Performative Zugänge zu Deutsch als Zweitsprache (DaZ). Alexandra Lavinia Zepter
nach vorne, weg von ihrem Körper antworten, bei ‚sinnhafter Satz, Vergangenheit‘ mit einer Armbewegung nach hinten. Im zweiten Szenario galt es, die Armbewegungen genau in die entgegengesetzte Richtung auszuführen. Bei einer Vorstellung von Zeit auf einer Vorne-hinten-Achse entsprechen also in Szenario 1 die Beurteilungsbewegungen den temporalen Satzbedeutungen, im komplementären Szenario 2 widersprechen sie sich. Die beiden Szenarien vergleichend ergaben sich signifikante Unterschiede in den Reaktionszeiten: Bei einer Passung von Beurteilungsbewegung und temporaler Satzbedeutung reagierten die Proband:innen systematisch schneller als bei einer Nicht-Passung.
Zwei weitere ReaktionszeitstudienReaktionszeitstudie, die im Zusammenhang mit den körperbasierten Zeitkonzepten Erwähnung finden sollen, stammen aus der gleichen Forscher:innengruppe wie Ulrich et al.: Eikmeier et al. (2013) und Eikmeier et al. (2015). Hintergrund des Vergleichs der beiden Studien bildet die Annahme, dass bei der sprachlichen Verarbeitung von temporalen Bezügen räumliche Repräsentationen genutzt werden, dass jedoch die räumlich basierten Zeitkonzepte prinzipiell differieren können (erinnere Kap. 2.2). So ist neben der Vorstellung einer Vorne-hinten-Achse, die durch den eigenen Körper verläuft, alternativ auch die Übertragung der Zeitlinie auf eine räumliche Links-rechts-AchseLinks-rechts-Achse (links ≈ Vergangenheit, rechts ≈ Zukunft) denkbar.
Eikmeier et al. (2013) gingen zunächst der Frage nach, wie stark die Verknüpfung zwischen der Vorstellung von Zeit und der räumlichen Repräsentation einer Vorne-hinten-Achse ist. Wenn die Zukunft als etwas interpretiert wird, das vor dem eigenen Körper, also vorne liegt, die Vergangenheit komplementär hinten, macht es dann einen Unterschied, ob wir einen entsprechenden temporalen Bezug sprachlich mit den Wörtern Zukunft/Vergangenheit oder mit den Wörtern vorne/hinten benennen?
Um dies herauszufinden, legten Eikmeier et al. (2013) ihren Proband:innen Sätze vor, die entweder auf ein Ereignis in der Zukunft oder in der Vergangenheit verwiesen. Unter der ersten Testbedingung mussten die Proband:innen, wenn ein Vergangenheitssatz auf dem Computerbildschirm erscheint, laut „Vergangenheit“ sagen, bei einem Zukunftssatz mit „Zukunft“ reagieren. Bei einem zweiten Durchlauf galt es, komplementär einem Vergangenheitssatz das Wort „Zukunft“, einem Zukunftssatz das Wort „Vergangenheit“ zuzuordnen. Anschließend wurde das gesamte Experiment unter beiden Testbedingungen wiederholt, nur hatten die Proband:innen nun mit den Wörtern „vorne“ und „hinten“ zu reagieren.
Das erwartbare Ergebnis war, dass die Reaktionszeiten im Falle der Antwortwörter Zukunft/Vergangenheit bei der ‚inkongruenten Bedingung‘ (Zuordnung des Gegenteilwortes) signifikant langsamer waren als bei der ‚kongruenten Bedingung‘ (Zuordnung des passenden Wortes). Weniger erwartbar war, dass der Differenzgrad der Reaktionszeiten zwischen der kongruenten Bedingung und der inkongruenten Bedingung konstant blieb, wenn die Proband:innen mit den Wörtern vorne und hinten reagieren sollten. Die Assoziierung, dass die Zukunft räumlich vor uns bzw. vor dem eigenen Körper liegt und die Vergangenheit dahinter, ist offenbar so stark, dass es bei der sprachlichen Verarbeitung der Bedeutungen keinen signifikanten Unterschied macht, ob wir für das Zukünftige das Wort Zukunft oder das Wort vorne gebrauchen (und ebenso für das Vergangene).
Eikmeier et al. (2015) replizierten das gleiche Reaktionszeitexperiment, nur mussten die Proband:innen dieses Mal mit den Wörtern links und rechts (statt hinten und vorne) reagieren. Auch hier ergab sich ein Unterschied zwischen der kongruenten und der inkongruenten Bedingung, allerdings war er im Vergleich sehr viel schwächer ausgeprägt (ca. 66 % kleiner als bei der Reaktion mit den Wörtern Vergangenheit/Zukunft; vgl. ebd.: 1882). Das bedeutet, dass die Verknüpfung zwischen der Vorstellung von Zeit und der räumlichen Repräsentation einer Links-Rechts-Achse allgemein weit weniger stark zu sein scheint als die Assoziierung mit einer Vorne-hinten-Achse.
