Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Zweiter Teil. Gustav Schwab
ich gebe es willig dahin; opfert mich,
zerstöret Troja, das wird mein Denkmal sein und mein Hochzeitsfest.«
Mit leuchtendem Blicke, wie eine Göttin, stand Iphigenia vor der Mutter und dem Peliden, während
sie also sprach. Da senkte sich der herrliche Jüngling Achill vor ihr auf ein Knie und rief.»Kind
Agamemnons! die Götter machten mich zum glückseligsten Menschen, wenn mir deine Hand zuteil
würde. Um dich beneide ich Griechenland, und um Griechenland, das dir angetrauet ist, dich.
Liebessehnsucht ergreift mich nach dir, du Herrliche, nun ich dein Wesen geschaut habe. Erwäg es
wohl! Der Tod ist ein schreckliches Übel, ich aber möchte dir gern Gutes tun, möchte dich
heimführen zum Leben und Glück!« Lächelnd erwiderte ihm Iphigenia: »Männerkrieg und Mord
genug hat Frauenschönheit durch die Tyndaridin angeregt, mein lieber Freund; stirb nicht auch du für
ein Weib, noch töte jemand um meinetwillen. Nein, laß mich Griechenland retten, wenn ich es
vermag!« »Erhabene Seele«, rief der Pelide, »tue, was dir gefällt, ich aber eile mit diesen meinen
Waffen zum Altar, deinen Tod zu hindern. In deiner Unbesonnenheit darfst du mir nicht sterben,
vielleicht nimmst du mich noch beim Worte, wenn du den Mordstahl auf deinen Nacken gezückt
siehst.« So eilte er der Jungfrau voran, die bald darauf, der Mutter alle Klage verbietend und ihr den
kleinen Bruder Orestes auf die Arme legend, im beseligenden Bewußtsein, das Vaterland zu retten,
dem Tode freudig entgegenging. Die Mutter warf sich im Zelt auf ihr Angesicht und vermochte nicht,
ihr zu folgen.
Unterdessen versammelte sich die ganze griechische Heeresmacht in dem blumenreichen Haine der
Göttin Athene vor der Stadt Aulis. Der Altar war errichtet, und neben ihm stand der Seher und
Priester Kalchas. Ein Ruf des Staunens und Mitleids ging durch das ganze Heer, als man Iphigenia, von
ihren treuen Dienerinnen begleitet, den Hain betreten und auf den Vater Agamemnon zuwandeln
sah. Dieser seufzte laut auf, wandte sein Angesicht zurück und verbarg einen Tränenstrom in sein
Gewand. Die Jungfrau aber stellte sich dem Vater zur Seite und sprach: »Lieber Vater, siehe, hier bin
ich schon! Vor der Göttin Altar übergebe ich mein Leben, wenn es der Götterspruch so gebeut, den
Führern des Heeres zum Opfer fürs Vaterland. Mich freut es, wenn ihr glücklich seid und mit
Siegeslohn zur Heimat wiederkehrt. Berühre mich drum auch kein Argiver; mutig und still will ich den
Nacken dem Opferstahle bieten!«
Ein lautes Staunen ging durch das Heer, als es Zeuge solchen Hochsinnes ward. Nun gebot Talthybios,
der Herold, in der Mitte stehend, Stillschweigen und Andacht. Der Seher Kalchas zog einen blanken
schneidenden Stahl aus der Seite und legte ihn vor dem Altar in einem goldenen Korbe nieder. Jetzt
trat Achill in voller Waffenrüstung und mit gezücktem Schwerte vor den Altar. Aber ein Blick der
Jungfrau verwandelte auch seinen Entschluß. Er warf das Schwert auf die Erde, besprengte den Altar
mit Weihwasser, ergriff den Opferkorb, umwandelte den Festaltar wie ein Priester und sprach: »O
hohe Göttin Artemis, nimm dieses heilige, freiwillige Opfer, das unbefleckte Blut des schönen
Jungfrauennackens, das Agamemnon und Griechenland dir jetzo weiht, gnädig an, gib unsern
Schiffen glückliche Fahrt und Trojas Sturz unsern Speeren!« Die Atriden und das ganze Heer standen
