Die Vigilantin. Sonja Reineke

Die Vigilantin - Sonja Reineke


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fragte, und sie sagte, heutzutage gäbe es doch nur einen Gott, an den alle gleichermaßen glaubten.

      Nachdenklich starre ich eine Weile auf die Lücke, sehe mich verstohlen um, und ziehe meine Digitalkamera hervor. Etwas dumm komme ich mir schon dabei vor, ein Stück Rasen zu fotografieren. Aber vielleicht hilft mir das Bild beim Schreiben. Ich schieße noch mehr Fotos: das Gebüsch hinter mir, in dem Wolfhardt unter den Tannenzweigen lag, die Wege, die anderen Gräber, die Behälter, in denen man die verrottbaren, unverrottbaren und die restlichen Abfälle entsorgen kann. Zum Obersee, wo sich Darlan ja auch ausgetobt hat, will ich ein anderes Mal gehen. Am besten nicht an einem Wochenende und wenn das Wetter schlechter ist. Man kann einfach nicht nachdenken, wenn von allen Seiten Menschenmassen auf einen zukommen. Und der Obersee ist an den Sonntagen brechend voll.

      Als ich wieder zu Hause ankomme, liegen ein großer Strauß Rosen und eine Schachtel teurer Pralinen vor meiner Haustür. Auf der Karte, die in den Rosen steckt, steht: Ich war ein Vollidiot, Dich zu verlassen. Können wir nicht noch einmal von vorn anfangen? In Liebe, Dein Ingo. Ich lache mich schier tot. So will Ingo also an meine Darlan Story rankommen? Aber die Pralinen sehen lecker aus. Genau das Richtige für den Fernsehabend.

       5

      Fakten über Miriam Darlan:

      Name: Miriam Lena Darlan, geborene Miaschek

      Geboren am: 10.07.1970 in Dortmund

      Eltern: Roland und Claudia Miaschek

      Geschwister: Michael und Daniela

      Verheiratet mit Felix Darlan vom 17.04.1989 bis zum 26.10.2007

      Der Name Darlan ist ein ziemlich alter und ehrwürdiger, wie Felix Darlan in seinem Buch „Vom Leben mit dem Monster“ erklärt. Und seine Frau hat ihn ‚besudelt.’ Felix Darlan ist inzwischen in zweiter Ehe verheiratet. Sein Buch, von einem Ghostwriter geschrieben, steht seit über einem Jahr in den Bestsellerlisten. Von den Dingen, die seine Exfrau getan hat, will er nichts gewusst haben. Auch darüber werde ich mit Miriam Darlan sprechen.

       6

      Bei meinem nächsten Besuch bitte ich darum, sie vorher in ihrer Zelle sehen zu dürfen. Einmal will ich sie sehen, ohne dass sie mich sieht. Und wie sie in ihrer Zelle sitzt, was sie dort macht. Auf diese Weise will ich mich an sie herantasten. Man führt mich zu einer grünen Tür mit vielen Schlössern und einem Guckloch, mit dem man von außen ins Zimmer sehen kann. Darlan hat ihre Zelle so hübsch wie möglich gemacht. Alles ist aufgeräumt und an seinem Platz, das Bett gemacht, ein paar Bücher liegen auf ihrem Schreibtisch. Einige Blumen aus Transparentpapier, wohl ungelenk von einem Kind gebastelt, hängen am Fenster. Ein Foto von einem Mädchen, das einen kleinen Hund im Arm hält, klebt an der Wand neben dem Bett. Der Tisch ist genauso wie das Bett am Boden festgeschraubt. Der Stuhl, auf dem sie sitzt, ist es mit Sicherheit auch. Sie hat drei Stapel vor sich: Einen mit ungeöffneten Briefen in der Mitte, einen mit geöffneten auf der rechten Seite, und einen Haufen Konfetti auf der linken. Sie hat eine Lesebrille auf der Nase und liest konzentriert einen Brief, den sie in beiden Händen hält. Sie zieht die Augenbrauen hoch, lächelt spöttisch und zerreißt den Brief langsam in kleine Fetzen, die sie auf den anderen Haufen Konfetti legt. Dieser Haufen ist um etwa zwei Drittel kleiner als der mit den geöffneten Briefen.

      Sie greift gerade zu einem weiteren verschlossenen Umschlag, da ziehe ich mich von dem Guckloch zurück und nicke dem Beamten mit dem Schlüsselbund resigniert zu. Er führt mich in unseren kleinen Raum mit dem wackeligen Holztisch und den scheußlichen Stühlen. Ich baue mein Mikrofon und den Rekorder auf und warte.

