Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Zweiter Teil. Gustav Schwab
holder und liebenswürdiger als die andern, und ihm war, als ob, aus ihren Augen ausgehend, ein Netz
von Liebesstrahlen sich ihm um Blick und Stirne spänne. Indessen hub die stolzeste der drei Frauen,
die an Wuchs und Hoheit über die beiden andern hervorragte, dem Jünglinge gegenüber an: »Ich bin
Hera, die Schwester und Gemahlin des Zeus. Wenn du diesen goldenen Apfel, welchen Eris, die
Göttin der Zwietracht, beim Hochzeitmahle der Thetis und des Peleus unter die Gäste warf, mit der
Aufschrift: ›Der Schönsten‹, mir zuerkennest, so soll dir die Herrschaft über das schönste Reich der
Erde nicht fehlen, ob du gleich nur ein aus dem Königspalaste verstoßener Hirte bist.« »Ich bin Pallas,
die Göttin der Weisheit«, sprach die andere mit der reinen, gewölbten Stirne, den tiefblauen Augen
und dem jungfräulichen Ernst im schönen Antlitz; »wenn du mir den Sieg zuerkennst, sollst du den
höchsten Ruhm der Weisheit und Männertugend unter den Menschen ernten!« Da schaute die
dritte, die bisher immer nur mit den Augen gesprochen hatte, den Hirten mit einem süßen Lächeln
noch durchdringender an und sagte: »Paris, du wirst dich doch nicht durch das Versprechen von
Geschenken betören lassen, die beide voll Gefahr und ungewissen Erfolges sind! Ich will dir eine
Gabe geben, die dir gar keine Unlust bereiten soll; ich will dir geben, was du nur zu lieben brauchst,
um seiner froh zu werden: das schönste Weib der Erde will ich dir als Gemahlin in die Arme führen!
Ich bin Aphrodite, die Göttin der Liebe!«
Als Venus dem Hirten Paris dies Versprechen tat, stand sie vor ihm, mit ihrem Gürtel geschmückt, der
ihr den höchsten Zauber der Anmut verlieh. Da erblaßte vor dem Schimmer der Hoffnung und ihrer
Schönheit der Reiz der andern Göttinnen vor seinen Augen, und mit trunkenem Mute erkannte er
der Liebesgöttin das goldene Kleinod, das er aus Heras Hand empfangen hatte, zu. Hera und Athene
wandten ihm zürnend den Rücken und schwuren diese Beleidigung ihrer Gestalt an ihm, an seinem
Vater Priamos, am Volk und Reiche der Trojaner zu rächen und alle miteinander zu verderben; und
Hera insbesondere wurde von diesem Augenblicke an die unversöhnlichste Feindin der Trojaner.
Venus aber schied von dem entzückten Hirten mit holdseligem Gruße, nachdem sie ihm ihr
Versprechen feierlich und mit dem Göttereide bekräftiget wiederholt hatte.
Paris lebte seiner Hoffnung geraume Zeit als unerkannter Hirte auf den Höhen des Ida; aber da die
Wünsche, welche die Göttin in ihm rege gemacht hatte, so lange nicht in Erfüllung gingen, so
vermählte er sich hier mit einer schönen Jungfrau, namens Önone, die für die Tochter eines
Flußgottes und einer Nymphe galt und mit welcher er auf dem Berge Ida bei seinen Herden
glückliche Tage in der Verborgenheit verlebte. Endlich lockten ihn Leichenspiele, die der König
Priamos für einen verstorbenen Anverwandten hielt, zu der Stadt hinab, die er früher nie betreten
hatte. Priamos setzte nämlich bei diesem Feste als Kampfpreis einen Stier aus, den er bei den Hirten
des Ida von seinen Herden holen ließ. Nun traf es sich, daß gerade dieser Stier der Lieblingsstier des
Paris war, und da er ihn seinem Herrn dem Könige nicht vorenthalten durfte, so beschloß er,
wenigstens den Kampf um denselben zu versuchen. Hier siegte er in den Kampfspielen über alle
seine Brüder, selbst über den hohen Hektor, der der Tapferste und Herrlichste von ihnen war. Ein
anderer mutiger Sohn des Königs Priamos, Deïphobos, von Zorn und Scham über seine Niederlage
überwältigt, wollte den Hirtenjüngling niederstoßen. Dieser aber flüchtete sich zum Altare des Zeus,
und die Tochter des Priamos, Kassandra, welche die Wahrsagergabe von den Göttern zum Angebinde
erhalten hatte, erkannte in ihm ihren ausgesetzten Bruder. Nun umarmten ihn die Eltern, vergaßen
über der Freude des Wiedersehens die verhängnisvolle Weissagung bei seiner Geburt und nahmen
ihn als ihren Sohn auf.
