenn es dir einfällt, ja?«

      »Ist gut, Mom.«

      »Bis bald.«

      »Tschüss.«

      Kerstin Semlock lehnte sich zurück und atmete tief durch. ›Es ist immer alles auf einmal. Wenn es irgendwo hakt, klemmt es woanders auch. Ich muss jetzt den Tengler klar machen.‹ »Hat jemand seine Telefonnummer?«

      »Wessen?« rief es aus einer offenstehenden Zimmertür.

      ›WEN, WER, WESSEN‹, dachte sie mit einem jedoch nur noch innerlich hörbaren Aufbegehren.

      »Die von Tengler bitte schön!«

      »Ja, sicher, die steht im Dienstplan Frau Kommissär. Das ist gar nicht mal so schwer«, antwortete Kommissar Kollberg aus einer Ecke.

      »Dann bitte mal her damit. Ich muss ihn anrufen und fragen, was los ist.« Sie nahm auf irgendeiner Schreibtischecke Platz, kümmerte sich nicht, zu wem die gehörte und wählte seine Nummer. Sie schwenkte ihr Haar zur Seite, um den Hörer dicht ans rechte Ohr zu halten. Nach endlos wiederholtem Ruf eine monotone Stimme: »Gesprächspartner ist zurzeit persönlich nicht erreichbar. Bitte hinterlassen Sie … « Sie legte auf. ›Shit.‹

      »Wo arbeitet seine Frau?«, rief sie wieder in die Räume. Keine Antwort. »Warum weiß das keiner?«, rief sie, dabei etwas betroffen merkend, wie wenig sie selbst über ihre Kollegen wusste. Würde sie jemand anders suchen, stünde sie ähnlich hilflos da. Sie ging ins Sekretariat und verlangte Auskunft.

      »Frau Semlock, jetzt beruhigen Sie sich bitte. Ich schicke eben diese E-Mail noch ab und dann sehe ich nach, was wir haben, ja?«

      »Sie wissen, ich schätze Sie über alles«, höfelte Frau Semlock der Sekretärin zu, »aber ich habe ein blödes Gefühl im Bauch und ich weiß, ich bin aufgedreht, aber ich bitte Sie, mir zu helfen.«

      »Das klingt doch schon viel besser«, antwortete die Sekretärin aus ihrem gepflegten Dress hinter einem schwarzen Schreibtisch. Sie machte ihr Mousepad frei, klickte sich in ein internes Laufwerk und rief die Personaldaten der Mitarbeiter auf.

      »Da haben wir ihn ja. Torsten Tengler. Ganz schönes Foto von ihm«, lächelte sie in den Bildschirm hinein. »Hier steht’s. Angehörige: Frau Tamara Tengler, gleiche Wohnanschrift, erreichbar unter …«

      »Ich danke Ihnen sehr.« Kerstin Semlock nahm den Zettel mit der abgeschriebenen Handynummer von Tamara Tengler und eilte zurück in ihr Dienstzimmer. Sie wählte die Nummer und hoffte, nach jedem neuen Klingelton endlich ein erlösendes »Tengler« oder »Ja, bitte« zu hören. Ersteres geschah.

      »Tengler« hörte sie eine entspannte, helle Stimme sagen.

      »Hier ist Frau Semlock, eine Kollegin Ihres Mannes.«

      »Hallo, Frau Semlock. Ich weiß, mein Mann hat Sie oft erwähnt. Was führt Sie in die Leitung?«

      »Ich vermisse Ihren Mann, Frau Tengler. Damit Sie mich nicht falsch verstehen, er ist heute nicht zum Dienst erschienen. Ich wollte mich nur erkundigen, ob er vielleicht krank ist?«

      »Oh, das überrascht mich«, antwortete Tamara Tengler.

