Die Vigilantin. Sonja Reineke

Die Vigilantin - Sonja Reineke


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die Schaufel danebenfallen. Dann ging ich zum Gebüsch und suchte nach ihm. Ich wusste noch genau, wo er war: An der Stelle, wo er lag, stand auf der anderen Seite des Maschendrahtzaunes ein Grabstein mit der Aufschrift Familie Ahrendt. Den fand ich rasch. Ich hatte mir den Grabstein nicht bewusst gemerkt. Das lief alles auf einer so unbewussten Ebene ab, dass ich überzeugt war, ich hätte es geträumt. Und so ähnlich ging es mir auch jetzt noch. Wie planlos das alles ablief, kann man auch daran ersehen: Ich hatte natürlich in meiner Panik vor dem verschlossenen Tor nicht daran gedacht, dass er ja noch auf der anderen Seite des Maschendrahtzauns lag. Erschlagen hatte ich ihn ja im Park und dann ins Gebüsch gezerrt. Vor den Zaun darin. Aber jetzt war es mir egal. Ich war entschlossen, ihn zu finden und dann mit der Schaufel den Zaun auszuhebeln oder dergleichen. Ich konnte diesen Weg an der Engerschen Straße nicht noch einmal zurücklegen. Ich hatte die Nerven dazu nicht mehr. Ich überstieg das Tor, was gar nicht so einfach war, ging an die Stelle, wo auf der anderen Seite der Grabstein der Ahrendt Familie stand, und ließ den Kegel der Lampe über den Boden wandern. Ich fand verstreute Tannenzweige aus dem Container. Ich fand Spuren von Turnschuhen der Größe 45. Ich fand zerdrücktes Gestrüpp. Aber ihn fand ich nicht. Er war weg.“

       4

      Eigentlich halte ich mir meine Wochenenden frei, um auch meinen Kopf frei zu bekommen und mich vom Stress in der Redaktion zu erholen. Vor allem von den Begegnungen der unangenehmen Art, die ich manchmal mit Ingo habe. Seit ich bei unserer Zeitung anfing – ziemlich grün hinter den Ohren – habe ich lernen müssen, dass man sich die Leiter nicht nur hinauf-, sondern auch hinunterschlafen kann. Aber an diesem Wochenende lässt mich der Fall Darlan nicht los. Ich beschließe also, mir den Park einmal anzusehen, in dem sie ihr erstes Opfer gefunden hat. Die Bewohner von Schildesche nennen ihn schlicht „Den Park am Ententeich“ wenn sie überhaupt davon reden. Er ist ohnehin nichts verglichen mit dem Obersee, den man von dort auch erreichen kann. Ich parke meinen Wagen in der Niederfeldstraße und betrete den Park somit von der Seite aus, von der auch Darlan ihn immer angesteuert hat. Gleich am Anfang des Parks stehen auf der rechten Seite ein Hochhaus, auf der Linken mehrere kleine Reihenhäuser. Von den Häuschen aus kann man in den Park nicht hineinsehen; ein dichtes Gebüsch, das die Rasenfläche des Hochhauses vom restlichen Park trennt, nimmt einem komplett die Sicht. Aber von den oberen drei Etagen des Hochhauses kann man bequem den ganzen Park übersehen. Sogar Balkone gibt es.

      Nachdenklich bleibe ich vor dem hässlichen Gebäude stehen und sehe daran hoch. Nicht nur vom Balkon aus, sondern auch von mindestens zwei weiteren Zimmern kann man den Park überblicken. Und es war Mittag. Hell. Und keiner hat etwas gesehen, als Darlan Wolfhardt mit der Hantel niederschlug und ins Gebüsch schleifte. Auch das kleine Mädchen, für das Darlan angeblich den Mord beging, ist nicht auffindbar. Sollte unsere Gesellschaft tatsächlich so desinteressiert sein, wenn vor ihren Augen ein Mord geschieht? Oder hatte Darlan einfach nur Glück? Es war sonnig an dem Tag, aber kalt. Wahrscheinlich war niemand auf dem Balkon. Und bestimmt waren die Mieter in den oberen Etagen berufstätig. Es kann also gut sein, dass von hier aus tatsächlich niemand etwas gesehen hat.

      Ich lasse das Hochhaus also rechts liegen und gehe weiter. Hinter einer Reihe von Bäumen und Sträuchern liegt auf der rechten Seite der Ententeich, ein Loch voll mit grünlichem Wasser, auf dem ein paar Enten und Schwäne träge umherschwimmen. Links schlängelt sich ein kleiner Bach bis hinunter zur Talbrückenstraße. Dahinter beginnt der Obersee.

      Eine Kreuzung liegt vor mir. Rechts führt der Weg vorbei an dem Teich, dann am Friedhof, dann kommt jener Spielplatz und noch ein Stück weiter ist der Parkplatz des Supermarktes. Dort will ich hin. Ich ignoriere also den Weg zum Obersee und den, der geradeaus zum Pfarracker führt, und folge Darlans Spuren. Es ist der 9. Februar 2008, ein außergewöhnlich warmer und sonniger Tag. Viele Spaziergänger kommen mir entgegen. Die meisten wollen mit Sicherheit zum Obersee und keiner von ihnen scheint zu wissen oder sich daran zu erinnern, dass hier ein grauenhafter Mord stattgefunden hat. Oder, dass die Mörderin ihr Opfer auf dem Friedhof verscharrte, auf dem jetzt viele wieder die Tannenzweige von den Gräbern ihrer Lieben nehmen und neue ewige Lichter entzünden.