      Seelenstrip

       7

      „Hallo, Ruth. Sie sehen gut aus. Ausgeruht. Lässt man Sie in der Redaktion mit dem anderen, unwichtigen Zeug in Ruhe?“

      Darlan kommt durch die Tür und setzt sich auf ihren Platz. Trotzdem der Wächter bewaffnet ist und den Elektroschocker bereithält, sieht es so aus, als ob sie ihn führt, statt umgekehrt. Sie setzt sich hin und entlässt ihn mit einem königlichen Nicken.

      „Danke. Ja, man hat mich komplett freigestellt, damit ich Zeit genug für Sie habe. Wollen wir weitermachen?“

      Ich erinnere mich, dass sie an einer verdammt spannenden Stelle aufgehört und vorgegeben hat, sie sei müde. Müde, von wegen. Sie wollte mich bei der Stange halten – und mir wieder einmal klarmachen, wer am längeren Hebel sitzt.

      Neugierig sieht sie mir dabei zu, wie ich eine neue Kassette einlege und die alte mit einem weißen Klebestreifen versehe.

      „An Ihrer Stelle würde ich dich nicht mit ‚Darlan’ beschriften.“

      „Warum nicht?“, frage ich irritiert. Womit soll ich sie denn sonst beschriften? ‚Ein Tag im Märchenland’ vielleicht?

      „Nur ein Tipp, Ruth, aber ein Guter. Sie dürfen nicht vergessen, wie begehrt Ihr Material ist. Und Sie werden Neider haben bei Ihrer Zeitung. Wie heißt die noch mal, ‚Bielefelder Kurier’ oder so ähnlich?“

      Ich wundere mich wieder einmal. Sie fordert explizit mich an, weiß aber nicht einmal genau den Namen der Zeitung, für die ich arbeite?

      „Ich verwahre die Kassetten bei mir zu Hause“, erwidere ich begütigend, „nicht in der Redaktion.“

      „Eben“, knurrt sie und reibt sich die Unterarme. Ihr ist wohl kalt.

      Vielleicht hat sie ja recht. Um sie nicht noch mehr auf die Palme zu bringen, beschrifte ich den kleinen Streifen mit ‚Père Roger, Interview v. 23.05.07/Bretagne’ und reiche ihr die Kassette über den Tisch. Ein Räuspern ist hinter der Tür in meinem Rücken zu hören. Scheinbar passt es Mahling nicht, dass ich Darlan etwas gebe.

      „Das gefällt mir“, nickt sie, „wer ist denn dieser ‚Père Roger’?“

      „Ein französischer Küchenchef, den ich letztes Jahr interviewt habe. Er kennt eine Menge Geheimnisse. Seine Rezepte sind einfach … wunderbar. Die Kassetten habe ich noch nicht beschriftet. Sie sind nur nummeriert. Soll ich die dann mit ‚Darlan’ beschriften? Was meinen Sie?“

      Sie lächelt nur.

      Bevor sie loslegt, möchte ich die Frage loswerden, die mich so brennend interessiert.

      „Wo wir schon dabei sind, könnten Sie mir dann bitte verraten, weshalb Sie darauf bestanden haben, eine Reporterin unseres Blattes aus dem Ressort ‚Kochen rund um die Welt’ für Ihre Geschichte zu bekommen?“

      Sie kichert kurz. „Das lässt sich leicht erklären, Ruth. Als Sie beim ‚Kurier’ waren, haben Sie einen kleinen Artikel zum Thema ‚Bücher aus Bielefeld’ geschrieben und diese Reineke interviewt. Das war ein verdammt guter Artikel, wirklich. Der Nächste war schon etwas größer. Ihren Schreibstil fand ich gut und vor allem objektiv. Nicht zu kritisch. Nicht zu reißerisch. Genau richtig. Felix und ich abonnieren mehrere Zeitungen, aber nach dem Kurier grapschte ich immer zuerst. Weil ich dachte, diese Ruth Welter hat vielleicht wieder etwas geschrieben, vielleicht auch schon einen Leitartikel. Dann auf einmal kam gar nichts mehr. Und dann habe ich Ihren Namen nur noch im Teil mit den Rezepten aus aller Welt gesehen. Hat mich sehr gewundert. War es ein Mann, Ruth?“

      Ich schweige. Es geht sie nichts an. Das hier ist ihr Seelenstrip, nicht meiner.

      „Sie müssen nichts sagen, Ruth. Es ist ziemlich offensichtlich. Derlei kann einem nur ein Mann antun. Ich wollte nur Sie für dieses … Projekt haben. Sie schreiben gut und ich traue Ihnen zu, mich als Mensch zu sehen. Können wir jetzt weitermachen?“

      Ich nicke nur und starre auf meinen Notizblock. Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, immer einen mitzubringen. Dann kann ich wenigstens ab und zu ihrem bohrenden Blick ausweichen.

      Auf dem Friedhof

       8

      „Ich


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