      »Wie kann es Sie überraschen? Waren Sie beide heute Morgen nicht zusammen?«

      »Nein, ich bin am Wochenende zu meiner Freundin nach Berlin gefahren. Mein Mann blieb in Rostock. Ich bin noch in Berlin und habe heute einen Termin auf der Museumsinsel.«

      »Darf ich fragen, was Sie beruflich machen?«

      »Sicher, ich konzipiere Heizungs- und Lüftungssysteme für Großbauten.«

      »Toll, das hört sich interessant an. Meinen Respekt. Das hört sich auch familienfreundlich an, wahrscheinlich keine Dienste?«

      »Genau, im Grunde haben Sie recht. Wir würden nur im Havariefall und wenn es wirklich pressiert mal einen außerordentlichen Lokaltermin wahrnehmen. So zum Beispiel heute.«

      »Ah ja, ok, aber zurück zu Ihrem Mann. Hatte er am Wochenende etwas Besonderes vor?« »Er wollte paddeln. Er wollte mit seinem Kajak aufs Wasser. Das macht er manchmal auch allein, wenn ich nicht da bin. Dieses Wochenende hatte sich angeboten. Wir haben zuletzt Freitagabend miteinander telefoniert, aber nicht darüber gesprochen, wohin er fahren wollte.« »Wie kann ich ihn erreichen, Frau Tengler? Übers Handy habe ich es schon versucht.«

      »Tja, ich weiß da auch nicht weiter. Er ist eigentlich nie krank oder so, höchstens mal ein Männerschnupfen, aber deswegen würde er nicht zu Hause bleiben. Fragen Sie doch mal Dr. Brandenburg. Vielleicht hatten die beiden Kontakt. Neulich waren sie zusammen im Kino. Kann ja sein, dass er etwas weiß. Also, ich mache mir da erstmal keine großen Sorgen. Das wird sich bestimmt aufklären. Ich rufe nachher mal seinen Sohn an, vielleicht erfahre ich etwas, ok?«

      »Alles klar, ich danke Ihnen.«

       Kapitel 7

       Die Rechtsmedizin

      1958 löste sich in Rostock die Gerichtliche Medizin aus der Pathologie und wurde zu einer eigenen Struktureinheit, zu einem Institut, zunächst in der Gertrudenstraße. 1964 zog das Institut in die Friedrich-Engels-Straße, heute St.-Georg-Straße, in das ehemalige Internat der Arbeiterund Bauern-Fakultät. Dort sitzt sie noch heute, seit der Wende umbenannt in Rechtsmedizin. Die alte graue Villa wirkt zwischen dem Studentenwohnheim und dem roten, wuchtigen Backsteingebäude, welches zu DDR-Zeiten die SED-Bezirksleitung beherbergte, danach das Gesundheitsamt und jetzt die Stadtkämmerei, wie ein Implantat. Das Hofgebäude bleibt verdeckt, ein hässlicher Betonbau, der Ende der 70er-Jahre in den Hof des Studentenwohnheimes gesetzt wurde, um Nachrichtentechnik aufzunehmen – man ahnt, um welche Art von Nachrichten und um welche Art von Technik es dort ging. Wer nun noch wusste, dass sich die Chemisch-Toxikologische Abteilung des Institutes in der Rungestraße neben der alten U-Haft befand, für den bestätigte sich endgültig durch diese baulichen Nachbarschaften ein Generalverdacht gegenüber allen, die in der Gerichtsmedizin arbeiteten. Mit dieser Corona aus Vorbehalten hatte sich der junge Dr. Karsten Brandenburg auch auseinanderzusetzen, als er 1980 nach dem Medizinstudium dort die Weiterbildung zum Facharzt begann. Der Kern des Faches hielt ihn jedoch gefangen und lies ihn nicht mehr los. Der Muff des alten Gemäuers erzeugte immer irgendwie beides: Abwehr und Anziehung. Letzteres überwog fast 40 Jahre. Seine Kollegen nannten ihn BRB: Das Autokennzeichen für die Stadt und den Landkreis Brandenburg an der Havel, seine Heimatstadt und kurioser Weise auch sein Nachname. BRB hatte sich in seinen drehbaren Dienstsessel eingepasst und merkte ein ums andere Mal, dass sein Körper so nach und nach, mit dem Älterwerden die Ideallinien verließ und der Sesselform immer ähnlicher wurde. Der Sessel war so bequem, dass der Körper keinerlei Energie aufwenden musste, um sich darin zu halten. Das wiederum ließ den Zeiger der Waage zwar langsam aber dafür beständig weiter nach rechts auslenken. Einhalt gebot lediglich ein Tag, der mit Obduktionen ausgefüllt war, denn da hieß es im Stehen präparieren und diktieren, den ganzen Tag, und zuweilen nähen und schwer heben. Einsätze zu einem Tatort, ein Konsil in der Klinik oder eine Vorlesung waren weitere willkommene Abwechslungen,


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