Vorerst kehrte nun Paris zu seiner Gattin und seinen Herden zurück, indem er auf dem Berge Ida eine
stattliche Wohnung als Königssohn erhielt. Bald jedoch fand sich Gelegenheit für ihn zu einem
königlicheren Geschäfte, und nun ging er, ohne es zu wissen, dem Preis entgegen, den ihm seine
Freundin, die Göttin Aphrodite, versprochen hatte.
Der Raub der Helena
Wir wissen, daß, als König Priamos noch ein zarter Knabe war, seine Schwester Hesione von Herakles,
der den Laomedon getötet und Troja erobert hatte, als Siegesbeute fortgeschleppt und seinem
Freunde Telamon geschenkt worden war. Obgleich dieser Held sie zu seiner Gemahlin erhoben und
zur Fürstin von Salamis gemacht, so hatte doch Priamos und sein Haus diesen Raub nicht
verschmerzt. Als nun an dem Königshofe einmal wieder die Rede von dieser Entführung war und
Priamos seine große Sehnsucht nach der fernen Schwester zu erkennen gab, da stand in dem Rate
seiner Söhne Alexander oder Paris auf und erklärte, wenn man ihn mit einer Flotte nach
Griechenland schicken wollte, so gedenke er mit der Götter Hilfe des Vaters Schwester den Feinden
mit Gewalt zu entreißen und mit Sieg und Ruhm gekrönt nach Hause zurückzukehren. Seine Hoffnung
stützte sich auf die Gunst der Göttin Aphrodite, und er erzählte deswegen dem Vater und den
Brüdern, was ihm bei seinen Herden begegnet war. Priamos selbst zweifelte jetzt nicht länger, daß
sein Sohn Alexander den besondern Schutz der Himmlischen erhalten werde, und auch Deïphobos
sprach die gute Zuversicht aus, daß, wenn sein Bruder mit einer stattlichen Kriegsrüstung erschiene,
die Griechen Genugtuung geben und Hesione ihm ausliefern würden. Nun aber war unter den vielen
Söhnen des Priamos auch ein Seher, namens Helenos. Dieser brach plötzlich in weissagende Worte
aus und versicherte, wenn sein Bruder Paris ein Weib aus Griechenland mitbringe, so würden die
Griechen nach Troja kommen, die Stadt schleifen, den Priamos und alle seine Söhne niedermachen.
Diese Wahrsagung brachte Zwiespalt in den Rat. Troilos, der jüngste Sohn des Priamos, ein
tatenlustiger Jüngling, wollte von den Prophezeiungen seines Bruders nichts hören, schalt seine
Furchtsamkeit und riet, sich durch seine Drohungen nicht vom Kriege abschrecken zu lassen. Andere
zeigten sich bedenklicher. Priamos aber trat auf die Seite seines Sohnes Paris, denn ihn verlangte
sehnlich nach der Schwester.
Nun wurde von dem König eine Volksversammlung berufen, in welcher Priamos den Trojanern
vortrug, wie er schon früher unter Antenors Anführung eine Gesandtschaft nach Griechenland
geschickt, Genugtuung für den Raub der Schwester und diese selbst zurückverlangt hätte. Damals sei
Antenor mit Schmach abgewiesen worden, jetzt aber gedenke er, wenn es dem versammelten Volke