      Es ist erschreckend, wie schnell Menschen vergessen. So richtig still ist es um Miriam Darlan noch nicht geworden, und nach der Serie, die ich für unsere Zeitung schreiben möchte, wird all das noch einmal hochkochen. Aber dann wird man sich nach ein paar Monaten nicht mehr an sie erinnern. Und das scheint mir keine gute Idee zu sein. Ich mag das nicht hinnehmen und halte ein Pärchen an, das gerade seinen Hund Gassi führt. Ich frage sie, ob sie wissen, was sich hier ereignet hat. Sie erinnern sich noch.

      „Aber das ist doch schon so lange her“, sagt die Frau wegwerfend.

      „Gerade einmal zwei Jahre“, gebe ich etwas unbehaglich zu bedenken.

      „Ach ja … ich erinnere mich … Das war hier? Auf diesem Friedhof?“ Der Mann schaut nachdenklich aus der Wäsche und wirft ein Stöckchen für seinen Hund. Allerdings nur ein paar Meter weit, damit der Hund trotz Leine an ihn herankommt. Was für ein vorbildlicher Bürger. Darlan hat einmal zu mir gesagt, dass diese braven Mitmenschen mir viel mehr Angst machen sollten als sie. Ich steckte gerade frische Batterien in den Rekorder. Sie beugte sich vor, und ich sprang erschrocken auf. Hinter der Tür in meinem Rücken entstand auch schon Bewegung. Immer wenn ich mit Darlan in dem Zimmer sitze, steht ein Wachmann direkt neben der verschlossenen Tür und linst durch ein Guckloch. Beim geringsten Anzeichen eines Angriffs auf mich stürmen sofort drei bis vier uniformierte Männer mit Elektroschockern in den Raum. Man traut ihr eben alles zu. Als ich mich wieder auf den Stuhl gesetzt und der Wachposten die Tür wieder verschlossen hatte, sagte Darlan das zu mir. Dass ich sie nicht zu fürchten brauchte.

      „Da draußen sind die, vor denen Sie sich in acht nehmen müssen. Hinter ihrem Lächeln, ihrem Beiseitetreten und ihrer Zuvorkommenheit brodelt es. Sie merken es vielleicht selbst nicht, aber es ist so. Wir alle werden in ein Schema gepresst, aus dem wir nicht ausbrechen dürfen. Wir halten unsere Augen in der Straßenbahn gesenkt. Wir starren aus dem Fenster; wir lesen Zeitung. Wir sehen auf unsere Hände. Aber wir fallen nicht auf. Irgendwann explodieren wir alle. Die meisten innerlich – die kriegen Angststörungen und Depressionen – einige Wenige nach außen. Und niemand kann voraussagen, wann das sein wird – oder wer. Das ist es, was unserer Gesellschaft so viel Angst macht. Oder glauben Sie, Erfurt und Emsdetten waren Einzelfälle? Ich nicht. Ich weiß genau, was in den Jungs vorging.“

      Darauf will ich ein andermal eingehen. Jetzt, während der Mann nachdenklich lächelnd zum Friedhof herübersieht, beschließe ich Darlans Redefluss nicht mehr zu unterbrechen. Man kann sie sowieso nicht kontrollieren. Und es ist ihre Geschichte; soll sie sie erzählen, wie sie will.

      „Ja, das war hier. Ist Ihnen das wirklich egal?“, frage ich jetzt. Beide heben die Schultern und schütteln betroffen den Kopf.

      „Nein, nein, egal ist uns das nicht. Auf keinen Fall! Aber wir sind hier schon so oft vorbeigegangen … wir können nicht jedes Mal ein trauriges Gesicht machen. Das Leben geht weiter.“ Die Frau sagt es und lächelt. Der Mann nickt und lächelt ebenfalls. Beide wünschen mir einen schönen Sonntag und setzen ihren Spaziergang fort.

      Nachdenklich betrete ich den Friedhof. Das Leben geht weiter, wie oft ich diesen Spruch schon gehört habe. Für manche geht es nicht einfach weiter. Ich frage mich, was Darlan wohl dazu sagen würde?

      Vielleicht kann ich es sie mal fragen.

      Der Schildescher Friedhof ist sehr gepflegt und man wird offensichtlich in seiner Kreativität nicht groß behindert. Auf einem Grab sehe ich sogar eine kleine Buddha Statue. Auf vielen Friedhöfen ist derlei unerwünscht. Ich muss eine Weile suchen, bis ich das Grab finde, das Darlan für die Entsorgung ihrer ersten Leiche benutzt hat. Ein Geniestreich war das. Bei allem Abscheu muss man das anerkennen. Und trotzdem war es diese perfekte Lösung, die zu ihrer Entdeckung führte. Seltsam, wie das Leben, das ja einfach weitergeht, so spielt.

      Das Grab wird inzwischen nicht mehr genutzt. Ich denke, dass keiner diese Stätte kaufen möchte. Zu viele Menschen wissen Bescheid. Es ist jetzt nichts weiter als eine schmale Unterbrechung der Grabreihe, die mit Gras bewachsen ist. In irgendeiner Form markiert ist sie nicht. Man muss schon wissen, wonach man sucht. Ich finde, man sollte einen Stein aufstellen und einen Spruch von Darlan dort eingravieren,


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