Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Zweiter Teil. Gustav Schwab
Gattin auf
der Insel Kranaë und war in Troja verschollen. Priamos und sein Volk glaubten deswegen nicht
anders, als der trojanische Kriegszug, der die Gesandtschaft des Paris und die Zurückforderung der
Hesione unterstützen sollte, habe Widerstand in Griechenland gefunden, und jetzt nach seiner
Vernichtung würden die Griechen, übermütig geworden, über die See herbeikommen, die Trojaner in
ihrem eigenen Lande anzufallen. Die Nachricht, daß sich griechische Gesandte der Stadt näherten,
versetzte sie daher in nicht geringe Spannung. Indessen öffneten sich jenen die Tore willig, und die
drei Fürsten wurden sofort in den Palast des Priamos und vor den König selbst geführt, der seine
zahlreichen Söhne und die Häupter der Stadt zu einem Rate zusammenberufen hatte. Palamedes
ergriff vor dem Könige das Wort und beklagte sich bitter im Namen aller Griechen über die
schändliche Verletzung des Gastrechts, die sich sein Sohn Paris durch den Raub der Königin Helena
zuschulden kommen lassen. Dann entwickelte er die Gefahren eines Krieges, die dem Reiche des
Priamos aus dieser Untat erwüchsen, zählte die Namen der mächtigsten Fürsten Griechenlands auf,
die mit allen ihren Völkern auf mehr als tausend Schiffen vor Troja erscheinen würden, und verlangte
die gütliche Auslieferung der geraubten Fürstin. »Du weißt nicht, o König«, so schloß er seine Rede,
»was für Sterbliche durch deinen Sohn beschimpft worden sind: es sind die Griechen, die alle lieber
sterben, als daß einem einzigen von ihnen durch einen Fremdling ungerechte Kränkung widerfahre.
Sie hoffen aber, indem sie dieses Unrecht zu rächen kommen, nicht zu sterben, sondern zu siegen,
denn ihre Zahl ist wie der Sand am Meere, und alle sind von Heldenmut erfüllt, und alle brennen vor
Begierde, die Schmach, die ihrem Volke widerfahren ist, in dem Urheber zu tilgen. Darum verkündigt
euch unser oberster Feldherr, Agamemnon, König der mächtigen Landschaft Argos und der erste
Fürst Griechenlands, und mit ihm lassen euch alle anderen Fürsten der Danaer sagen: Gebet die
Griechin, die ihr uns gestohlen habt, heraus, oder seid alle des Untergangs gewärtig!«
Bei diesen trotzigen Worten ergrimmten die Söhne des Königes und die Ältesten von Troja, zogen
ihre Schwerter und schlugen streitlustig an ihre Schilde. Aber König Priamos gebot ihnen Ruhe, erhob
sich von seinem Königssitze und sprach: »Ihr Fremdlinge, die ihr im Namen eures Volkes so strafende
Worte an uns richtet, gönnet mir erst, daß ich von meinem Staunen mich erhole. Denn wessen ihr
mich beschuldiget, davon ist uns allen nichts bewußt; vielmehr sind wir es, die wir bei euch uns über
das Unrecht zu beklagen haben, das ihr uns andichtet. Unsre Stadt hat euer Landsmann Herakles
mitten im Frieden angefallen, aus unsrer Stadt hat er meine unschuldige Schwester Hesione als
Gefangene mit sich geführt und sie seinem Freunde, dem Fürsten Telamon auf Salamis, als Sklavin
geschenkt; und es ist der gute Wille dieses Mannes, daß sie von ihm zu seiner ehelichen Gemahlin
erhoben worden ist und nicht als Magd und Kebsweib dient. Doch konnte dies den unehrlichen Raub
nicht wiedergutmachen; und es ist schon die zweite Gesandtschaft, die diesmal unter meinem Sohne
Paris nach eurem Lande abgegangen ist, meine freventlich geraubte Schwester zurückzuverlangen,
