Oliver Hell Todeshauch. Michael Wagner J.
ihr, bis der Notarzt kommt«, sagte Hell und machte eine Bewegung auf das Haus zu. Rosin nickte und schenkte der armen Frau Susic auf dem Rücksitz ein Lächeln.
Unter dem Klingelknopf stand auf einem mit viel Patina versehenen Messingschild der Name Monzel. Keine moderne Gegensprechanlage, keine Kamera, nur ein simpler Klingelknopf. Das ließ darauf schließen, dass der Besitzer des Hauses auf modernen Schnickschnack keinen Wert legte. Ebenso wenig, wie auf eine moderne Sicherheitstechnik, die in den Häusern in dieser Wohngegend Standard war. Vielleicht hatte ihm diese Einstellung das Leben gekostet. Vielleicht.
Oliver Hell hatte gehofft, dass die Gerichtsmedizin schon vor Ort sei, aber weder Dr. Stephanie Beisiegel noch ihr Kollege Plaßhöhler waren zugegen. Der Eindruck, den Hell von außen gewonnen hatte, setzte sich auch im Inneren des Hauses fort. Nachdem er die schwere Eichentür mit dem Metallornament aufgeschoben hatte, empfing ihn ein breiter Flur. Der Hausbesitzer hatte sicherlich Mitte der Siebzigerjahre mit dem Kauf von neuen Möbeln aufgehört. Nicht dass das Mobiliar einen ungepflegten Eindruck machte, ganz im Gegenteil. Alles schien penibel sauber zu sein und die rustikalen Eichenmöbel wiesen fast keine Gebrauchsspuren auf. Sie schienen die letzten vierzig Jahre nicht genutzt worden zu sein. Hell ließ seinen Blick weiter schweifen, bis ihn eine Stimme ins Hier und Jetzt zurückholte.
»Der Tote liegt hier drüben, Herr Kommissar«, hörte er Julian Kirsch sagen. Der junge KTU-Mitarbeiter winkte ihn ins Wohnzimmer. Hell hob die Hand zum Gruß und beeilte sich, Julian Kirsch die Hand zu reichen. Er stand bald in einem Wohnzimmer, das der Diele in nichts nachstand. Auch hier hatte er das Gefühl, alles sei für einen Fototermin in den Siebzigern vorbereitet. Dunkle Eiche, schwere Ledermöbel und Teppiche, deren Ursprung er in Indien vermutete. Alles war sicher einst sehr kostspielig gewesen, oder war es auch jetzt wieder. Einzig der Tote wollte mit seiner Anwesenheit nicht in diese perfekte Zeitreise passen.
»Kommt dir das hier auch so vor wie in einem Museum, Julian?«, fragte Hell wie beiläufig und stützte sich auf der Lehne der Ledercouch ab.
Kirsch nickte. »Ja, das dachte ich auch zuerst. Aber eins stimmt hier nicht«, antwortete Kirsch und hob die Spiegelreflexkamera ans Auge, machte ein Foto, das er sofort auf dem Display betrachtete.
»Was denn?«
»Der Geruch. Es riecht nicht muffig. Bei meinen Großeltern roch es immer muffig und nach alten Leuten ... Sie wissen schon, was ich meine. Hier riecht es anders.«
Hell sah sich um, als könne er schnell den Grund dafür ergründen.
»Richtig, jetzt wo du es sagst«, antwortete Hell und widmete sich jetzt dem Gesicht des Toten mit der hässlichen Schusswunde.
»Er sieht beinahe erstaunt aus oder bilde ich mir das nur ein?«
»Hmh, stimmt. Jedenfalls nicht ängstlich oder gestresst.«
»Einbruchsspuren?«
Kirsch schüttelte den Kopf und machte ein Foto von den Hausschuhen des Mannes.
»Iwo, nichts, was auf ein gewaltsames Eindringen schließen ließe. Die Türen sind alle verschlossen gewesen und die Fenster intakt.«
»Also hat er seinen Mörder gekannt oder ihn zumindest ins Haus gelassen.«
Kirsch nickte erneut. »So sieht es aus.«
»Checke bitte seine Anrufe. Wer hatte zuletzt Kontakt? Das Übliche ...«, sagte Hell und erst jetzt bemerkte er einen weiteren Kollegen der KTU in dem weitläufigen Wohnzimmer. Der Mann hantierte mit einem Gerät, das auf einem großen Stativ montiert war und wie eine große Laterne aussah.
»Was macht er dort?«, fragte Hell leise und beschämt, da er keinen Schimmer hatte, was das für ein Gerät war.
