Die Vigilantin. Sonja Reineke
eine Telefonzelle suchen wollte ich auch nicht. Er hätte sich die Kleine ja schnappen und verschwinden können. Außerdem gibt es ja fast nirgendwo mehr Telefonzellen. Und wenn man mal eine findet, ist sie kaputt.
Wie ich noch da stand und überlegte, was ich tun sollte, stand das Mädchen schnell auf, griff sich ihren Ranzen und ging den Weg weiter entlang, in meine Richtung. Wahrscheinlich fühlte sie sich sicher, weil ich an ihr vorbeigegangen war, und wollte in meiner Nähe bleiben. Bestimmt wohnte sie Richtung Pfarracker. Ich warf ihr einen Blick zu, als sie an mir vorbeiging, und sie starrte mich einen Augenblick lang erschrocken an, als sie an dem Gebüsch vorbeikam und mich dahinter stehen sah. Dann ging sie schneller und sah noch einmal furchtsam zurück. Aber nicht auf mich, sondern in Richtung Spielplatz. Sie rannte. Und ich drehte den Kopf und sah den Mann, der von der Bank aufstand, hastig seinen Hosenstall richtete, und auf den Weg zuging, der an mir vorbeiführte. Er kam auf mich zu, ohne zu wissen, dass ich da stand. Und da holte ich das aus meinem Einkaufsbeutel, was ich unten in dem Sportfachgeschäft gekauft hatte.“
3
„Denken Sie, dass auch das Schicksal war?“, frage ich kritisch. Sie will mir hoffentlich nicht weismachen, dass ihre mörderische Karriere ein Fingerzeig Gottes war.
Sie lacht wieder kurz, beinahe mitleidig, auf. „Nein, es war nicht Schicksal … aber ein netter Zufall. Ich wollte abnehmen. Wieder so ein Phänomen unserer verrückten Gesellschaft. Da haben wir um die zwanzig verschiedene Joghurtsorten im Regal, riesige Truhen mit Fisch, Fleisch und Sahnetorten, auf der anderen Seite der Welt verhungern die Menschen im Sekundentakt, und wir, die wir vor Überfluss nicht wissen wohin, werden immer fetter und bekommen von den Medien gleichzeitig eingebläut, dass nur ein extrem schlanker Mensch schön und erfolgreich ist. Also geht man an all dem Überfluss vorbei und gönnt sich nur noch light Produkte und klagt jedem traurig: Nein, bitte keinen Kuchen für mich, ich bin auf Diät. Und woanders verhungern die Kinder. Aber ich schweife ab. Ich wollte also abnehmen, und weil ich aber gleichzeitig unmöglich auf mein leckeres Essen verzichten mochte, dachte ich, ich versuche es mal mit Muskelaufbau. Deswegen hatte ich die Hanteln gekauft.
Ich kann nicht sagen, dass ich in dem Augenblick, als er auf das Gebüsch zueilte, um das Mädchen nicht aus den Augen zu verlieren, einen Plan fasste. Oder, dass mir irgendeine Stimme etwas zuflüsterte. Ich reagierte einfach. Ich zog eine von den Hanteln aus dem Leinenbeutel. Sie war klein und mit blauem Plastik überzogen. Er kam weiter auf mich zu. Ich bin Linkshänder, also nahm ich die Hantel in die linke Hand und hielt den Einkaufsbeutel in der Rechten. Es ging alles so schnell … Er kam auf mich zu, die Augen weit aufgerissen, er ging immer schneller, weil er das Mädchen zu verlieren drohte … ich erinnere mich genau an ihn. Er trug eine blaue Jacke und Jeans, auf dem Kopf eine Baseballkappe … ich glaube, er war nicht älter als Mitte dreißig. Eigentlich sah er sympathisch aus, wie jemand, den man nach der Uhrzeit fragt oder wie man am besten zum Hauptbahnhof kommt. Ich warf einen Blick auf seine Jeans. Da war eine Beule nahe seiner linken Hosentasche. Und ein kleiner feuchter Fleck. Wenn ich vorher noch gezögert hätte, jetzt nicht mehr. Er kam an mir vorbei, sah mich da stehen, erschrak – und ich schlug zu. Ich war damals alles andere als ein Profi. Ich hätte ihn besser an der Schläfe getroffen, aber die Hantel erwischte ihn etwas dahinter, mehr schon am Hinterkopf. Er keuchte kurz etwas, das wie ein überraschtes „Öhh?“, klang, und wich instinktiv nach rechts aus, weg von mir, und hob gleichzeitig den Arm vors Gesicht. Da schlug ich noch mal zu. Und da ging er zu Boden. Und ich dachte den einzigen klaren Gedanken, den ich während der ganzen Sache hatte: Ich will nicht, dass er wieder aufsteht.
Ich sah mich um, aber der Park war noch immer leer. Und da war das Gebüsch. Nicht nur neben mir, auch hinter mir. Denn dahinter fängt gleich der Schildescher Friedhof an. Und das war natürlich ungeheuer passend.