Die Ergebnisse passen zu der Beobachtung, dass in zahlreichen Sprachen durch entsprechende Metaphorik die Vorne-hinten-Achse Verwendung findet (siehe Kap. 2.2 für Beispiele im Englischen und Deutschen), dass aber bisher keine Sprache gefunden werden konnte, in der Ausdrücke mit Bezug zur Links-Rechts-Achse genutzt werden (Eikmeier et al. 2013: 1879). Eikmeier et al. (ebd.: 1882) diskutieren, ihre Daten interpretierend, u.a. die Möglichkeit, dass die Vorstellung einer von links nach rechts laufenden Zeitlinie vorrangig ein kulturelles Artefakt darstellt, das von Erfahrungen mit Kalendern, Schriftsystemen, bei denen von links nach rechts geschrieben wird, oder Darstellungen von Zeitlinien in Grafiken o. Ä. herrührt. Gehen wir davon aus, dass unsere lebensweltlichen Erfahrungen bei unserem eigenen Körper beginnen, ist die Prominenz der Vorne-hinten-Achse auch deshalb plausibel, weil wir uns, wenn wir uns gehend oder laufend bewegen und dabei psychisch ‚gefühlte‘ Zeit vergeht, in der Regel, von unserer Körperausrichtung her betrachtet, nach vorne bewegen (Füße, Gesicht etc. nach vorne) – und nicht seitwärts.
Die bisher vorgestellten Reaktionszeitexperimente zur sprachlichen Verarbeitung von motorischen Handlungs- und Zeitkonzepten betreffen die Satzebene. Kommen wir nun zur Wortebene, und zwar in der Erst- und Zweitsprache.
Sprachverarbeitung auf WortebeneSprachverarbeitung auf Wortebene: L1 und L2
Noch weiß man relativ wenig über die Reaktivierung von Erfahrungsspuren bei der Verarbeitung einer Zweitsprache (L2), hat man sich doch bislang primär der Verarbeitung der Erstsprache (L1) zugewandt. Doch die Ergebnisse der wenigen bislang vorliegenden L2-Studien weisen darauf hin, dass in der L2-Verarbeitung ebenfalls Erfahrungsspuren aktiviert werden.
Hintergrund der Studie von Dudschig, de la Vega & Kaup (2014) bildet die Beobachtung, dass uns zahlreiche Objekte in der realen Welt relativ zu unserer Körperausrichtung entweder ‚oben‘ oder ‚unten‘ im Raum lokalisiert begegnen: Flugzeug, Sonne, Stern z. B. oben am Himmel, Maulwurf, Wurzel oder Schuh unten am Boden. In erstsprachlichen Situationen wird sehr oft darauf gezeigt und sowohl die Zeigebewegungen, bei denen unser Arm sich nach oben oder nach unten bewegt, als auch unsere Blickbewegungen nach oben oder nach unten gehören zu den Erfahrungen, die kognitiv zusammen mit dem Wort abgespeichert werden (siehe Kap. 2.2, Abb. 2.5). Reaktionszeitexperimente (u.a. Lachmair et al. 2011) mit L1-Sprecher:innen belegen entsprechende Erfahrungsspuren (ebd.: 15), weil kongruente Bedingungen, bei denen die Proband:innen zur Wortidentifikation bei einem ‚Aufwärts-WortAufwärts-Wort‘ den Arm/die Hand heben oder nach oben blicken müssen (und bei einem ‚Abwärts-WortAbwärts-Wort‘ nach unten), kürzere Reaktionszeiten erzielten als inkongruente Bedingungen.
Wie aber verhält es sich beim Gebrauch einer Zweit- oder Fremdsprache? Die Frage ist nicht trivial, denn viele unterrichtliche Situationen, in denen wir in einer fremden Sprache neue Wörter lernen, unterscheiden sich von lebensweltlichen Situationen, in denen wir die Referenzobjekte ‚real‘ oben oder unten im Raum lokalisiert wahrnehmen und darauf zeigen. In unterrichtlichen Settings sind körperliche Erfahrung und die handelnde Interaktion mit anderen Lernenden oft weniger dominant (ebd.: 15).1
Dudschig, de la Vega & Kaup (2014) wenden einen bereits von Lachmair et al. (2011) erprobten Versuchsaufbau an, der die Wortverarbeitung auf einer unbewussten, automatisierten Ebene zu erfassen sucht. Der Versuchsaufbau entspricht einer modifizierten Stroop-AufgabeStroop-Aufgabe (benannt nach J. Ridley Stroop 1935), bei der die Proband:innen auf die Schriftfarbe reagieren. Ein bewusstes Lesen der Wörter einschließlich einer tieferen semantischen Verarbeitung ist hierbei nicht erforderlich. Den Testpersonen werden nacheinander einzelne Wörter in einer bestimmten Farbe präsentiert. Die Farbe des Wortes bestimmt, wie zu reagieren ist. Die Bedeutung des Wortes ist damit irrelevant und wird nur unbewusst erfasst.
Im Design von Dudschig et. al. (2014) steht eine Farbe für eine bestimmte auszuführende direktive Bewegung. In der Ausgangsposition halten die Proband:innen mit jeder Hand je eine Ausgangstaste gedrückt, die auf einer vertikal ausgerichteten Konsole mittig angebracht sind (vgl. Abb. 2.11). Erscheint nun z. B. ein Wort in blauer Farbe, muss man mit einer Hand auf eine Antworttaste drücken, die sich oberhalb der Ausgangstaste befindet, und dafür den Arm nach oben bewegen. Eine andere Farbe erfordert dagegen eine Abwärtsbewegung (zu einer Antworttaste unterhalb der Ausgangstaste). Die Proband:innen fokussieren auf die Farben, auf die sie mit Aufwärts- und Abwärtsbewegungen reagieren sollen, die