»Och, der Kollege Juffing baut sein neues Spielzeug auf, einen 3D-Laserscanner.«
»Ach so, ich dachte, er sei nur Spezialist für Blutspritzer in jeglicher Ausprägung«, sagte Hell mit einem Grinsen, das von seiner Unwissenheit ablenken sollte.
»Iwo, unser Elmar ist multitaskingfähig«, sagte Kirsch augenzwinkernd.
Hell betrachtete weiter, wie der KTU-Mitarbeiter an seiner Gerätschaft hantierte.
»Elmar setzt seinen 3D-Laserscanner ein, der ein detailliertes Bild eines Tatorts aufzeichnet und diese Daten dann als begehbares Modell am Rechner darstellt. Wir als Ermittler können die Verbrechensstätte so virtuell betreten«, erklärte Kirsch noch, als Elmar Juffing sich zu Wort meldete.
»Wenn die Herrschaften jetzt den Raum verlassen würden«, rief er zu ihnen herüber.
Hell sah Kirsch verwundert an. »Wegen der Schatten«, erklärte Kirsch, »er muss unsere Körper dann hinterher wieder herausrechnen. Dann gehen wir lieber gleich aus dem Weg.«
Hell nickte und musste zugeben, dass er nicht wusste, was Kirsch ihm gerade erklärt hatte. Aber er wollte sich nicht die Blöße geben, eine weitere blöde Frage zu stellen und verließ mit Kirsch das Zimmer. Juffing stellte den Scanner an und beeilte sich, den Raum ebenfalls zu verlassen.
Hell und Kirsch betrachteten, wie der Scanner seine Arbeit verrichtete, und zuckten zusammen, als sie plötzlich von hinten angesprochen wurden.
»Na, meine Herren, was treibt ihr dort?«, fragte Dr. Stephanie Beisiegel und zog fragend eine Augenbraue nach oben.
»Hallo Stephanie, wir bestaunen modernste Kriminaltechnik im Einsatz«, antwortete Hell und konnte sich gerade noch zurückhalten, die Gerichtsmedizinerin in den Arm zu nehmen. Soweit hergestellt war ihr Verhältnis noch nicht, als dass sie es zugelassen hätte. »Ach so«, antwortete sie knapp und schob Hell ein Stück zur Seite, damit sie auch etwas sehen konnte.
»Macht uns das irgendwann arbeitslos?«, fragte sie scherzhaft.
»KTU-Drohnen, die würden uns noch fehlen«, brummte Kirsch und verzog dann doch den Mund zu einem gequälten Lächeln.
»Was haben wir?«, fragte die Gerichtsmedizinerin.
»Männliche Leiche zwischen 70 und 80 Jahren alt, Schusswunde in der Stirn, keine Einbruchsspuren. Den Rest musst du uns liefern, Stephanie.«
»Eben, wenn das Gerät aufgehört hat, dann gerne.«
»Ich stehe auf die gute alte Tatortermittlung«, fügte Kirsch noch an, in dem Moment schaltete sich der Scanner aus.
»Na, dann auf«, sagte Beisiegel und wuchtete ihre Tasche über die Schulter.
*
»Wie lange?«, fragte Hell.
»Kann ich noch nicht genau sagen. Die Leichenstarre ist noch nicht voll ausgeprägt. Lasst mir ein paar Minuten Zeit, bitte.«
Die Totenstarre beginnt bei Zimmertemperatur nach etwa 1 bis 2 Stunden an den Augenlidern, Kaumuskeln - 2 bis 4 Stunden - und kleinen Gelenken, danach setzt sie ein an Hals, Nacken und weiter körperabwärts und ist nach 14 bis 18 Stunden voll ausgeprägt.
»Und, was schätzt du?«, hakte Hell nach, obwohl er wusste, dass Dr. Beisiegel solche Fragen nicht mochte.
»Hmh«, antwortete sie und fasste dem Toten in den Nacken und ans Kinn, »ich schätze zwischen dreiundzwanzig Uhr abends und ein Uhr nachts.«
Hell fasste sich ans Ohrläppchen und rieb es.
»Der Mann sollte sein Opfer gekannt haben. Er hat erst kurz vorher verstanden, dass er in Gefahr ist. Er hat versucht zu fliehen, dabei die Pantoffel verloren«, resümierte Hell, »aber was ich nicht verstehe, diesen Schuss sollte doch jemand gehört haben. Um Mitternacht oder kurz danach, da schläft doch noch nicht jeder.«
Beisiegel zuckte mit den Schultern.
»Klinkenputzen, Oliver, Klinkenputzen!«
»Super Antwort, Stephanie. Klauk ist noch nicht wieder im Dienst, Wendt hat sich mit Grippe krankgemeldet. Vier minus zwei macht zwei. Also bleiben Lea und ich übrig!«, murrte er.