damit ich wenigstens noch in meinem Greisenalter mich ihrer erfreuen könne. Wie mein Sohn Paris
diesen meinen königlichen Auftrag ausgerichtet, was er getan hat und wo er weilt, weiß ich nicht. In
meinem Palaste und in unserer Stadt befindet sich kein griechisches Weib, dies weiß ich gewiß. Ich
kann euch also die verlangte Genugtuung nicht geben, auch wenn ich wollte. Kommt mein Sohn
Paris, wie mein väterlicher Wunsch ist, glücklich nach Troja zurück und bringt er eine entführte
Griechin mit sich, so soll euch diese ausgeliefert werden, wenn sie anders nicht als Flüchtling unsern
Schutz anfleht. Aber auch dann werdet ihr sie unter keiner andern Bedingung und nicht eher
zurückerhalten, als bis ihr meine Schwester Hesione aus Salamis wieder in meine Arme zurückgeführt
habt!«
Der Rat der Trojaner stimmte zu diesen Worten des Königs; aber Palamedes sprach trotzig: »Die
Erfüllung unserer Forderung, o König, läßt sich von keiner Bedingung abhängig machen. Wir glauben
deinem ehrwürdigen Antlitz und der Rede deines Mundes, die uns versichert, daß die Gemahlin des
Menelaos noch nicht in deinen Mauern angekommen ist. Sie wird aber kommen, zweifle nicht; ihre
Entführung durch deinen unwürdigen Sohn ist nur allzu gewiß. Was zu unserer Väter Zeiten von
Herakles geschehen ist, dafür sind wir nicht mehr verantwortlich. Aber was einer deiner Söhne uns
jetzt eben von empörender Kränkung zugefügt hat, dafür verlangen wir Rechenschaft von dir.
Hesione ist willig mit Telamon davongezogen, und sie selbst sendet einen Sohn in diesen Krieg, der
euch bevorsteht, wenn ihr uns nicht Genugtuung gebet: den gewaltigen Fürsten Ajax. Helena aber ist
wider Willen und freventlich geraubt worden. Danket dem Himmel, der euch durch eures Räubers
Zögerung Bedenkzeit gegeben hat, und fasset einen Beschluß, der das Verderben von euch
abwendet.«
Priamos und die Trojaner empfanden die übermütige Rede des Gesandten Palamedes übel, doch
ehrten sie an den Fremdlingen das Recht der Gesandtschaft; die Versammlung wurde aufgehoben
und ein Ältester von Troja, der Sohn des Aisyetes und der Kleomestra, der verständige Antenor,
schirmte die fremden Fürsten vor allen Beschimpfungen des Pöbels, führte sie in sein Haus und
beherbergte sie dort mit edler Gastlichkeit bis zum andern Morgen. Dann gab er ihnen das Geleite an
den Strand, wo sie die glänzenden Schiffe wieder bestiegen, die sie herbeigeführt hatten.
Agamemnon und Iphigenia
Während nun die Flotte zu Aulis sich versammelte, vertrieb der Völkerfürst Agamemnon sich die Zeit
mit der Jagd. Da kam ihm eines Tages eine herrliche Hindin in den Schuß, die der Göttin Artemis
geheiligt war. Die Jagdlust verführte den Fürsten: er schoß nach dem heiligen Wild und erlegte es mit
dem prahlenden Worte, Artemis selbst, die Göttin der Jagd, vermöge nicht besser zu treffen. Über
diesen Frevel erbittert, schickte die Göttin, als in der Bucht von Aulis alles Griechenvolk gerüstet mit
Schiffen, Roß und Wagen beisammen war und der Seezug nun vor sich gehen sollte, dem
versammelten Heere tiefe Windstille zu, so daß man ohne Ziel und Fahrt müßig in Aulis sitzen mußte.
Die ratsbedürftigen Griechen wandten sich nun an ihren Seher Kalchas, den Sohn des Thestor,
welcher dem Volke schon früher wesentliche Dienste geleistet hatte und jetzt erschienen war, als
Priester und Wahrsager den Feldzug mitzumachen. Dieser tat auch jetzt