Erstaunt stellte ich fest, dass ich immer noch die Einkaufstasche umklammert hielt, und ließ sie fallen. Dann nahm ich seine Füße und zog. Er war ein ziemlich schlanker Mann, aber so leblos war er schwer wie ein Sack voll Blei. Vielleicht war er auch schon tot von dem zweiten Schlag, dachte ich. Jedenfalls zerrte ich ihn in das Gebüsch hinter mir und zog ihm das T-Shirt aus, denn das war weiß und leuchtete förmlich durch die Zweige. Und das Risiko war groß, dass ihn jemand fand. Der Park war zwar momentan relativ leer, aber der Friedhof war gut besucht. Wenn der Frühling kommt, kommen auch all die Witwen und bepflanzen die Gräber neu, stellen frische Kerzen auf und gießen und jäten und machen und tun. Ein weiteres Problem tat sich auf: Da war ein rostiger Maschendrahtzaun mitten im Gebüsch. Und die Bäume und Sträucher blühten alles andere als üppig. Wenn ich ihn hier liegen ließ, wurde er in null Komma nichts gefunden. Also ging ich auf den Friedhof und sah mich in den Kompostbehältern zu. Zum Glück hatten schon einige Omis diese Grababdeckungen für den Winter, Tannenzweige und dergleichen, da hineingeworfen. Ich nahm mir also zwei Armvoll und schlich zurück zum Gebüsch. Da hätte man mich leicht entdecken können … ich musste durch den Eingang zum Friedhof, da ist ein gusseisernes Tor, und durch das musste ich auch wieder zurück … die Arme voll mit vertrockneten Tannenzweigen. Ich war überzeigt, dass das irgendwem aufgefallen war. Aber bis heute hat sich kein Augenzeuge gemeldet. Das ist der Vorteil, wenn die Gesellschaft einen zum Wegsehen erzieht.
Ich bedeckte die Leiche mit den Tannenzweigen, vor allem die Teile, die einem ins Auge fallen konnten: Das Gesicht, die Hände … sie waren so schon hell, und ein Leichnam wird mit der Zeit noch blasser. Zudem wusste ich nicht, ob er sich irgendwie komisch verfärben würde, falls er tot war. Woher hätte ich das auch wissen sollen? Jedenfalls ging ich kein Risiko ein. Als er komplett bedeckt war, schlich ich aus dem Gebüsch heraus. Aber weiter hinten, wo ich ihn auch niedergeschlagen hatte. Da ist ja noch der große Strauch, der mich vor ihm verborgen hatte. Der schützte mich auch jetzt vor Blicken, die von weiter oben kommen konnten. Da führte ja noch ein weiterer Weg lang, und ein paar Häuser und Gärten sind da auch. Ich kam also hinter dem großen Strauch hervor, als hätte ich nichts weiter getan, als auf dem Spielplatz auf der Bank zu sitzen. Und ich hatte meinen Einkaufsbeutel wieder. Mit dem Gulasch. Und den Hanteln.
Ich ging nach Hause. Wie im Traum. Alles um mich herum war so … so surreal. Und ich hielt den Kopf krampfhaft geradeaus, als ich an dem Gebüsch vorbeikam. Aber an der Stelle, wo er lag, konnte ich nicht anders und wandte den Kopf. Mein Herz blieb einen Augenblick stehen, als ich einen Zipfel seines Ärmels sah. Ein kleiner Fleck Blau in all dem dunklen Grün und Braun der Zweige. Mein Herz blieb zwar stehen, ich aber nicht. Meine Füße trugen mich automatisch weiter. Eine alte Dame kam mir entgegen. Sie war auf dem Friedhof gewesen, hatte sich aber so sehr mit dem Gießen der Blumen beschäftigt, dass sie mich gar nicht gesehen hatte. Mein Herz schlug jetzt wie wild. Was, wenn sie etwas sah? Wenn sie den Ärmel im Gebüsch entdeckte? Es war nur ein kleiner Fetzen. Man musste schon genau wissen, wonach man suchte, um ihn zu sehen. Und so viel Müll lag überall herum, auch im Gebüsch: leere Bierflaschen, kaputt oder intakt, Getränkekartons, Eispapier. Wieso sollte jemand ihn bemerken?
Ich ging an der alten Dame vorbei, die nur kurz lächelte und ihren Weg fortsetzte. Ich konnte nicht anders, ich musste mich umdrehen und sie beobachten. Sie ging schnurstracks an der Stelle vorbei. Sie sah nicht mal hin.
Mir war schwindelig und ich ging weiter. Eierte weiter. Ich bin mir sicher, wer mich an dem Tag sah, hätte mich für betrunken halten müssen. Ich hatte jemanden ermordet. Ich war eine Mörderin. Man würde ihn finden und dann mich. Ich sehe oft genug Krimis wie CSI und dergleichen. Es scheint so, dass es heutzutage schon reicht, in der Nähe des Opfers einen fahren zu lassen, um gefunden zu werden. Bestimmt hatte ich Haare an ihm hinterlassen. Faserspuren, als ich ihn schleifte, Schweiß. Wimpern. Es war nur eine Frage der Zeit. Auch wenn ich damals noch nicht aktenkundig war: Ich war mir sicher, dass mich jemand gesehen hatte, auch wenn ich ihn nicht gesehen hatte. Vielleicht war die Polizei schon auf dem Weg.
Erschöpft kam ich zu Hause an und servierte Felix später sein völlig angebranntes und versalzenes Gulasch. Er war erstaunt. Noch nie hatte ich sein Essen versaut. Aber ich konnte an nichts anderes denken als an diesen schlaffen, schweren Körper und welche Geräusche seine Turnschuhe machten, als sie über die Blätter und durch den Matsch im Gebüsch schleiften. Alles andere lief nebenher ab. Ich konnte mich auf nichts konzentrieren. Ich stand völlig neben mir. Sie denken an mich als ein kaltblütiges Monster, das nachts gut schlief nach den Morden. Aber das kam erst