stumm zur Erde blickend. Der Priester Kalchas nahm seinen Stahl, betete und faßte die Kehle der
Jungfrau scharf ins Auge. Deutlich hörte man den Fall seines Schlages. Aber o Wunder, in demselben
Augenblicke war die Jungfrau aus den Augen des Heeres verschwunden. Artemis hatte sich ihrer
erbarmt, und eine Hindin von hohem Wuchs und herrlicher Gestalt lag zappelnd auf dem Boden und
besprengte mit reichlichem Opferblute den Altar. »Ihr Führer des vereinten Griechenheeres«, rief
Kalchas, nachdem er sich von seinem freudigen Staunen erholt hatte, »sehet hier das Opfer, welches
die Göttin Artemis gesandt hat und das ihr willkommner ist als die Jungfrau, deren edles Blut den
Altar nicht besudeln sollte. Die Göttin ist versöhnt, gibt unsern Schiffen fröhliche Fahrt und verspricht
uns die Erstürmung Trojas. Seid guten Muts, ihr Seegefährten, denn noch an diesem Tage verlassen
wir die Bucht von Aulis!« So sprach er und sah zu, wie das Opfertier allmählich vom Feuer verkohlt
ward. Als der letzte Funke erloschen war, unterbrach die Stille der Luft ein Sausen des Windes, die
Blicke des Heeres kehrten sich nach dem Hafen und sahen hier die Schiffe im bewegten Meere
schwanken. Mit lautem Jubelrufe ward aus dem heiligen Haine aufgebrochen, und alles Volk eilte
nach den Zelten.
Als Agamemnon in dem seinigen ankam, fand er seine Gattin Klytämnestra nicht mehr dort; ihr
treuer Diener war ihm vorausgeeilt und hatte die ohnmächtig auf dem Boden Liegende mit der
Nachricht von der Rettung ihrer Tochter erweckt und aufgerichtet. Mit einem flüchtigen Gefühl des
Dankes und der Freude erhob die zur Besinnung gekommene Königin ihre Hände gen Himmel, dann
aber rief sie mit bitterem Schmerze: »Mein Kind ist mir doch geraubt! Er ist doch der Mörder meiner
Mutterfreude! Laß uns eilen, daß meine Augen den Kindesmörder nicht schauen!« Der Diener eilte,
den Wagen und das Gefolge zu bestellen, und als Agamemnon von dem Opferfeste zurückkam, war
seine Gemahlin schon fern auf dem Wege nach Mykene.
Abfahrt der Griechen. Aussetzung des Philoktetes
Noch an demselben Tage ging die Flotte der Griechen unter Segel, und der günstigste Fahrwind
führte sie schnell auf die hohe See. Nach einer kurzen Fahrt landeten sie auf der kleinen Insel Chryse,
um frisches Wasser einzunehmen. Hier entdeckte Philoktetes, der Sohn des Königes Pöas aus
Meliböa in Thessalien, der erprobte Held und Waffengefährte des Herakles, der Erbe seiner
unüberwindlichen Pfeile, einen verfallenen Altar, welchen einst der Argonaute Iason auf seiner Fahrt
der Göttin Pallas Athene, der die Insel heilig war, geweihet hatte. Der fromme Held freute sich seines
Fundes und wollte der Beschirmerin der Griechen auf ihrem verlassenen Heiligtume opfern. Da schoß
eine giftige Natter, dergleichen die Heiligtümer der Götter zu bewachen pflegten, auf den
Herantretenden zu und verwundete den Helden mit ihrem Biß am Fuße. Erkrankt wurde er wieder zu
Schiffe gebracht, und die Flotte segelte weiter. Die giftige und stets weiterfressende Wunde aber
peinigte den Sohn des Pöas mit unerträglicher Qual, und seine Schiffsgenossen konnten den übeln
Geruch des eiternden Geschwüres und sein beständiges Jammergeschrei nicht länger aushalten.
Keine Spende, kein Opfer vermochten sie ruhig darzubringen; in alles mischte sich sein unheiliger
Angstruf. Endlich traten die Söhne des